109. Goethe an Kestner.

v. 21. Nov. 1774.

Da hab ich deinen Brief, Kestner! An einem fremden Pult, in eines Malers Stube, denn gestern fing ich an in Oel zu malen, habe deinen Brief und muss dir zurufen Dank! Dank lieber! Du bist immer der Gute! — O könnt ich dir an Hals springen, mich zu Lottens Füssen werfen, Eine, Eine Minute, und all, all das sollte getilgt, erklärt seyn was ich mit Büchern Papier nicht aufschliessen könnte! — O ihr Ungläubigen würd ich ausrufen! Ihr Kleingläubigen! — Könntet ihr den tausendsten Theil fühlen, was Werther tausend Herzen ist, ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die ihr dazu hergebt! Da lies ein Blättgen, und sende mirs heilig wieder, wie du hier drinnen hast. — Du schickst mir Hennings Brief, er klagt mich nicht an, er entschuldigt mich. Bruder lieber Kestner! wollt ihr warten so wird euch geholfen. Ich wollt um meines eignen Lebens Gefahr willen Werthern nicht zurückrufen, und glaub mir, glaub an mich, deine Besorgnisse, deine Gravamina, schwinden wie Gespenster der Nacht wenn du Geduld hast, und dann — binnen hier und einem Jahr versprech ich euch auf die lieblichste, einzigste, innigste Weise alles was noch übrig seyn mögte von Verdacht, Missdeutung &c. im schwäzzenden Publikum, obgleich das eine Heerd Schwein ist, auszulöschen, wie ein reiner Nordwind, Nebel und Dufft. — Werther muss — muss seyn! — Ihr fühlt ihn nicht, ihr fühlt nur mich und euch, und was ihr angeklebt heisst — und trutz euch — und andern — eingewoben ist — Wenn ich noch lebe, so bist dus dem ichs danke — bist also nicht Albert — Und also —

Gib Lotten eine Hand ganz warm von mir, und sag ihr: Ihren Nahmen von tausend heiligen Lippen mit Ehrfurcht ausgesprochen zu wissen, sey doch ein Aequivalent gegen Besorgnisse, die einem kaum ohne alles andere im gemeinen Leben, da man jeder Baase ausgesetzt ist, lange verdriesen würden.

Wenn ihr brav seyd und nicht an mir nagt, so schick ich euch Briefe, Laute, Seufzer nach Werthern, und wenn ihr Glauben habt, so glaubt dass alles wohl seyn wird, und Geschwäz nichts ist, und beherzige deines Philosophen Brief — den ich geküsst habe —

— O du! — hast nicht gefühlt wie der Mensch dich umfasst, dich tröstet — und in deinem, in Lottens Werth Trost genug findet, gegen das Elend das schon euch in der Dichtung schröckt. Lotte, leb wohl — Kestner du — habt mich lieb — und nagt mich nicht —

G.

Das Billet keinem Menschen gezeigt! unter euch beyden! Sonst niemand sehe das! Adieu ihr lieben! Küsse mir Kestner deine Frau und meine Pathen

Und mein Versprechen bedenkt. Ich allein kann erfinden, was euch völlig ausser aller Rede setzt, ausser dem windgen Argwohn. Ich habs in meiner Gewalt, noch ists zu früh! Grüss deinen Hennings ganz herzlich von mir

Ein Mädchen sagt mir gestern, ich glaubte nicht dass Lotte so ein schöner Name wäre! er klingt so ganz eigen in dem Werther

Eine andre schrieb neulich: Ich bitte euch um Gotteswillen, heisst mich nicht mehr Lotte! — Lottgen, oder Lolo — wie ihr wollt — Nur nicht Lotte bis ich des Nahmens werther werde denn ichs bin.

O Zauberkrafft der Lieb und Freundschafft.

Zimmermanns Billet nächstens. Es ist kalt, ich kanns nicht droben suchen. Heut gehts aufs Eis, ihr lieben Ade

d. 21 Nov. 1774.

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