110. Kestner an v. Hennings.

Hannover den 30ten November 1774.

(geschlossen den 24 Jan. 1775)

..... Ihren vorigen Brief, nicht den letzten, habe ich Goethen mitgetheilt, um ihn zu überzeugen, wie das Buch angesehen werden könne, um ihn wenigstens in künftigen Fällen behutsamer zu machen. Er schreibt ich soll Sie herzlich grüßen. Er hat Ihren Brief geküßt. Ich soll den Brief meines Philosophen nur recht beherzigen &c. Sie kennen ihn schon aus seinen Schriften. Er macht sich aus der ganzen Welt nichts, darum kann er sich in die Stelle derer, die so nicht seyn können, noch dürfen, nicht setzen. „O du! hast nicht gefühlt wie der Mensch dich umfaßt, dich tröstet — und in deinem und Lottens Werth Trost genug findet gegen das Elend das Euch schon in der Dichtung schreckt &c.“ — sind seine Worte.

Die Urtheile von seinem Buche sind verschieden, und einige, so daß sie ihn wegen manchem Tadel hinlänglich entschädigen. Gerade dem Ihrigen Urtheile entgegen, sagte einer, — Nun würde kein Unheiliger sich leichtsinnig erschiessen.

Sie glauben nicht was es für ein Mensch ist. Aber wenn sein großes Feuer ein wenig ausgetobet hat; so werden wir noch Freude an ihm erleben.

d. 24. Januar 75.

Diesen Brief ward ich behindert fortzusetzen. Hernach dachte ich, er träfe Sie nicht mehr an. Nun da Sie zu Altona seyn werden, soll mich nichts mehr hindern. Ich danke Ihnen für den lieben Brief. Sie trösten mich wegen Werthers Leiden. Im Grunde haben Sie Recht, und es hat mir im Publico, so viel ich weiß, hier keinen Schaden gethan. Aber es thut mir doch wehe, daß ich das Buch nicht mit der Theilnehmung, wie ich bey andern sehe, lesen und wiederholt lesen kann. Immer stößt mir eine Stelle auf, die mir auch in der Dichtung empfindlich ist. Nun ist noch ein ungebetener Ausleger hinzugekommen, in der sogenannten Berichtigung &c. Es ist wohl kein boshafter Ausleger, und manches dient zur Verhinderung irriger Vorstellung. Aber was soll es? Muß denn das Publikum alles so haarklein wissen. Man sollte wunder glauben, was das Publicum für ein ehrwürdiges Ding wäre, dem man ia von Allem recht genauen Bericht abstatten müßte. Ich kenne den Verfasser nicht. Er muß aber genaue Nachricht haben; wiewohl er sich in einigen Stücken irrt. Ich bin mit Lottchen nicht vorher versprochen gewesen. Und was er damit sagen will: „ich bekümmerte mich um den Weltlauf nicht,“ verstehe ich nicht. Ich lebte zu Wetzlar im Publico, und auch hier thue ich es. Der Weltlauf interessirt mich in seiner Maasse allerdings, und er ist sogar mein Studium. Wenn man Einen öffentlich schildern will, so sollte man ihn doch kennen. Ein guter Freund schrieb mir letzthin: »Sauf le respect pour votre ami, mais il est dangereux d’avoir un auteur pour ami.« Er hat wohl recht.

Wenn Sie in Ruhe sind, so schreiben Sie mir etwas umständlicher von sich selbst. Es interessirt mich alles, was Sie angeht. O wenn ich Sie doch wieder sehen könnte! Glauben Sie nur, Sie sind mir noch immer das, was Sie vor vielen Jahren waren. Es freut mich, wenn ich mich untersuche, daß ich meine Empfindungen so unverändert finde, durch die Reihe von Jahren, durch ein reiferes Alter, durch so mancherley Scenen und Begebenheiten, ganz unverändert. Nur thut mir oft wehe, daß meine Geschäfte hindern, öfter dem Hang meines Herzens nachzuhängen. Die Unvollkommenheit dieser Welt empfinde ich nur dann zu stark, wenn ich abbrechen muß, wie jetzt. Leben Sie wohl. Vor allen Dingen leben Sie vergnügt und zufrieden. Behalten Sie uns lieb. Mein Lottchen grüßt Sie herzlich. Ihren Freund grüßen Sie auch; und wenn Sie ihren Bruder sehen werden, auch den.

K.

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