122. Fragment eines Brief-Concepts

Kestners an Goethen.

(Von Hannover 1783.)

Ich dancke, daß Ihr mir von dem Vorhaben, den Werther umzuarbeiten, Nachricht geben wollen. Ich freue mich aber, lieber bester Freund, nur in so fern darauf, als das Anstössige darin hoffentlich wenigstens gemildert werden kann, und — wenn Ihr einigen Errinnerungen darüber Raum geben wolltet, welches ich doch zu Eurer Freundschaft gegen uns zuversichtlich hoffe, jetzt am mehrsten hoffe, da Euer Jugendliches Feuer sich in 10 Jahren etwas gemildert haben, und der kältern Ueberlegung des Mannes von selbst etwas nachgeben wird.

Ich erinnere mich gleich damals, als Ihr uns ein Exemplar davon schicktet, einige Erinnerungen gemacht zu haben, um die völlige Publication noch aufzuhalten, welches aber zu spät war. Da das Buch auch einmal in aller Welt Händen ist; so wird nicht allen, wenigstens nicht ganz abgeholfen werden können. — ich besitze jetzo das Exemplar nicht mehr. Es muß mir entwandt seyn. Von andern mag ich es auch nicht fordern, theils aus den in meinem letzten Briefe bemerkten Gründen, theils um nicht bemercklich zu machen, daß ich von der vorhabenden Umarbeitung gewußt habe. Ich will es mir zwar verschreiben, um es nochmals genau durchzugehen, und meine Erinnerungen darüber bestimmter zu machen. Vorläufig aber etwas, das mir eben gerade einfällt.

1) Die Ohrfeigen, welche Lotte austheilt, waren uns beyderseits anstössig. Diese Episode ist weder in der wahren Geschichte gegründet, — es sey denn, daß Ihr solches anders woher genommen — noch dem Character der Lotte, welche Ihr schildert, genug angemessen. Meine Lotte wenigstens, wäre nie im Stande gewesen, sich so zu benehmen. Ob sie gleich ein lebhaftes, muthwilliges Mädchen war; so blieb sie doch immer ein Mädchen, und behielt bey solcher Lebhaftigkeit und Muthwillen doch immer die weibliche Delicatesse — ein andres Wort fällt mir nicht gleich ein — bey.

2) Der Umstand, daß sie Werthern auf dem Balle gleich zu verstehen gegeben, daß sie schon engagirt sey, war uns auch anstössig. Meine Lotte, wenn die damit gemeynt wäre, hätte solches nicht äussern können; weil wir nie eigentlich versprochen gewesen sind. Wir verstanden uns, wir waren einig, wir waren nicht mehr zu trennen, das ist wahr. Es beruhte aber nur zum Theil auf einer stillschweigenden Uebereinkunft. Wir hätten, menschlichen Gesetzen nach, uns noch immer trennen können. Auf meiner Seite hatte eine gewisse Eigenheit oder Caprice, wenn Ihr wollt, daran Schuld.

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