1. Fragment eines Brief-Entwurfs,

aus Kestners Papieren,

geschrieben im Anfang seiner Bekanntschaft mit Goethe.

Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Franckfurt, seiner Handthierung nach Dr. Juris, 23 Jahr alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier — dieß war seines Vaters Absicht — in Praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, Pindar &c. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden.

Gleich Anfangs kündigten ihn die hiesigen schönen Geister als einen ihrer Mitbrüder und als Mitarbeiter an der neuen Franckfurter Gelehrten Zeitung, beyläufig auch als Philosophen im Publico an, und gaben sich Mühe mit ihm in Verbindung zu stehen. Da ich unter diese Classe von Leuten nicht gehöre, oder vielmehr im Publico nicht so gänge bin, so lernte ich Goethen erst später und ganz von ohngefähr kennen. Einer der vornehmsten unserer schönen Geister, Legationssecretär Gotter, beredete mich einst nach Garbenheim, einem Dorf, gewöhnlichem Spaziergang, mit ihm zu gehen. Daselbst fand ich ihn im Grase unter einem Baume auf dem Rücken liegen, indem er sich mit einigen Umstehenden, einem Epicuräischen Philosophen (v. Goué, großes Genie), einem stoischen Philosophen (v. Kielmansegge) und einem Mitteldinge von beyden (Dr. König) unterhielt, und ihm recht wohl war. Er hat sich nachher darüber gefreuet, daß ich ihn in einer solchen Stellung kennen gelernt. Es ward von mancherley, zum Theil interessanten Dingen gesprochen. Für dieses Mal urtheilte ich aber nichts weiter von ihm, als: er ist kein unbeträchtlicher Mensch. Sie wissen, daß ich nicht eilig urtheile. Ich fand schon, daß er Genie hatte und eine lebhafte Einbildungskraft; aber dieses war mir doch noch nicht genug, ihn hochzuschätzen.

Ehe ich weiter gehe, muß ich eine Schilderung von ihm versuchen, da ich ihn nachher genau kennen gelernt habe.

Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie, und ein Mensch von Charakter; besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.

Er ist in allen seinen Affecten heftig, hat jedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen so viel frey, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es Andern gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.

Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bey Kindern, bey Frauenzimmern und vielen Andern ist er doch wohl angeschrieben.

Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung.

In principiis ist er noch nicht fest, und strebt noch erst nach einem gewißen System.

Um etwas davon zu sagen, so hält er viel von Rousseau, ist jedoch nicht ein blinder Anbeter von demselben.

Er ist nicht was man orthodox nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äussert sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen Wenige; stört Andere nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen.

Er haßt zwar den Scepticismum, strebt nach Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu seyn; so viel ich aber gemerckt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.

Zuweilen ist er über gewisse Materien ruhig, zuweilen aber nichts weniger wie das.

Vor der Christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellen.

Er glaubt ein künftiges Leben, einen bessern Zustand.

Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.

Er hat schon viel gethan und viele Kenntnisse, viel Lectüre; aber doch noch mehr gedacht und raisonnirt. Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerck gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brodwissenschaften.

Am Rande dieses flüchtig hingeworfenen Brouillons fügt Kestner noch hinzu:

„Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weitläuftig werden, denn es läßt sich gar viel von ihm sagen. Er ist mit einem Worte ein sehr merkwürdiger Mensch.“

Weiter unten ferner:

„Ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern wollte.“

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