2. Fragment eines Brief-Entwurfs,

aus Kestners Papieren.

Anfang der Bekanntschaft Goethe’s mit Lotte.

.... d. 9. Juni 1772 fügte es sich, daß Goethe mit bey einem Ball auf dem Lande war, wo mein Mädchen und ich auch waren. Ich konnte erst nachkommen und ritt dahin. Mein Mädchen fuhr also in einer andern Gesellschaft hin; der Dr. Goethe war mit im Wagen und lernte Lottchen hier zuerst kennen. Er hat sehr viele Kenntniße, und die Natur, im physikalischen und moralischen Verstande genommen, zu seinem Haupt-Studium gemacht, und von beyden die wahre Schönheit studirt. Noch kein Frauenzimmer hier hatte ihm ein Genügen geleistet. Lottchen zog gleich seine ganze Aufmerksamkeit an sich. Sie ist noch jung, sie hat, wenn sie gleich keine ganz regelmäßige Schönheit ist, (ich rede hier nach dem gemeinen Sprachgebrauch und weiß wohl, daß die Schönheit eigentlich keine Regeln hat,) eine sehr vortheilhafte, einnehmende Gesichtsbildung; ihr Blick ist wie ein heiterer Frühlings-Morgen, zumal den Tag, weil sie den Tanz liebt; sie war lustig; sie war in ganz ungekünsteltem Putz. Er bemerkte bey ihr Gefühl für das Schöne der Natur und einen ungezwungenen Witz, mehr Laune, als Witz.

Er wußte nicht, daß sie nicht mehr frey war; ich kam ein paar Stunden später; und es ist nie unsere Gewohnheit, an öffentlichen Orten mehr als Freundschaft gegen einander zu äusern. Er war den Tag ausgelassen lustig, (dieses ist er manchmal, dagegen zur andern Zeit melancholisch,) Lottchen eroberte ihn ganz, um destomehr, da sie sich keine Mühe darum gab, sondern sich nur dem Vergnügen überließ. Andern Tags konnte es nicht fehlen, daß Goethe sich nach Lottchens Befinden auf den Ball erkundigte. Vorhin hatte er in ihr ein fröhliches Mädchen kennen gelernt, das den Tanz und das ungetrübte Vergnügen liebt; nun lernte er sie auch erst von der Seite, wo sie ihre Stärke hat, von der Häuslichen Seite, kennen.

Share on Twitter Share on Facebook