24. Kestner an v. Hennings.

Wetzlar d. 18 November 1772.

Was denken Sie wohl von mir, lieber Hennings, das möchte ich diesen Augenblick gleich wissen. Ich will zwar keine Entschuldigungen machen, aber etwas das eben so viel ist, muß ich doch sagen.

Gerade den Abend vorher, als ich Ihren lieben letzten Brief bekam, sagte mir Lottchen, ich möchte doch wieder einmal an Sie schreiben, weil ich lange nichts von Ihnen gehört hätte, und ich hatte wirklich lange vor dieser Erinnerung schon zu einem recht langen Brief geschritten, und ihn schon angefangen. Da ich Ihnen aber in demselben einige merkwürdige Begebenheiten, welche seit ein paar Jahren nahe um mich vorgegangen waren, ausführlich erzählen wollte, und ich darin oft unterbrochen wurde, so wollte ich nur das Neueste davon erzählen. Dieß fing ich wiederum so weitläuftig an, daß ich auch damit so bald fertig zu werden nicht hoffen darf; daher will ich meinen Plan ändern und Ihnen davon nur das Hauptsächlichste (wie in Summarien) erzählen, um die Communication zwischen uns einmal wieder zu eröffnen.

Sie wollen mehr von meinem Mädchen hören, und ich schreibe Ihnen nur gar zu gerne davon, und habe Ihnen so viel davon zu sagen. Mein Mädchen ist mir von Jahren zu Jahren immer werther geworden. Ich brachte mit ihr und ihrer Mutter die Stunden, die ich dazu anwenden konnte, bis vor zwey Jahren recht glücklich und vergnügt zu. Wie und auf was Art, erzählte ich Ihnen gern, wenn es nicht zu weitläuftig wäre. Diesen Herbst vor zwey Jahren aber empfing unsere Ruhe einen empfindlichen Stoß. Die beste Mutter, die je gelebt, und wie sie die Phantasie nur schildern mag, ward krank und starb. Ich glaube ich habe es Ihnen noch nicht geschrieben. Aber eines Theils war ich es bisher nicht im Stande, theils wollte ich es Ihnen mit allen Umständen, die sehr merkwürdig sind, erzählen. Dießmal bemerke ich nur was dieser Tod auf Lottchen für einen Einfluß geübt hat. Sie empfand diesen Verlust in seiner ganzen Schwere. Er milderte auch ihre Munterkeit sehr und mußte es durch die Folge noch mehr thun; denn auf sie fiel das Loos, ihrer Mutter Stelle bey den Geschwistern zu ersetzen: natürlicher Weise eine wichtige Veränderung. Sie war erst 18 Jahre alt, und hat eine ältere Schwester, die niemals die Rechte der Erstgeburt vergab; allein daß Lottchen nur ihrer Mutter Stelle vertreten konnte, war so ausgemacht und so unzweifelhaft, daß nicht nur der Vater, sondern auch die ältere Schwester, und noch mehr die jüngern Geschwister, auch das Gesinde, ja die Fremden, stillschweigend und ohne Abrede, durch eine innerliche Ueberzeugung unbewußt getrieben, darin übereinstimmten. Und sie selbst fühlte ihre Bestimmung so sehr, daß sie das Amt von dem ersten Augenblick an übernahm, und mit einer solchen Zuverlässigkeit führte, als wenn eine förmliche Uebertragung, bey ihr aber ein überlegter Entschluß vorausgegangen und sie dazu von jeher bestimmt sey. An sie wandte sich alles, auf ihr Wort geschah alles, und jedes folgte ihrer Anordnung, ja ihrem Wink; und was das vornehmste war, es schien als wenn die Weisheit ihrer Mutter ihr zum Erbtheil geworden wäre. Bis diese Stunde hat sich solches erhalten; Sie ist die Stütze der Familie, die Liebe, die Achtung derer, die dazu gehören, und das Augenmerk derer, welche dahin kommen. — Ich sage Ihnen, es ist ein halbes Wunderwerk, ohngeachtet weder sie selbst, noch die Familie, es merkt, und jedes meynt es müßte so seyn.

Sie können denken wie diese Begebenheit bey mir ihren Werth vergrößert hat; und wenn ich vorher noch ihretwegen unentschlossen gewesen wäre, so hätte mich dieses, ohne den mindesten Zweifel übrig zu lassen, völlig entscheiden müssen; denn was vorhin meistens nur Hoffnung, nur Wahrscheinlichkeit, nur Keim, nur Anlage war, das ist jetzt sichtbare, unläugbare Gewißheit, das ist jetzt die reife Frucht und vollendete Vollkommenheit. Sie verstehen mich auch, wenn ich sage, daß diese Situation ihr nicht nur die Vollendung gegeben, sondern sie auch darin erhält, und sie vor den Abwegen bewahrt, wohin die Mädchen nur leicht gerathen, wenn sie Muße genug haben, in dem Putz, in dem zu vielen Bücherlesen, und in den anderen vermeyntlichen Vollkommenheiten, ihre Vorzüge zu suchen. Ein Mensch, deßen Urtheil von Erheblichkeit ist, gestand diesen Sommer, er hätte noch kein Frauenzimmer gefunden, daß so von den gewöhnlichen weiblichen Schwachheiten frey wäre &c. Wenn ich vor Ende dieses Briefes die Schilderung bekomme, welche er von Lottchen gemacht hat, will ich sie noch hersetzen.

Ob nun gleich die Last, welche in dieser Situation auf ihr ruht, wie leicht zu begreifen ist, leicht hindern könnte, daß ihr Werth dem nicht scharfsinnigen Auge verborgen bliebe, da sie nicht eigentlich eine sogenannte glänzende Beauté ist, nach dem gemeinen Sinne; mir ist sie’s; so bleibt sie doch immer das bezaubernde Mädchen, das Schaaren von Anbetern haben könnte, alte und junge, ernsthafte und lustige, Kluge und Dumme &c.

Sie weiß aber halb zu überzeugen, daß sie entweder in der Flucht oder in der Freundschaft ihr einziges Heil suchen müssen. Eines von diesen, als des merkwürdigsten, will ich doch erwähnen, weil er auf uns einen Einfluß behalten. Ein junger Mensch an Jahren (23), aber in Kenntnissen und Entwicklung seiner Seelenkräfte und seines Charakters schon ein Mann; ein ausserordentliches Genie und ein Mensch von Charakter, war hier, wie seine Familie glaubte, der Reichs-Praxis wegen, in der That aber um der Natur und der Wahrheit nachzuschleichen, und den Homer und Pindar zu studiren. Er hat nicht nöthig des Unterhaltes wegen zu studiren. Ganz von ohngefähr, nach langer Zeit seines Hierseyns, lernte er Lottchen kennen, und in ihr sein Ideal von einem vortrefflichen Mädchen; er sah sie in ihrer fröhlichen Gestalt, ward aber bald gewahr, daß dieses nicht ihre vorzüglichste Seite war; er lernte sie auch in ihrer häuslichen Situation kennen, und ward, mit einem Wort, ihr Verehrer. Es konnte ihm nicht lange unbekannt bleiben, daß sie ihm nichts als Freundschaft geben konnte, und ihr Betragen gegen ihn gab wiederum ein Muster ab. Dieser gleiche Geschmack, und da wir uns näher kennen lernten, knüpfte zwischen ihm und mir das festeste Band der Freundschaft, so daß er bey mir gleich auf meinen lieben Hennings folgt. Indessen, ob er gleich in Ansehung Lottchens alle Hoffnung aufgeben mußte, und auch aufgab, so konnte er, mit aller Philosophie und seinem natürlichen Stolze, so viel nicht über sich erhalten, daß er seine Neigung ganz bezwungen hätte. Und hat er solche Eigenschaften, die ihn einem Frauenzimmer, zumal einem empfindenden und das von Geschmack ist, gefährlich machen können: Allein Lottchen wußte ihn so zu behandeln, daß keine Hoffnung bey ihm aufkeimen konnte, und er sie, in ihrer Art zu verfahren, noch selbst bewundern mußte. Seine Ruhe litt sehr dabey; es gab mancherley merkwürdige Scenen, wobey Lottchen bey mir gewann, und er mir als Freund auch werther werden mußte, ich aber doch manchmal bey mir erstaunen mußte, wie die Liebe so gar wunderliche Geschöpfe selbst aus den stärcksten und sonst für sich selbstständigen Menschen machen kann. Meistens dauerte er mich und es entstanden bey mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich möchte nicht im Stande seyn, Lottchen so glücklich zu machen, als er, auf der andern Seite aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letzteres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal eine Ahndung von dergleichen Betrachtungen bemerken können. Kurz, er fieng nach einigen Monaten an, einzusehen, daß er zu seiner Ruhe Gewalt gebrauchen mußte. In einem Augenblicke, da er sich darüber völlig determinirt hatte, reisete er ohne Abschied davon, nachdem er schon öfters vergebliche Versuche zur Flucht gemacht hatte. Er ist zu Franckfurt und wir reden fleissig durch Briefe mit einander. Bald schrieb er, nunmehr seiner wieder mächtig zu seyn; gleich darauf fand ich wieder Veränderungen bey ihm. Kürzlich konnte er es doch nicht lassen, mit einem Freunde, der hier Geschäfte hatte, herüber zu kommen; er würde vielleicht noch hier seyn, wenn seines Begleiters Geschäfte nicht in einigen Tagen beendigt worden wären, und dieser gleiche Bewegungsgründe gehabt hätte, zurückzueilen: denn er folgt seiner nächsten Idee, und bekümmert sich nicht um die Folgen, und dieses fließt aus seinem Charakter, der ganz Original ist.

Inzwischen ist auch mein Vater gestorben, welches in seinen Folgen mich schon mehr mit den traurigen Beschwerden der Menschen bekannt gemacht hat und vielleicht noch mehr machen wird.

Damit Sie ferner wissen, wie es mit meinen geheimsten Angelegenheiten steht: Ich bin mit Lottchen in keiner weitern Verbindung, als worin ein ehrlicher Mann steht, wenn er einem Frauenzimmer den Vorzug vor allen übrigen giebt, sich mercken lässet, daß er ein gleiches von ihr wünscht und wenn sie solches thut, dieses nicht nur, sondern auch eine völlige Resignation von ihr annimmt. Dieses halte ich schon genug, um einen ehrlichen Mann zu binden, zumal wenn solches einige Jahre durch dauert. Indessen tritt bey mir noch hinzu, daß Lottchen und ich uns einander ausdrücklich erklärt haben, und es noch immer mit Vergnügen thun, ohne jedoch Schwüre oder Betheurungen hinzuzufügen. Auch habe ich schon längst ihrer seligen Mutter meine Absicht und Wunsch erklärt, inzwischen nicht verhehlt, daß ich noch Aeltern hätte, und eine geheime Verbindung nicht meine Absicht sey. Mit dem Vater habe ich noch nie eine Sylbe darüber gesprochen. Sie verlassen sich auf meine Ehrlichkeit, desfalls ich in einigem Ruf stehe, und sind ruhig, da Lottchen bisher noch zu jung und noch zu nöthig war.

Zu Haus habe ich kein Geheimniß aus meinem Umgang, noch aus dem Vorzuge, den ich Lottchen beylegte, gemacht, und zwar mit solchen Ausdrücken, daß sie meine Absicht errathen konnten. Man äusserte sich darüber nicht. Von meinem Vater versprach ich mir keine günstige Entschliessung und da ohnehin noch nicht Zeit war, ließ ich es dabey vorerst bewenden. Nachdem ich nun mit der Zeit endlich einmal einen Ernst daraus machen möchte, und von meiner Mutter mir gutes verspreche, so habe ich endlich auch meinen Wunsch und Absicht erklärt. Wir stehen darüber noch in Correspondenz. Es werde mir mancherley Umstände gemacht, besonders, daß ich zu Hause noch kein bestimmtes Emploi habe, daß Lottchen viele Geschwister und kein Vermögen hat. Ich habe diese Umstände aber wohl überlegt, und desfalls hinlängliche Auskunft gegeben; ohnehin wollte ich gegenwärtig nur den Schritt thun, daß ich Lottchen und ihren Vater wegen meiner Mutter Einwilligung benachrichtigen könnte. Vor der würklichen Heirath muß ich denn erst weitere Schritte wegen meines sichern Emploi thun, und was ich sonst desfalls überlegt habe. Ich hoffe nun bald schriftliche günstige Erklärung von meiner Mutter; indessen wird sie nicht ganz zufrieden seyn. Ich habe aber alles wohl überlegt und kann nicht anders. Mit dem Detail will ich Sie nicht aufhalten. Hätte ich nur erst eine gewisse Stelle, so sollte sich alles schon geben. Die Visitation scheint noch einige Zeit fortzudauern, und ich werde aushalten müssen. Man muß erwarten, was der Himmel fügt.

Leben Sie wohl, mein Bester; Erzählen Sie nur auch bald etwas von Ihnen.

K.

d. 28 Nov. 72.

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