28. Kestners Nachrichten über den Tod Jerusalems.

An Goethe abgesandt im November 1772.[13]

Jerusalem ist die ganze Zeit seines hiesigen Aufenthalts mißvergnügt gewesen, es sey nun überhaupt wegen der Stelle die er hier bekleidete, und daß ihm gleich Anfangs (bey Graf Bassenheim) der Zutritt in den großen Gesellschaften auf eine unangenehme Art versagt worden, oder insbesondere wegen des Braunschweigischen Gesandten, mit dem er bald nach seiner Ankunft kundbar heftige Streitigkeiten hatte, die ihm Verweise vom Hofe zuzogen und noch weitere verdrießliche Folgen für ihn gehabt haben. Er wünschte längst, und arbeitete daran, von hier wieder wegzukommen; sein hiesiger Aufenthalt war ihm verhaßt, wie er oft gegen seine Bekannte geäußert hat, und durch meinen Bedienten, dem es der seinige oft gesagt, wußte ich dieses längst. Bisher hoffte er, das hiesige Geschäft sollte sich zerschlagen; da nun seit einiger Zeit mehrerer Anschein zur Wiedervereinigung war, und man im Publiko solches schon nahe und gewiß glaubte, ist er, etwa vor 8 Tagen, bey dem Gesandten Falke (dem er bekannt und von dem Vater empfohlen war) gewesen, und hat diesen darüber auszuforschen gesucht, der denn, obgleich keine völlige Gewißheit, doch den Anschein und Hoffnung bezeuget.

Neben dieser Unzufriedenheit war er auch in des pfältz. Sekret. H... Frau verliebt. Ich glaube nicht, daß diese zu dergleichen Galanterien aufgelegt ist, mithin, da der Mann noch dazu sehr eifersüchtig war, mußte diese Liebe vollends seiner Zufriedenheit und Ruhe den Stoß geben.

Er entzog sich allezeit der menschlichen Gesellschaft und den übrigen Zeitvertreiben und Zerstreuungen, liebte einsame Spaziergänge im Mondenscheine, gieng oft viele Meilen weit und hieng da seinem Verdruß und seiner Liebe ohne Hoffnung nach. Jedes ist schon im Stande die erfolgte Würkung hervorzubringen. Er hatte sich einst Nachts in einem Walde verirrt, fand endlich noch Bauern, die ihn zurechtwiesen, und kam um 2 Uhr zu Haus.

Dabey behielt er seinen ganzen Kummer bey sich, und entdeckte solchen, oder vielmehr die Ursachen davon, nicht einmahl seinen Freunden. Selbst dem Kielmansegge hat er nie von der H.... gesagt, wovon ich aber zuverläßig unterrichtet bin.

Er las viel Romane, und hat selbst gesagt, daß kaum ein Roman seyn würde, den er nicht gelesen hätte. Die fürchterlichsten Trauerspiele waren ihm die liebsten. Er las ferner philosophische Schriftsteller mit großem Eyfer und grübelte darüber. Er hat auch verschiedene philosophische Aufsäze gemacht, die Kielmansegge gelesen und sehr von anderen Meinungen abweichend gefunden hat; unter andern auch einen besondern Aufsatz, worin er den Selbstmord vertheidigte. Oft beklagte er sich gegen Kielmansegge über die engen Gränzen, welche dem menschlichen Verstande gesetzt wären, wenigstens dem Seinigen; er konnte äußerst betrübt werden, wenn er davon sprach, was er wißen möchte, was er nicht ergründen könne &c. (Diesen Umstand habe ich erst kürzlich erfahren und ist, deucht mir, der Schlüssel eines großen Theils seines Verdrusses, und seiner Melancholie, die man beyde aus seinen Mienen lesen konnte; ein Umstand der ihm Ehre macht und seine letzte Handlung bei mir zu veredlen scheint.) Mendelsohns Phädon war seine liebste Lectüre; in der Materie vom Selbstmorde war er aber immer mit ihm unzufrieden; wobey zu bemerken ist, daß er denselben auch bey der Gewißheit von der Unsterblichkeit der Seele, die er glaubte, erlaubt hielt. Leibnitzen’s Werke las er mit großem Fleiße.


GRÖSSERE ANSICHT

Als letzthin das Gerücht vom Goué sich verbreitete, glaubte er diesen zwar nicht zum Selbstmorde fähig, stritt aber in Thesi eifrig für diesen, wie mir Kielmansegge, und viele, die um ihn gewesen, versichert haben. Ein paar Tage vor dem unglücklichen, da die Rede vom Selbstmorde war, sagte er zu Schleunitz, es müße aber doch eine dumme Sache seyn, wenn das Erschiessen mißriethe.

Auch einige Tage zuvor sprachen Brandten mit ihm von seinen weiten einsamen Spaziergängen, daß ihm da leicht einmal ein Unglück zustossen könnte, wie zum Ex. vor einiger Zeit, da einer beym entstandenen Gewitter sich unter ein Gemäuer retiriret, und dieses über ihm eingestürzt wäre. Er antwortete: das würde mir eben recht seyn. Dorthel verspricht ihm ein Kränzchen zu machen, wenn er hier stürbe. Er hat in Brandten Hause sehr über N... geklagt, daß dieser gar nicht schriebe, er schäme sich zu ihnen zu kommen, da er immer nichts von ihm sagen könne. Mit einiger Hitze zu Annchen: Ja, ich versichere Sie, die Sünden meiner Freunde schmerzen mich. (N... war Anbeter der Annchen.) Zu Kielmansegge hat er von N. gesagt, dieser hätte eine Dreckseele; was man noch in der Welt machen solle, wo man einen abwesenden Freund nicht einmal conserviren könne.

In diesen Tagen hat er mich, da er im Brandtischen Hause war, ins Buffische Haus gehen sehen (oder vielmehr es geglaubt, da es eigentlich ein anderer war,) und gesagt, mit einem besonderen Ton: wie glücklich ist Kestner! wie ruhig er dahin geht!

Vergangenen Dienstag kommt er zum kranken Kielmansegge, mit einem mißvergnügten Gesichte. Dieser frägt ihn, wie er sich befände? Er: Besser als mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe gesprochen, welches er sonst nie gethan; und dann von der Franckfurter Zeitung, die ihm seit einiger Zeit mehr als sonst gefalle. Nachmittags (Dienstag) ist er bey Sekr. H... gewesen. Bis Abends 8 Uhr spielen sie Tarok zusammen. Annchen Brandt war auch da; Jerusalem begleitet diese nach Haus. Im Gehen schlägt Jerusalem oft unmuthsvoll vor die Stirn und sagt wiederholt: Wer doch erst todt, — wer doch erst im Himmel wäre! — Annchen spaßt darüber; er bedingt sich bey ihr im Himmel einen Platz, und beim Abschiednehmen sagt er: Nun es bleibt dabey, ich bekomme bey Ihnen im Himmel einen Platz.

Am Mittewochen, da im Kronprinz groß Fest war und jeder jemanden zu Gaste hatte, gieng er, ob er gleich sonst zu Haus aß, zu Tisch und brachte den Secr. H... mit sich. Er hat sich da nicht anders als sonst, vielmehr muntrer betragen. Nach dem Essen nimmt ihn Secret. H... mit nach Haus zu seiner Frau. Sie trinken Kaffee. Jerusalem sagt zu der H...: Liebe Frau Secretairin, dieß ist der letzte Kaffee, den ich mit Ihnen trinke. — Sie hält es für Spaß und antwortet in diesem Tone. Diesen Nachmittag (Mittwochs) ist Jerusalem allein bei H...s gewesen, was da vorgefallen, weiß man nicht; vielleicht liegt hierin der Grund zum folgenden. — Abends, als es eben dunkel geworden, kommt Jerusalem nach Garbenheim, ins gewöhnliche Gasthaus, frägt ob niemand oben im Zimmer wäre? Auf die Antwort: Nein, geht er hinauf, kommt bald wieder herunter, geht zum Hofe hinaus, zur linken Hand hin, kehrt nach einer Weile zurück, geht in den Garten; es wird ganz dunkel, er bleibt da lange, die Wirthin macht ihre Anmerkungen darüber, er kommt wieder heraus, geht bei ihr, alles ohne ein Wort zu sagen, und mit heftigen Schritten, vorbey, zum Hofe hinaus, rechts davon springend.

Inzwischen, oder noch später, ist unter H... und seiner Frau etwas vorgegangen, wovon H... einer Freundin vertrauet, daß sie sich über Jerusalem etwas entzweyet und die Frau endlich verlangt, daß er ihm das Haus verbieten solle, worauf er es auch folgenden Tags in einem Billet gethan.

Nachts vom Mittewoch auf den Donnerstag ist er um 2 Uhr aufgestanden, hat den Bedienten geweckt, gesagt, er könne nicht schlafen, es sey ihm nicht wohl, läßt einheitzen, Thee machen, ist aber doch nachher ganz wohl, dem Ansehen nach.

Donnerstags Morgens schickt Secret. H... an Jerusalem ein Billet. Die Magd will keine Antwort abwarten und geht. Jerusalem hat sich eben rasiren lassen. Um 11 Uhr schickt Jerusalem wiederum ein Billet an Secret. H..., dieser nimmt es dem Bedienten nicht ab, und sagt, er brauche keine Antwort, er könne sich in keine Correspondenz einlassen, und sie sähen sich ja alle Tage auf der Dictatur. Als der Bediente das Billet unerbrochen wieder zurückbringt, wirft es Jerusalem auf den Tisch und sagt: es ist auch gut. (Vielleicht den Bedienten glauben zu machen, daß es etwas gleichgültiges betreffe.)

Mittags isset er zu Haus, aber wenig, etwas Suppe. Schickt um 1 Uhr ein Billet an mich und zugleich an seinen Gesandten, worin er diesen ersucht, ihm auf diesen (oder künftigen) Monat sein Geld zu schicken. Der Bediente kommt zu mir. Ich bin nicht zu Hause, mein Bedienter auch nicht. Jerusalem ist inzwischen ausgegangen, kommt um ¼4 Uhr zu Haus, der Bediente giebt ihm das Billet wieder. Dieser sagt: Warum er es nicht in meinem Hause, etwa an eine Magd, abgegeben? Jener: Weil es offen und unversiegelt gewesen, hätte er es nicht thun mögen. — Jerusalem: Das hätte nichts gemacht, jeder könne es lesen, er sollte es wieder hinbringen. — Der Bediente hielt sich hierdurch berechtigt, es auch zu lesen, ließt es und schickt es mir darauf durch einen Buben, der im Hause aufwartet. Ich war inzwischen zu Haus gekommen, es mogte ½4 Uhr seyn, als ich das Billet bekam:

„Dürfte ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise um ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?

J.“[14]

Da ich nun von alle dem vorher erzählten und von seinen Grundsätzen nichts wußte, indem ich nie besondern Umgang mit ihm gehabt — so hatte ich nicht den mindesten Anstand ihm die Pistolen sogleich zu schicken.

Nun hatte der Bediente in dem Billet gelesen, daß sein Herr verreisen wollte, und dieser ihm solches selbst gesagt, auch alles auf den anderen Morgen um 6 Uhr zur Reise bestellt, sogar den Friseur, ohne daß der Bediente wußte wohin, noch mit wem, noch auf was Art? Weil Jerusalem aber allezeit seine Unternehmungen vor ihm geheim tractiret, so schöpfte dieser keinen Argwohn. Er dachte jedoch bey sich: „Sollte mein Herr etwa heimlich nach Braunschweig reisen wollen, und dich hier sitzen lassen? &c.“ Er mußte die Pistolen zum Büchsenschäfter tragen und sie mit Kugeln laden lassen.

Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftiget, kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch verschiedene Mal ausgegangen, hat seine kleinen Schulden, und wo er nicht auf Rechnung ausgenommen, bezahlt; er hatte ein Paar Manschetten ausgenommen, er sagt zum Bedienter, sie gefielen ihm nicht, er sollte sie wieder zum Kaufmann bringen; wenn dieser sie aber nicht gern wieder nehmen wollte, so wäre da das Geld dafür, welches der Kaufmann auch lieber genommen.

Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische Sprachmeister zu ihm. Dieser fand ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie wieder stark habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu, man müsse dergleichen Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken suchen &c. Jerusalem: das ließe sich nicht so thun; er wäre heute lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Italiäner: er müsse in Gesellschaft gehen, sich zerstreuen &c. Jerusalem: er gienge auch noch aus. — Der Italiener, der auch die Pistolen auf dem Tische liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um halb acht Uhr weg und zu Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth spricht, ohne jedoch von seiner Besorgniß zu erwähnen, indem er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.

Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefel auszuziehen. Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch wirklich gethan hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide, und sonst auf die Gasse, wo er bey Verschiedenen, den Hut tief in die Augen gedrückt, vorbey gerauscht ist, mit schnellen Schritten, ohne jemand anzusehen. Man hat ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle (so sagt man).

Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente, um recht früh bey der Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit den Kleidern ins Bette.

Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle zerrissen und unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den Andern an H... geschrieben; man meint auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt. Sie haben auf dem Schreibtisch gelegen. Erster, den der Medicus andern Morgens gesehen, hat überhaupt nur folgendes enthalten, wie Dr. Held, der ihn gelesen, mir erzählt:

Lieber Vater, liebe Mutter, liebe Schwestern und Schwager, verzeihen Sie Ihrem unglücklichen Sohn und Bruder; Gott, Gott, segne euch!

In dem zweyten hat er H... um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört, und unter diesem theuren Paar Uneinigkeit gestiftet &c. Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen &c. In der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen &c. Er soll drey Blätter groß gewesen seyn, und sich damit geschlossen haben: „Um 1 Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder.“ (Vermutlich hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt.)

Diesen ungefähren Inhalt habe ich von jemand, dem der Gesandte Höffler ihn im Vertrauen gesagt, welcher daraus auf einen würklich strafbaren Umgang mit der Frau schliessen will. Allein bey H... war nicht viel erforderlich, um seine Ruhe zu stören und eine Uneinigkeit zu bewürken. Der Gesandte, deucht mich, sucht auch die Aufmerksamkeit ganz von sich, auf diese Liebesbegebenheit zu lenken, da der Verdruß von ihm wohl zugleich Jerusalem determinirt hat; zumal da der Gesandte verschiedentlich auf die Abberufung des Jerusalem angetragen, und ihm noch kürzlich starke reprochen vom Hofe verursacht haben soll. Hingegen hat der Erbprinz von Braunschweig, der ihm gewogen gewesen, vor Kurzem geschrieben, daß er sich hier noch ein wenig gedulden mögte, und wenn er Geld bedürfe, es ihm nur schreiben sollte, ohne sich an seinen Vater, den Herzog, zu wenden.

Nach diesen Vorbereitungen, etwa gegen 1 Uhr, hat er sich denn über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen. Man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört; sondern der Franciskaner Pater Guardian, der auch den Blick vom Pulver gesehen, weil es aber stille geworden, nicht darauf geachtet hat. Der Bediente hatte die vorige Nacht wenig geschlafen und hat sein Zimmer weit hinten hinaus, wie auch die Leute im Haus, welche unten hinten hinaus schlafen.

Es scheint sitzend im Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch geschehen zu seyn. Der Stuhl hinten im Sitz war blutig, auch die Armlehnen. Darauf ist er vom Stuhle heruntergesunken, auf der Erde war noch viel Blut. Er muß sich auf der Erde in seinem Blute gewälzt haben; erst beym Stuhle war eine große Stelle von Blut; die Weste vorn ist auch blutig; er scheint auf dem Gesichte gelegen zu haben; dann ist er weiter, um den Stuhl herum, nach dem Fenster hin gekommen, wo wieder viel Blut gestanden, und er auf dem Rücken entkräftet gelegen hat. (Er war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Rock mit gelber Weste.)

Morgens vor 6 Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn ins Zimmer, ihn zu wecken; das Licht war ausgebrannt, es war dunkel, er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, bemerkt etwas Nasses, und meynt er möge sich übergeben haben; wird aber die Pistole auf der Erde, und darauf Blut gewahr, ruft: Mein Gott, Herr Assessor, was haben Sie angefangen; schüttelt ihn, er giebt keine Antwort, und röchelt nur noch. Er läuft zu Medicis und Wundärzten. Sie kommen, es war aber keine Rettung. Dr. Held erzählt mir, als er zu ihm gekommen, habe er auf der Erde gelegen, der Puls noch geschlagen; doch ohne Hülfe. Die Glieder alle wie gelähmt, weil das Gehirn lädirt, auch herausgetreten gewesen; Zum Ueberflusse habe er ihm eine Ader am Arm geöffnet, wobey er ihm den schlaffen Arm halten müssen, das Blut wäre doch noch gelaufen. Er habe nichts als Athem geholt, weil das Blut in der Lunge noch circulirt, und diese daher noch in Bewegung gewesen.

Das Gerücht von dieser Begebenheit verbreitete sich schnell; die ganze Stadt war in Schrecken und Aufruhr. Ich hörte es erst um 9 Uhr, meine Pistolen fielen mir ein, und ich weiß nicht, daß ich kurzens so sehr erschrocken bin. Ich zog mich an und gieng hin. Er war auf das Bette gelegt, die Stirne bedeckt, sein Gesicht schon wie eines Todten, er rührte kein Glied mehr, nur die Lunge war noch in Bewegung, und röchelte fürchterlich, bald schwach, bald stärker, man erwartete sein Ende.

Von dem Wein hatte er nur ein Glas getrunken. Hin und wieder lagen Bücher und von seinen eignen schriftlichen Aufsätzen. Emilia Galotti lag auf einem Pult am Fenster aufgeschlagen; daneben ein Manuscript ohngefähr Fingerdick in Quart, philosophischen Inhalts, der erste Theil oder Brief war überschrieben: Von der Freyheit, es war darin von der moralischen Freyheit die Rede. Ich blätterte zwar darin, um zu sehen, ob der Inhalt auf seine letzte Handlung einen Bezug habe, fand es aber nicht; ich war aber so bewegt und consternirt, daß ich mich nichts daraus besinne, noch die Scene, welche von der Emilia Galotti aufgeschlagen war, weiß, ohngeachtet ich mit Fleiß darnach sah.

Gegen 12 Uhr starb er. Abends ¾11 Uhr ward er auf dem gewöhnlichen Kirchhof begraben, (ohne daß er seciret ist, weil man von dem Reichs-Marschall-Amte Eingriffe in die gesandtschaftlichen Rechte fürchtete) in der Stille mit 12 Laternen und einigen Begleitern; Barbiergesellen haben ihn getragen; das Kreutz ward voraus getragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.

Es ist ganz ausserordentlich, was diese Begebenheit für einen Eindruck auf alle Gemüther gemacht. Leute, die ihn kaum einmahl gesehen, können sich noch nicht beruhigen; viele können seitdem noch nicht wieder ruhig schlafen; besonders Frauenzimmer nehmen großen Antheil an seinem Schicksal; er war gefällig gegen das Frauenzimmer, und seine Gestalt mag gefallen haben &c.

Wetzlar d. 2. Nov. 1772.

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