88. Goethe an Kestner.

Am ersten Christtage, morgends nach sechs. (1773.)

Es ist ein Jahr dass ich um eben die Stunde an euch schrieb, meine lieben, wie manches hat sich verändert seit der Zeit.

Ich hab euch lange nicht geschrieben, das macht dass es bunt um mich zugeht.

Ich danke dir liebe Lotte dass du mir für meine Spinneweben einen Brief geschenkt hast. Wenn ich das gehofft hätte, wäre mein Geschenk eigennützig gewesen. Ich habe ihn wohl hundertmal geküßt. Es giebt Augenblicke wo man erst merkt wie lieb man seine Freunde hat.

Ich kann euch die Freude nicht beschreiben die ich hatte Merken wieder zu sehn, er kam acht Tage eh ich’s vermuthete, und sas bey meinem Vater in der Stube, ich kam nach Hause, ohne was zu wissen, tret ich hinein und höre seine Stimme eher als ich ihn sehe. Du kennst mich Lotte.

Die Stelle in deinem Brief die einen Wink enthält von möglicher Näherung zu euch, ist mir durch die Seele gangen. Ach es ist das schon so lange mein Traum als ihr weg seyd. Aber es wird wohl auch Traum bleiben. Mein Vater hätte zwar nichts dagegen wenn ich in fremde Dienste gienge, auch hält mich hier weder Liebe noch Hoffnung eines Amts — und so scheint es könnt ich wohl einen Versuch wagen, wieder einmal wie’s draussen aussieht.

Aber Kestner, die Talente und Kräffte die ich habe, brauch ich für mich selbst gar zu sehr, ich binn von ieher gewohnt nur nach meinem Instinkt zu handeln, und damit könnte keinem Fürsten gedient seyn. Und dann biss ich politische Subordination lernte — Es ist ein verfluchtes Volk, die Franckfurter, pflegt der Präs. v. Moser zu sagen, man kann ihre eigensinnigen Köpfe nirgends hin brauchen. Und wenn auch das nicht wäre, unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. Das bissgen Theorie und Menschenverstand richtens nicht aus — Hier geht meine Praxis mit meinen Kenntnissen Hand in Hand, ich lerne ieden Tag und haudere mich weiter. — Aber in einem Justiz-Collegio — Ich habe mich von ieher gehütet ein Spiel zu spielen da ich der unerfahrenste am Tisch war — Also — doch möcht ich wissen ob deine Worte etwas mehr als Wunsch und Einfall waren.

Meine Schwester ist brav. Sie lernt leben! und nur bey verwickelten misslichen Fällen erkennt der Mensch was in ihm stickt. Es geht ihr wohl und Schl. ist der beste Ehemann wie er der zärtlichste und unverrückteste Liebhaber war.

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