Rom, den 22. März.

Heute geh' ich nicht nach St. Peter und will ein Blättchen schreiben. Nun ist auch die heilige Woche mit ihren Wundern und Beschwerden vorüber, morgen nehmen wir noch eine Benediktion auf uns, und dann wendet sich das Gemüt ganz zu einem andern Leben.

Ich habe durch Gunst und Mühe guter Freunde alles gesehen und gehört, besonders ist die Fußwaschung und die Speisung der Pilger nur durch großes Drängen und Drücken zu erkaufen.

Die Kapellmusik ist undenkbar schön. Besonders das "Miserere" von Allegri und die sogenannten "Improperien", die Vorwürfe, welche der gekreuzigte Gott seinem Volke macht. Sie werden Karfreitags frühe gesungen. Der Augenblick, wenn der aller seiner Pracht entkleidete Papst vom Thron steigt, um das Kreuz anzubeten, und alles übrige an seiner Stelle bleibt, jedermann still ist, und das Chor anfängt: "Populus meus, quid feci tibi?", ist eine der schönsten unter allen merkwürdigen Funktionen. Das soll nun alles mündlich ausgeführt werden, und was von Musik transportabel ist, bringt Kayser mit. Ich habe nach meinem Wunsch alles, was an den Funktionen genießbar war, genossen und über das übrige meine stillen Betrachtungen angestellt. Effekt, wie man zu sagen pflegt, hat nichts auf mich gemacht, nichts hat mir eigentlich imponiert, aber bewundert hab' ich alles, denn das muß man ihnen nachsagen, daß sie die christlichen überlieferungen vollkommen durchgearbeitet haben. Bei den päpstlichen Funktionen, besonders in der Sixtinischen Kapelle, geschieht alles, was am katholischen Gottesdienste sonst unerfreulich erscheint, mit großem Geschmack und vollkommner Würde. Es kann aber auch nur da geschehen, wo seit Jahrhunderten alle Künste zu Gebote standen.

Das Einzelne davon würde jetzt nicht zu erzählen sein. Hätte ich nicht in der Zwischenzeit auf jene Veranlassung wieder stille gehalten und an ein längeres Bleiben geglaubt, so könnt' ich nächste Woche fort. Doch auch das gereicht mir zum besten. Ich habe diese Zeit wieder viel studiert, und die Epoche, auf die ich hoffte, hat sich geschlossen und geründet. Es ist zwar immer eine sonderbare Empfindung, eine Bahn, auf der man mit starken Schritten fortgeht, auf einmal zu verlassen, doch muß man sich darein finden und nicht viel Wesens machen. In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.

Schöne Zeichnungen hab' ich von Neapel erhalten, von Kniep, dem Maler, der mich nach Sizilien begleitet hat. Es sind schöne liebliche Früchte meiner Reise und für euch die angenehmsten; denn was man einem vor die Augen bringen kann, gibt man ihm am sichersten. Einige drunter sind, dem Ton der Farbe nach, ganz köstlich geraten, und ihr werdet kaum glauben, daß jene Welt so schön ist.

Soviel kann ich sagen, daß ich in Rom immer glücklicher geworden bin, daß noch mit jedem Tage mein Vergnügen wächst; und wenn es traurig scheinen möchte, daß ich eben scheiden soll, da ich am meisten verdiente, zu bleiben, so ist es doch wieder eine große Beruhigung, daß ich so lang habe bleiben können, um auf den Punkt zu gelangen.

Soeben steht der Herr Christus mit entsetzlichem Lärm auf. Das Kastell feuert ab, alle Glocken läuten, und an allen Ecken und Enden hört man Petarden, Schwärmer und Lauffeuer. Um eilf Uhr morgens.

Bericht März

Es ist uns erinnerlich, wie Philippus Neri den Besuch der sieben Hauptkirchen Roms sich öfters zur Pflicht gemacht und dadurch von der Inbrunst seiner Andacht einen deutlichen Beweis gegeben. Hier nun aber ist zu bemerken, daß eine Wallfahrt zu gedachten Kirchen von jedem Pilger, der zum Jubiläum herankommt, notwendig gefordert wird und wirklich wegen der weitentfernten Lage dieser Stationen, insofern der Weg an einem Tage zurückgelegt werden soll, einer abermaligen anstrengenden Reise wohl gleichzuachten ist.

Jene sieben Kirchen aber sind: St. Peter, Santa Maria Maggiore, San
Lorenzo außer den Mauern, San Sebastian, San Johann im Lateran, Santa
Croce in Jerusalem, San Paul vor den Mauern.

Einen solchen Umgang nun vollführen auch einheimische fromme Seelen in der Karwoche, besonders am Karfreitag. Da man aber zu dem geistlichen Vorteil, welchen die Seelen durch den damit verknüpften Ablaß erwerben und genießen, noch einen leiblichen Genuß hinzugetan, so wird in solcher Hinsicht Ziel und Zweck noch reizender.

Wer nämlich nach vollbrachter Wallfahrt mit gehörigen Zeugnissen zum Tore von San Paul endlich wieder hereintritt, erhält daselbst ein Billet, um an einem frommen Volksfeste in der Villa Mattei an bestimmten Tagen teilnehmen zu können. Dort erhalten die Eingelassenen eine Kollation von Brot, Wein, etwas Käse oder Eiern; die Genießenden sind dabei im Garten umher gelagert, vornehmlich in dem kleinen daselbst befindlichen Amphitheater. Gegenüber in dem Kasino der Villa findet sich die höhere Gesellschaft zusammen; Kardinäle, Prälaten, Fürsten und Herren, um sich an dem Anblick zu ergötzen und somit auch ihren Teil an der Spende, von der Familie Mattei gestiftet, hinzunehmen.

Wir sahen eine Prozession von etwa zehn—bis zwölfjährigen Knaben herankommen, nicht im geistlichen Gewand, sondern wie es etwa Handwerkslehrlingen am Festtage zu erscheinen geziemen möchte, in Kleidern gleicher Farbe, gleichen Schnitts, paarweise, es konnten ihrer vierzig sein. Sie sangen und sprachen ihre Litaneien fromm vor sich hin und wandelten still und züchtig.

Ein alter Mann von kräftigem handwerksmäßigen Ansehn ging an ihnen her und schien das Ganze zu ordnen und zu leiten. Auffallend war es, die vorüberziehende wohlgekleidete Reihe durch ein halb Dutzend bettelhafte, barfuß und zerlumpt einhergehende Kinder geschlossen zu sehen welche jedoch in gleicher Zucht und Sitte dahinwandelten. Erkundigung deshalb gab uns zu vernehmen: Dieser Mann, ein Schuster von Profession und kinderlos, habe sich früher bewogen gefühlt, einen armen Knaben auf—und in die Lehre zu nehmen, mit Beistand von Wohlwollenden ihn zu kleiden und weiterzubringen. Durch ein solches gegebenes Beispiel sei es ihm gelungen, andere Meister zu gleicher Aufnahme von Kindern zu bewegen, die er ebenfalls zu befördern alsdann besorgt gewesen. Auf diese Weise habe sich ein kleines Häuflein gesammelt, welches er zu gottesfürchtigen Handlungen, um den schädlichen Müßiggang an Sonn—und Feiertagen zu verhüten, ununterbrochen angehalten, ja sogar den Besuch der weit auseinander liegenden Hauptkirchen an einem Tage von ihnen gefordert. Auf diese Weise nun sei diese fromme Anstalt immer gewachsen; er verrichte seine verdienstlichen Wanderungen nach wie vor, und weil sich zu einer so augenfällig nutzbaren Anstalt immer mehr hinzudrängen, als aufgenommen werden könnten, so bediene er sich des Mittels, um die allgemeine Wohltätigkeit zu erregen, daß er die noch zu versorgenden, zu bekleidenden Kinder seinem Zuge anschließe, da es ihm denn jedesmal gelinge, zur Versorgung eines und des andern hinreichende Spende zu erhalten.

Während wir uns hievon unterrichteten, war einer der älteren und bekleideten Knaben auch in unsere Nähe gekommen, bot uns einen Teller und verlangte mit gutgesetzten Worten für die nackten und sohlenlosen bescheiden eine Gabe. Er empfing sie nicht nur von uns gerührten Fremden reichlich, sondern auch von den anstehenden sonst pfennigkargen Römern und Römerinnen, die einer mäßigen Spende mit viel Worten segnender Anerkennung jenes Verdienstes noch ein frommes Gewicht beizufügen nicht unterließen.

Man wollte wissen, daß der fromme Kindervater jedesmal seine Pupillen an jener Spende teilnehmen lasse, nachdem sie sich durch vorhergegangene Wanderung erbaut, wobei es denn niemals an leidlicher Einnahme zu seinem edlen Zwecke fehlen kann.

Italienische Reise / 2. Röm. Aufenthalt / Nachahmung des Schönen

über die bildende Nachahmung des Schönen

von Karl Philipp Moritz. Braunschweig 1788.

Unter diesem Titel ward ein Heft von kaum vier Bogen gedruckt, wozu Moritz das Manuskript nach Deutschland geschickt hatte, um seinen Verleger über den Vorschuß einer Reisebeschreibung nach Italien einigermaßen zu beschwichtigen. Freilich war eine solche nicht so leicht als die einer abenteuerlichen Fußwanderung durch England niederzuschreiben.

Gedachtes Heft aber darf ich nicht unerwähnt lassen; es war aus unsern Unterhaltungen hervorgegangen, welche Moritz nach seiner Art benutzt und ausgebildet. Wie es nun damit auch sei, so kann es geschichtlich einiges Interesse haben, um daraus zu ersehen, was für Gedanken sich in jener Zeit vor uns auftaten, welche, späterhin entwickelt, geprüft, angewendet und verbreitet, mit der Denkweise des Jahrhunderts glücklich zusammentrafen.

Einige Blätter aus der Mitte des Vortrags mögen hier eingeschaltet stehen, vielleicht nimmt man hievon Veranlassung, das Ganze wieder abzudrucken.

"Der Horizont der tätigen Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit wie die Natur selber sein: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt sein und so unendlich viele Berührungspunkte der allumströmenden Natur darbieten, daß gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im großen, hier im kleinen sich nebeneinander stellend, Raum genug haben, um sich einander nicht verdrängen zu dürfen.

Wenn nun eine Organisation von diesem feinern Gewebe bei ihrer völligen Entwicklung auf einmal in der dunklen Ahndung ihrer tätigen Kraft ein Ganzes faßt, das weder in ihr Auge noch in ihr Ohr, weder in ihre Einbildungskraft noch in ihre Gedanken kam, so muß notwendig eine Unruhe, ein Mißverhältnis zwischen den sich wägenden Kräften so lange entstehen, bis sie wieder in ihr Gleichgewicht kommen.

Bei einer Seele, deren bloß tätige Kraft schon das edle große Ganze der Natur in dunkler Ahndung faßt, kann die deutlich erkennende Denkkraft, die noch lebhafter darstellende Einbildungskraft und der am hellsten spiegelnde äußre Sinn mit der Betrachtung des einzelnen im Zusammenhange der Natur sich nicht mehr begnügen.

Alle die in der tätigen Kraft bloß dunkel geahndeten Verhältnisse jenes großen Ganzen müssen notwendig auf irgendeine Weise entweder sichtbar, hörbar oder doch der Einbildungskraft faßbar werden; und um dies zu werden, muß die Tatkraft, worin sie schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden.—Sie muß alle jene Verhältnisse des großen Ganzen und in ihnen das höchste Schöne wie an den Spitzen seiner Strahlen in einen Brennpunkt fassen.—Aus diesem Brennpunkte muß sich nach des Auges gemessener Weite ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur ebenso wahr und richtig wie sie selbst in seinem kleinen Umfang faßt.

Weil nun aber dieser Abdruck des höchsten Schönen notwendig an etwas haften muß, so wählt die bildende Kraft, durch ihre Individualität bestimmt, irgendeinen sichtbaren, hörbaren oder doch der Einbildungskraft faßbaren Gegenstand, auf den sie den Abglanz des höchsten Schönen im verjüngenden Maßstabe überträgt.—Und weil dieser Gegenstand wiederum, wenn er wirklich, was er darstellt, wäre, mit dem Zusammenhange der Natur, die außer sich selber kein wirklich eigenmächtiges Ganze duldet, nicht ferner bestehen könnte, so führet uns dies auf den Punkt, wo wir schon einmal waren: daß jedesmal das innre Wesen erst in die Erscheinung sich verwandeln müsse, ehe es durch die Kunst zu einem für sich bestehenden Ganzen gebildet werden und ungehindert die Verhältnisse des großen Ganzen der Natur in ihrem völligen Umfange spiegeln kann.

Da nun aber jene großen Verhältnisse, in deren völligem Umfange eben das Schöne liegt, nicht mehr unter das Gebiet der Denkkraft fallen, so kann auch der lebendige Begriff von der bildenden Nachahmung des Schönen nur im Gefühl der tätigen Kraft, die es hervorbringt, im ersten Augenblick der Entstehung stattfinden, wo das Werk, als schon vollendet, durch alle Grade seines allmählichen Werdens in dunkler Ahndung auf einmal vor die Seele tritt und in diesem Moment der ersten Erzeugung gleichsam vor seinem wirklichen Dasein da ist; wodurch alsdann auch jener unnennbare Reiz entsteht, welcher das schaffende Genie zur immerwährenden Bildung treibt.

Durch unser Nachdenken über die bildende Nachahmung des Schönen, mit dem reinen Genuß der schönen Kunstwerke selbst vereint, kann zwar etwas jenem lebendigen Begriff Näherkommendes in uns entstehen, das den Genuß der schönen Kunstwerke uns erhöht.—Allein da unser höchster Genuß des Schönen dennoch sein Werden auf unsrer eignen Kraft unmöglich mit in sich fassen kann, so bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, selber, und das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht; unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins—und das bildende Genie ist daher im großen Plane der Natur zuerst um sein selbst, und dann erst um unsertwillen da; weil es nun einmal außer ihm noch Wesen gibt, die selbst nicht schaffen und bilden, aber doch das Gebildete, wenn es einmal hervorgebracht ist, mit ihrer Einbildungskraft umfassen können.

Die Natur des Schönen besteht ja eben darin, daß sein innres Wesen außer den Grenzen der Denkkraft, in seiner Entstehung, in seinem eignen Werden liegt. Eben darum, weil die Denkkraft beim Schönen nicht mehr fragen kann, warum es schön sei, ist es schön.—Denn es mangelt ja der Denkkraft völlig an einem Vergleichungspunkte, wornach sie das Schöne beurteilen und betrachten könnte. Was gibt es noch für einen Vergleichungspunkt für das echte Schöne, als mit dem Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse des großen Ganzen der Natur, die keine Denkkraft umfassen kann? Alles einzelne, hin und her in der Natur zerstreute Schöne ist ja nur insofern schön, als sich dieser Inbegriff aller Verhältnisse jenes großen Ganzen mehr oder weniger darin offenbart. Es kann also nie zum Vergleichungspunkte für das Schöne der bildenden Künste, ebensowenig als der wahren Nachahmung des Schönen zum Vorbilde dienen; weil das höchste Schöne im Einzelnen der Natur immer noch nicht schön genug für die stolze Nachahmung der großen und majestätischen Verhältnisse des allumfassenden Ganzen der Natur ist. Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht—oder empfunden werden.

Denn weil in gänzlicher Ermangelung eines Vergleichungspunktes einmal das Schöne kein Gegenstand der Denkkraft ist, so würden wir, insofern wir es nicht selbst hervorbringen können, auch seines Genusses ganz entbehren müssen, indem wir uns nie an etwas halten könnten, dem das Schöne näher käme als das Minderschöne—wenn nicht etwas die Stelle der hervorbringenden Kraft in uns ersetzte, das ihr so nahe wie möglich kömmt, ohne doch sie selbst zu sein:—dies ist nun, was wir Geschmack oder Empfindungsfähigkeit für das Schöne nennen, die, wenn sie in ihren Grenzen bleibt, den Mangel des höhern Genusses bei der Hervorbringung des Schönen durch die ungestörte Ruhe der stillen Betrachtung ersetzen kann.

Wenn nämlich das Organ nicht fein genug gewebt ist, um dem einströmenden Ganzen der Natur so viele Berührungspunkte darzubieten, als nötig sind, um alle ihre großen Verhältnisse vollständig im kleinen abzuspiegeln, und uns noch ein Punkt zum völligen Schluß des Zirkels fehlt, so können wir statt der Bildungskraft nur Empfindungsfähigkeit für das Schöne haben: jeder Versuch, es außer uns wieder darzustellen, würde uns mißlingen und uns desto unzufriedner mit uns selber machen, je näher unser Empfindungsvermögen für das Schöne an das uns mangelnde Bildungsvermögen grenzt.

Weil nämlich das Wesen des Schönen eben in seiner Vollendung in sich selbst besteht, so schadet ihm der letzte fehlende Punkt so viel als tausend, denn er verrückt alle übrigen Punkte aus der Stelle, in welche sie gehören.—Und ist dieser Vollendungspunkt einmal verfehlt, so verlohnt ein Werk der Kunst nicht der Mühe des Anfangs und der Zeit seines Werdens; es fällt unter das Schlechte bis zum Unnützen herab, und sein Dasein muß notwendig durch die Vergessenheit, worin es sinkt, sich wieder aufheben.

Ebenso schadet auch dem in das feinere Gewebe der Organisation gepflanzten Bildungsvermögen der letzte zu seiner Vollständigkeit fehlende Punkt so viel als tausend. Der höchste Wert, den es als Empfindungsvermögen haben könnte, kömmt bei ihm als Bildungskraft ebensowenig wie der geringste in Betrachtung. Auf dem Punkte, wo das Empfindungsvermögen seine Grenzen überschreitet, muß es notwendig unter sich selber sinken, sich aufheben und vernichten.

Je vollkommener das Empfindungsvermögen für eine gewisse Gattung des Schönen ist, um desto mehr ist es in Gefahr, sich zu täuschen, sich selbst für Bildungskraft zu nehmen und auf die Weise durch tausend mißlungene Versuche seinen Frieden mit sich selbst zu stören.

Es blickt z. B. beim Genuß des Schönen in irgendeinem Werke der Kunst zugleich durch das Werden desselben in die bildende Kraft, die es schuf, hindurch; und ahndet dunkel den höhern Grad des Genusses eben dieses Schönen im Gefühl dieser Kraft, die mächtig genug war, es aus sich selbst hervorzubringen.

Um sich nun diesen höhern Grad des Genusses, welchen sie an einem Werke, das einmal schon da ist, unmöglich haben kann, auch zu verschaffen, strebt die einmal zu lebhaft gerührte Empfindung vergebens, etwas ähnliches aus sich selbst hervorzubringen, haßt ihr eignes Werk, verwirft es und verleidet sich zugleich den Genuß alle des Schönen, das außer ihr schon da ist, und woran sie nun eben deswegen, weil es ohne ihr Zutun da ist, keine Freude findet.

Ihr einziger Wunsch und Streben ist, des ihr versagten höhern Genusses, den sie nur dunkel ahndet, teilhaftig zu werden: in einem schönen Werke, das ihr sein Dasein dankt, mit dem Bewußtsein von eigner Bildungskraft sich selbst zu spiegeln.-Allein sie wird ihres Wunsches ewig nicht gewährt, weil Eigennutz ihn erzeugte und das Schöne sich nur um sein selbst willen von der Hand des Künstlers greifen und willig und folgsam von ihm sich bilden läßt.

Wo sich nun in den schaffenwollenden Bildungstrieb sogleich die Vorstellung vom Genuß des Schönen mischt, den es, wenn es vollendet ist, gewähren soll; und wo diese Vorstellung der erste und stärkste Antrieb unsrer Tatkraft wird, die sich zu dem, was sie beginnt, nicht in und durch sich selbst gedrungen fühlt, da ist der Bildungstrieb gewiß nicht rein: der Brennpunkt oder Vollendungspunkt des Schönen fällt in die Wirkung über das Werk hinaus; die Strahlen gehen auseinander; das Werk kann sich nicht in sich selber ründen.

Dem höchsten Genuß des aus sich selbst hervorgebrachten Schönen sich so nah zu dünken und doch darauf Verzicht zu tun, scheint freilich ein harter Kampf—der dennoch äußerst leicht wird, wenn wir aus diesem Bildungstriebe, den wir uns einmal zu besitzen schmeicheln, um doch sein Wesen zu veredeln, jede Spur des Eigennutzes, die wir noch finden, tilgen und jede Vorstellung des Genusses, den uns das Schöne, das wir hervorbringen wollen, wenn es nun da sein wird, durch das Gefühl unsrer eignen Kraft gewähren soll, soviel wie möglich zu verbannen suchen, so daß, wenn wir auch mit dem letzten Atemzuge es erst vollenden könnten, es dennoch zu vollenden strebten.-Behält alsdann das Schöne, das wir ahnden, bloß an und für sich selbst, in seiner Hervorbringung, noch Reiz genug, unsre Tatkraft zu bewegen, so dürfen wir getrost unserm Bildungstriebe folgen, weil er echt und rein ist. -Verliert sich aber mit der gänzlichen Hinwegdenkung des Genusses und der Wirkung auch der Reiz, so bedarf es ja keines Kampfes weiter, der Frieden in uns ist hergestellt, und das nun wieder in seine Rechte getretene Empfindungsvermögen eröffnet sich zum Lohne für sein bescheidnes Zurücktreten in seine Grenzen dem reinsten Genuß des Schönen, der mit der Natur seines Wesens bestehen kann.

Freilich kann nun der Punkt, wo Bildungs—und Empfindungskraft sich scheidet, so äußerst leicht verfehlt und überschritten werden, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn immer tausend falsche, angemaßte Abdrücke des höchsten Schönen gegen einen echten durch den falschen Bildungstrieb in den Werken der Kunst entstehen.

Denn da die echte Bildungskraft sogleich bei der ersten Entstehung ihres Werks auch schon den ersten, höchsten Genuß desselben als ihren sichern Lohn in sich selber trägt und sich nur dadurch von dem falschen Bildungstriebe unterscheidet, daß sie den allerersten Moment ihres Anstoßes durch sich selber und nicht durch die Ahndung des Genusses von ihrem Werke erhält; und weil in diesem Moment der Leidenschaft die Denkkraft selbst kein richtiges Urteil fällen kann, so ist es fast unmöglich, ohne eine Anzahl mißlungner Versuche dieser Selbsttäuschung zu entkommen.

Und selbst auch diese mißlungnen Versuche sind noch nicht immer ein Beweis von Mangel an Bildungskraft, weil diese selbst da, wo sie echt ist, oft eine ganz falsche Richtung nimmt, indem sie vor ihre Einbildungskraft stellen will, was vor ihr Auge, oder vor ihr Auge, was vor ihr Ohr gehört.

Eben weil die Natur die inwohnende Bildungskraft nicht immer zur völligen Reife und Entwicklung kommen oder sie einen falschen Weg einschlagen läßt, auf dem sie sich nie entwickeln kann, so bleibt das echte Schöne selten.

Und weil sie auch aus dem angemaßten Bildungstriebe das Gemeine und
Schlechte ungehindert entstehen läßt, so unterscheidet sich eben
dadurch das echte Schöne und Edle durch seinen seltenen Wert vom
Schlechten und Gemeinen.

In dem Empfindungsvermögen bleibt also stets die Lücke, welche nur durch das Resultat der Bildungskraft sich ausfüllt.—Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit verhalten sich zueinander wie Mann und Weib. Denn auch die Bildungskraft ist bei der ersten Entstehung ihres Werks im Moment des höchsten Genusses zugleich Empfindungsfähigkeit und erzeugt wie die Natur den Abdruck ihres Wesens aus sich selber.

Empfindungsvermögen sowohl als Bildungskraft sind also in dem feinern
Gewebe der Organisation gegründet, insofern dieselbe in allen ihren
Berührungspunkten von den Verhältnissen des großen Ganzen der Natur
ein vollständiger oder doch fast vollständiger Abdruck ist.

Empfindungskraft sowohl als Bildungskraft umfassen mehr als Denkkraft, und die tätige Kraft, worin sich beide gründen, faßt zugleich auch alles, was die Denkkraft faßt, weil sie von allen Begriffen, die wir je haben können, die ersten Anlässe, stets sie aus sich herausspinnend, in sich trägt.

Insofern nun diese tätige Kraft alles, was nicht unter das Gebiet der
Denkkraft fällt, hervorbringend in sich faßt, heißet sie Bildungskraft:
und insofern sie das, was außer den Grenzen der Denkkraft liegt, der
Hervorbringung sich entgegenneigend, in sich begreift, heißt sie
Empfindungskraft.

Bildungskraft kann nicht ohne Empfindung und tätige Kraft, die bloß tätige Kraft hingegen kann ohne eigentliche Empfindungs—und Bildungskraft, wovon sie nur die Grundlage ist, für sich allein stattfinden.

Insofern nun diese bloß tätige Kraft ebenfalls in dem feinern Gewebe der Organisation sich gründet, darf das Organ nur überhaupt in allen seinen Berührungspunkten ein Abdruck der Verhältnisse des großen Ganzen sein, ohne daß eben der Grad der Vollständigkeit erfordert würde, welche die Empfindungs—und Bildungskraft voraussetzt.

Von den Verhältnissen des großen Ganzen, das uns umgibt, treffen nämlich immer so viele in allen Berührungspunkten unsres Organs zusammen, daß wir dies große Ganze dunkel in uns fühlen, ohne es doch selbst zu sein. Die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen; das Organ wünscht sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebende Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern, soweit es kann, selbst dies umgebende Ganze sein.

Daher ergreift jede höhere Organisation ihrer Natur nach die ihr untergeordnete und trägt sie in ihr Wesen über. Die Pflanze den unorganisierten Stoff durch bloßes Werden und Wachsen; das Tier die Pflanzen durch Werden, Wachsen und Genuß; der Mensch verwandelt nicht nur Tier und Pflanze durch Werden, Wachsen und Genuß in sein innres Wesen, sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseins auf und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar.

Wo nicht, so muß er das, was um ihn her ist, durch Zerstörung in den
Umfang seines wirklichen Daseins ziehn und verheerend um sich greifen,
so weit er kann, da einmal die reine unschuldige Beschauung seinen
Durst nach ausgedehntem wirklichem Dasein nicht ersetzen kann."

April

Korrespondenz

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