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Die verschiedenen Quartiere und Straßen von Paris sind von verschiedenen Atmosphären getragen. Wie Provinzen scheiden sie sich streng voneinander ab. Die Rue Montmartre zwischen den Boulevards und den Hallen ist die Lunge von Paris. Auf der Börse wird jede Minute der Pulsschlag von Europa ausgerufen. Die Schreie erschüttern den Platz davor wie Meeresrauschen. In den Hallen werden die vergänglichen Werte der Erde ausgeschrien und in der Rue Montmartre mitten zwischen diesen entstehen die Zeitungen, die den ganzen Lärm, die Predigten und die Flüche der Welt weiter verbreiten. Hier wird Ruhm und Dekadenz eines jeden Tages geschaffen und vernichtet. In einem einzigen Haus dieser Straße, der Nummer 142, befinden sich die Redaktionen sämtlicher Gesinnungen Frankreichs. Im Erdgeschoß ist es „La Presse“, das populäre Bürgerblatt des Nachmittags, das mit feisten Titeln das Geschehen der Welt umlügt. Ein Stockwerk darüber „Le Jockey“, in welchem täglich für die Müßiggänger von Auteuil und Longchamps die Chancen der Pferde mit den mythologischen Namen ausgerechnet und verzinst werden. Auf derselben Treppe links „La Victoire“, in der der einstige Anarchist Gustave Hervé die Aussprüche Millerands zu biblischen Gesetzen stempelt. Im zweiten Stockwerk rechts „l’Humanité“, wo die Türen fliegen, die Winde ein- und auspoltern und die jungen Revolutionäre Frankreichs unter der väterlichen Führung Marcel Cachins und dem übersprudelnden Temperament Vaillant-Couturiers russische Ukase diktieren. Gegenüber „Bonsoir“, das frivole Abendblättchen der Flaneure, in dem die letzte Indiskretion über die Tänzerin Mistinguett, das letzte Telegramm und die letzten Börsenkurse verraten werden. Wenn man in dem Hause gut suchte, fände man bestimmt noch ganz andere Unternehmungen und Gesinnungen. Es ist die Pandorabüchse von Paris. Es ist die elektrische Zentrale, von der aus die Kräfte und die Leidenschaften in Strömen übers ganze Land ausgesandt werden. Vom Keller bis zu den Dachziegeln müssen da Bomben aus den verschiedensten internationalen Explosivstoffen versteckt sein. Vielleicht verbindet sie alle ein- und dieselbe Zündschnur? Wenn es einmal in Frankreich zum Bürgerkrieg kommen sollte (es ist noch weit bis dahin), dann müßte eine kluge Regierung statt aller Maßnahmen den Befehl geben, dies Haus einzuschießen. Die Ruhe im Lande wäre automatisch wiederhergestellt: Eine moderne Lösung des Horatier- und Kuriatierproblems.

Gerade gegenüber, die andere Ecke der Rue du Croissant bildend, steht das Café, in welchem Jaurès am 31. Juli 1914 abends von Raoul Villain hinterrücks erschossen wurde: eine Kugel durch die Fensterscheibe in den Nacken. Jaurès kam gerade von der Humanité, erschöpft von diesem schweren Tag, an dem er zum letztenmal den europäischen Krieg hatte verhindern wollen. Er hatte sich mit der ganzen Wucht seines Körpers und seines Geistes gegen die Lawine gestemmt: und er war ihr erstes Opfer. Heute trägt das Etablissement neben verschiedenen Malereien, die französische Kolonialsoldaten darstellen, eine Inschrift: „Ici Jean Jaurès fut assassiné.“ Aber auch die Nummer 123 der Rue Montmartre, gerade gegenüber, wird einmal eine historische Bedeutung haben. Das Haus, das einmal stattlich war, ist schwarz angelaufen, vermorscht, verpilzt: Ein dunkler mit dereinst dorischen Säulen bestandener Torweg führt auf einen kleinen Lichthof von kaum mehr als drei Quadratmeter Umfang. Es riecht nach Fusel, nach Fett, nach Kloaken, nach Druckerschwärze. Den ganzen Tag brennt die Petroleumlampe in der Conciergenloge, in der es eine bronzene Uhr, chinesische Vasen mit naiven, echten Feldblumen, Photographien, Kalender und ein strahlendes kleines Mädchen gibt: seltsame Insel der bürgerlichen moralischen Reinheit und Ruhe, der familiären und gnadenreichen Gelassenheit. „Le Libertaire, eine Treppe links,“ ruft das Mädchen. Man tappt in einen Höhlenschlund hinein, eine Stiege quält sich aufwärts bis zu zwei engen Türen, die einander ganz gleich sind. An der ersten steht ein Schild: „Cupidon“, ein leckerer, rosiger Amor macht Miene, sich mit einem Pfeil zu durchbohren. Hier wird die satirische amouröse Zeitschrift gemacht, in der alle Laster und Naivitäten einer vergehenden Welt für einen Franken erhältlich sind. Aber die nächste Tür steht weit offen: Grelles Licht, grelle Affichen in einem kleinen Raum, in dem zwei Tische und zwölf junge Menschen herumstehen (zum Sitzen wäre kein Platz), rauchen, lachen und diskutieren. Da ist André Colomer, mit langen schwarzen Locken wie die Bohémiens von 1860, still, leutselig, immer eine Hoffnung im Auge. Da ist mit seiner zarten, fast mädchenhaften Stimme Georges Vidal, der maskierte Poet. Zehn andere sind da, junge Leute, ganz elegant, mit Regenmänteln und modernen Krawatten, und einige Mädchen, rot und schwarz geschminkt und voll starker Gesinnung. Und da ist Germaine Berton, von allen umringt, die Augen dunkelblau gewitternd, den Mund scharf geschnitten und verschlossen wie ein Siegel, das man aufbrechen müßte (um erst in die Geheimkammer der Frau zu gelangen), die Nasenflügel in Stolz und Leidenschaft wie die eines Rennpferdes vibrierend. Sie spricht leise, aber sie befiehlt, sie will. Alle hören ihr interessiert zu, die Jungen machen keine schlechten Witze, es geht um hohe Fragen.

Da ist Germaine Berton, und keiner weiß um ihr Geheimnis. Sie arbeitet nicht, drei Wochen lang lebt sie mit Lecoin, dann wieder irrt sie durch Paris, zwei Wochen ist sie die Freundin Goharys und wieder verschwindet sie wie eine Schwalbe. Keiner weiß von ihr: daß sie eine Erleuchtete ist, eine Art Jungfrau von Domrémy wäre, wenn die Zeit sie brauchte. Aber die Zeit ist daran schuld, ob sich ein Mensch groß oder klein auf sie projiziert. Dies Mädchen mit dem reinen, fast angelischen Aussehen birgt in sich den klarsten Verstand und die dunkelsten Abgründe. Sie ist Hure und Heilige zugleich. Sie ist echt und unecht, kompliziert und naiv, Weibchen und Königin. Sie ist das schillernde, ewige Weibliche. Sie ist Lilie und Nessel.

Bei ihrer Ankunft in Paris war sie zuerst zu einem Onkel gegangen, der ihr eine bürokratische Arbeit in der Compagnie Electro-Chimique verschaffte. Aber Germaines unruhiges Blut läßt sie nirgends verharren. Sie kann nicht arbeiten. Arbeit erscheint ihr immer als Eingriff in die Persönlichkeit, als Erniedrigung. Das Gegenteil von Arbeitsliebe ist aber keineswegs Faulheit. Das allgemeine sklavische Arbeiten für einen gewissen Lohn, der gerade den Lebensunterhalt ermöglicht, ist keine edle Betätigung: aber die Massen fragen auch kaum nach dem Edlen. Ein außergewöhnlicher Mensch wie sie treibt hinaus und weiter. An der Arbeit interessieren sie die sozialen Fragen. Das ist eine große Entdeckung für sie. Mit Heißhunger verschlingt sie die ersten Elemente sozialer Literatur. Inzwischen verläßt sie ihre erste Stelle, tritt bei einem Malermeister ein. Die syndikalistische Bewegung interessiert sie, sie fängt an zu schreiben und wird regelmäßige Mitarbeiterin des „Réveil d’Indre et Loire“. Vom revolutionären Syndikalismus zum Kommunismus ist zu jener Zeit, 1920, nur ein Schritt. Ein Mensch wie die Berton geht aber aus Instinkt, nicht aus technischen Gründen, immer zum Extrem. Immer weiter links, was war da? Der Anarchismus, die völlige Verleugnung des Staates, die Thronerhebung des Individuums, des Ich. Das Milieu der Anarchisten behagt ihr: es geht dort still und einfach zu. Aber eine Art Passivität liegt in ihrem Wesen und in ihrer Doktrin, gegen die sie sich sträubt. Sie lebt mehrere Monate ihr freies Leben mit, in gänzlicher Ungebundenheit. Die Bürger mögen ihr den ersten Stein werfen. Sie ist die Geliebte eines Compagnons und lebt einige Tage mit ihm. Dann verschwindet sie plötzlich, taucht in einem Meeting in der Provinz auf. Wiederum läßt sie sich in einem Hotel Meublé in Montmartre nieder oder wohnt bei einem neuen Freund. Aber das ist kein müßiges Dasein. Allabendlich trifft man sich im Kabarett „Le Grenier de Gringoire“, wo der chansonnier d’Avray seine sentimentalen Lieder singt. Aber zwischen den Liedern ist von strammen Doktrinen die Rede, und Germaine fühlt sich von dieser Philosophie des Wartens bedrückt. Sie will handeln. Sie verfaßt eine kleine Broschüre: „De l’acte individuel à l’acte collectif“, und schlägt langsam einen abseitigen Weg ein von den compagnons. Sie treibt den Anarchismus auf die Spitze: sie zimmert sich selbst eine eigene Theorie zusammen.

 

Eine fixe Idee wird sie nicht los. Sie hat einen Feind. Den allgemeinen Feind der Nation. Sie haßt, wie eine Frau nur hassen kann: sie haßt ganz unlogisch, ganz indirekt, ganz intensiv, sie haßt, daß sie davon krank wird. Später erklärt sie, wie sich das Gefühl langsam in ihr kristallisiert hat. Sie nimmt Haß zu sich wie Kokain. Eines schönen Tages, Mitte Januar 1923, macht sie sich auf, wie auf ein Kommando gehorchend.

Ihr Haß gilt der „Action Française“, dem royalistischen Blatt, das seit Jahr und Tag die größten Zwiste in Frankreich verursacht. Es ist das Organ des Faschismus und der gehässigste Feind des Proletariats. Es wird von den alten vergessenen Adelsgeschlechtern unterhalten, hat aber den unflätigsten und schmutzigsten Stil in der Presse eingeführt. Jeden Tag erfinden seine Redakteure neue Hetz-, Schimpf- und Verleumdungsworte, so daß man, um das Blatt zu lesen, geradezu einen Diktionär herstellen müßte wie einstmals für die Schützengrabensprache. An seiner Spitze stehen Literaten von hohem Rang. Léon Daudet, ein Mitglied der ehrwürdigen Académie Goncourt und als ausgezeichneter Stilist sehr bekannt. Aber er hat eine Reihe Romane geschrieben, deren er sich teilweise schämt und unter diesen „L’Entremetteuse“, den er, nachdem die Kirche den Bann gegen das Buch ausgesprochen hatte, wenige Tage nach Erscheinen wieder einstampfen lassen mußte. Das ist der parlamentarische Herold der Orléans und aller Katholiken Frankreichs. Neben ihm schreibt Charles Maurras täglich die Kritik der politischen Ereignisse mit einer Schärfe, die wie Salmiak wirkt. Dem Leser steigt seine Prosa in die Nase. Dieser Mann begann als der klarste und schwingendste Besinger griechischer Form. Er ging vom Prinzip der intellektuellen Anarchie aus den Weg bis zur Idee, daß das Individuum sich einer höheren Gemeinschaft unterzuordnen habe, aber es ist leider kein geistiges Königtum mehr, dem er sich verschrieben hat!

DAUDET

Zwei angesehene Literaten von hohem Range sind es also, die in der Action Française den Terror der Verleumdung und der Hetzerei verbreiten. Zwei Männer von modernem Geist und Gewissen verfechten diesen Satz, der in der ersten Nummer ihrer Zeitung proklamiert wurde: „Unsere einzige Zukunft ist die Monarchie, die durch Monseigneur le Duc d’Orléans personifiziert wird, den Erben von vierzig Königen, die in tausend Jahren Frankreich schufen. Die Monarchie allein kann das Volkswohl erhalten, die Ordnung einführen und jene Leiden tilgen, die der Antisemitismus und der Nationalismus an den Pranger stellen.“

Die Action Française geht gegen alle vor: Demokraten, Republikaner, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, sie attackiert jegliche Regierung, sie hat auf Clemenceau geschimpft, sie hat den Kopf Briands gefordert, sie hat zur Ermordung Léon Bourgeois, des stillsten und ehrwürdigsten aller Politiker gehetzt, und ihr wird die Schuld an der ruchlosen Erschießung Jean Jaurès von der ganzen öffentlichen Meinung zugeschoben. Mehr: eine Liga der Action Française vereinigt junge Leute der besten Familien zu einem royalistischen Korps, das im richtigen Moment, Italiens Beispiel zufolge, eingreifen soll. Die faschistischen Manöver haben bereits begonnen und die Injektionen von Rizinusöl und Terpentin wurden an namhaften Persönlichkeiten der Linksparteien vorgenommen. Die Liga besitzt ein vollkommenes Waffenmagazin. Sie besitzt auch tagtäglich reingehaltene schwarze Listen, in denen die höchsten Persönlichkeiten der Republik und Offiziere der Armee ihre Rubrik haben. Die Liga der Action Française ist also eine nationale Gefahr. Und hier und da zittert bereits Marianne wirklich vor ihr.

Der Haß der Germaine Berton gilt ihrem Führer Léon Daudet. Sie studiert sein Leben, seine Bücher, seine Familiengeschichte. Er gibt sich für den Sohn des bekannten und zarten Dichters Alphonse Daudet, des Schöpfers von Tartarin de Tarascon, aus, ist aber in Wirklichkeit nur sein Stiefsohn und der uneheliche Sproß eines levantinischen Juden. Er ist bigott. Er hat in der Kammer das frechste Maul, er ist die größte Gefahr für Frankreichs Freiheit.

Germaine Berton wird ihn töten.

Sie hat den individuellen Akt zur Hauptformel ihrer Anarchisten-Philosophie erhoben. Ihre Religion ist in dieser Zeit der Nihilismus im russischen Sinne. Eine Reihe von einzelnen Gewaltakten gegen die Gewaltherrscher ist nach ihrer Meinung nützlicher als jede Massenaktion.

So wird der Mord langsam für sie eine Aufgabe, ein Lebensinhalt. Sie lebt schon mit ihm. Er ist ihr vertraut, sie sieht schon die Grimasse des Dicken, wie er noch einmal arrogant mit seinen kleinen fetten Fingern zum Himmel, in die Leere greifen wird. Oder sich ans Herz greifen wird. Hat er einen Diamantring, der aufblitzen wird? Sie irrt durch die regnerischen Straßen, und überall erscheint er ihr als Phantom. Sie lebt intim mit diesem heranreifenden Kadaver.

Seltsam, daß die Mörder so schwere Umwege machen, wo das Leben doch so einfach läuft. Daudet ist so leicht zu treffen: in der Salle des pasperdus in der Kammer, auf dem Wege zur Redaktion oder beim Déjeuner der Goncourt, wo man sich so leicht unter die Journalisten mischen könnte! Aber das fiebrige Mädchen macht es sich schwer. Sie meldet sich eines Morgens in der Privatwohnung Daudets und läßt ihm einen Brief überreichen: sie habe ihm eine äußerst wichtige Mitteilung über die Anarchisten, zu denen sie gehört habe, zu machen. Daudet studiert Schrift und Stil und spürt heraus, es könne sich nur um einen Überläufer oder um einen Mörder handeln. In beiden Fällen Gefahr. Er empfängt sie nicht, sondern weist sie an die Redaktion der Action Française, an seine beiden Leutnants, Roger Allard und Marius Plateau. Am Nachmittag empfangen diese sie voller Hochmut und Spott. „Man werde übrigens sehen, sie solle ein paar Tage später wiederkommen.“

In Germaine rauscht die Tat und berauscht sie. Sie schwebt wie ein Medium durch die Straßen, in einer Art Trancezustand. Sie muß handeln. Sie hat eine Pflicht, in die sie eingeschlossen ist wie die Nuß in ihre Schale. Sie darf nicht, sie kann nicht mehr warten. Der Revolver wird von selber losgehen. Die Kugeln sind locker im Lauf.

Am nächsten Morgen wird in der Kirche St. Germain l’Auxerrois eine Totenmesse für die wackere Seele Louis XVI. gefeiert. Alljährlich wohnt ihr Daudet mit seinem Gefolge bei. Es ist die bedeutsamste Zeremonie der Royalisten. St. Germain l’Auxerrois: Das letzte Refugium der Könige. Manchmal schauen die Amerikaner im Louvre, von klassischer Kunst mürbe, durch eines der hohen spinnewebenen Fenster sehnsüchtig hinab und erblicken plötzlich die tiefblaue Uhr mit den goldenen Ziffern der Zeit, die wie ein ziselierter Türkis im grauen räudigen Gestein der anmutigen Kirche eingefaßt ist. Eine der Glocken dieser Kirche läutete zur Bartholomäusnacht. Hinter dem Altar befindet sich ein klösterlicher Privatsalon, in dem Marie Antoinette ungesehen dem Gottesdienst beiwohnte. Die Kirchen sind immer der Lieblingsort Germaines gewesen. Schauernd tritt sie in die gotischen Schatten. Doppelt verlockender Ort der Tat: mit einer Kugel zwei Herzen, das des Pilatus und das des Strebers Christus, so sagt sie. Aber sie ist noch ein Kind und kniet an der steinernen Säule. So kniete die Königin, als draußen die Schritte des Volks die Carmagnole skandierten. Hier wird noch einmal über Frankreichs Geschick Gericht gehalten.

Aber Daudet kommt nicht. (Hatte er Furcht?) Die Orgel peitscht umsonst ihr Blut. Umsonst klopft eine harte Stimme in ihrem Herzen. Daudet meldet sich nicht. Voll Verzweiflung weint das Mädchen: Die umstehenden Royalisten stoßen sich an, sie glauben, ein Heißgeliebter werde beklagt. Ein Heißgehaßter! Aber die Tat, die Tat. Gut, wenn es Daudet nicht sein soll – dann ein anderer: Maurras vielleicht? Meinetwegen, da kommt er, von seiner Liga umgeben. Fünf Männer, kompakt, jetzt zehn. Die Türen öffnen ihre Flügel. Der Menschenschwall treibt hinaus. Die Quais entlang hüpfen die grünweißen Elektrischen. Unter dem Pont des Arts fließt die grünschwarze Seine hinaus. Kinder spielen. Alte Fiakergäule reiben die Steine ab. Hier wird sie schießen. Der Trupp geht vorbei. Sie hat nicht geschossen!

Nun brandet das Fieber. Nun tobt es dunkel hinter der Stirn, hinter dem zurückgestrichenen Haar. Ein so nutzloser Mensch zu sein! Paris lebt weiter. Weiter schlagen die Stunden. Das Geschick Frankreichs reift. Dort drüben, über dem Fluß, liegt der dunkle patinierte Justizpalast. Die Bäume rosten. Der Alltag kriecht eklig vorbei.

Sie tritt in ein kleines Café, bestellt eine Menthe à l’eau. Ein erfrischendes Feuer. Sie schreibt schnell einen Brief. Wirft sich ins Tempo der Tat wie ein Schwimmer in reißende Strudel. Der Strom geht aufwärts, abwärts, sie pendelt die Straßen entlang. Zwischen Mittag und eins: das Leben ist ralentiert, das Leben ist trostlos, die Menschen essen alle und der Heroismus ist aus der Welt verschwunden. Plötzlich, wie kommt es, steht sie wieder vor der Redaktion in der Rue de Rome. Es ist noch nicht Zeit. Es kann noch niemand da sein. Aber es treibt sie hinein. Sie soll warten. Sie demütigt sich, sie wartet. Sie fiebert. Kein Ort auf Erden ist öder und erniedrigender als ein Büro zwischen den Arbeitsstunden. Der schale Menschengeruch, das leere Lallen der tauben Telephone, die hoffnungslosen Wände erzeugen die fürchterlichste Langeweile des Lebens. Dies muß die Stunde derer sein, die sich in den Speichern aufhängen. Und die der Mörder.

Endlich wird sie in Plateaus Privatbüro vorgelassen, zu dem ein enger Gang führt wie bei den Mausefallen. Plateau ist der Polizeichef der Royalisten-Liga. Er hat gut zu Mittag gegessen. Er ist gut aufgelegt. Er horcht das Mädchen aus. Warum kommt sie? Sie will Geheimnisse enthüllen? Mit solchen Individuen geht man aufs Ganze. In dem Augenblick, in dem sie gesprochen haben, sind sie ja bereits verloren. Er lacht roh. Was wollen Sie? Aber warum verraten Sie Ihre Freunde? Ach so? Und wieviel Geld wollen Sie haben?

Das ist die Herausforderung zur Tat. Des Mädchens Seele ist ein glühendes Eisen. Die Kugeln kollern in ihrer Tasche in einer wahnwitzigen Karambolage. Dieser Rohling, dieser gesunde Schlächter, dieses logische Schwein ... Germaine steht auf, er will ihr die Türe öffnen ... da geschah es. Mein Gott, es ist so einfach. Eine Masse, eine Mauer fällt um.

Und nun ist es aus. Sie hat eine Mission erfüllt, sie ward erleuchtet und begnadet. Was noch kommt ist Kompromiß. Was interessiert sie die Welt noch. Die Erde ist eine Kugel. Sie dreht sich. Einmal kommen die grünen Frühlingshügel, einmal die grauen Schlackenhügel. Sie hat genug in ihrem Leben Blumen gepflückt. Es gibt doch keinen Gott. Die Menschen sind so roh und feige. Was soll sie noch? Eine zweite Kugel brennt ihr in die Brust hinein ...

 

Einige Tage hat sie im Hospital Beaujon Ruhe. Dann wird sie, da die Wunde schnell ausheilt, ins Gefängnis von Saint-Lazare überführt. Das ist die letzte Bastille französischer Verlotterung, mit den berühmten Bagnos von Cayenne. In den Bas-fonds der französischen Republik, in den verholzten Verwaltungsämtern, in den verschimmelten Räumen vererbter Apparate empfindet man, wieviel Barbarisches, Naives noch in der verfeinertsten aller modernen Zivilisationen steckt. Beinahe etwas Kindisches an Unmenschlichkeit. Etwas Romantisches haftet an allem Dreck. Romantisch ist das Gefängnis Saint-Lazare, nicht nur weil es von den Chansonniers von Montmartre rührselig besungen wird.

Germaine Berton erhält eine Zelle neben jenen, die eine Caillaux, eine Bernain de Ravisi beherbergt haben. Man kann nicht leugnen, daß sie ein ganz klein wenig stolz darauf ist. Sie ist doch oft unangenehm unartig, übermütig, hoffärtig. Aber das ist das Vorrecht aller, die etwas Besonderes leisten, sowohl großer Musiker wie berühmter Heerführer. Wir dürfen keine bürgerliche Elle an sie legen. Man möchte erwarten, daß sie in der Einsamkeit zur Frau wird. Aber sie bleibt nur heroisch. Die außergewöhnlichen Menschen brauchen nicht zu reifen. Sie sind von Anfang an das, was sie sind.

Germaine spielt wie ein Schulmädchen Streiche. Sie amüsiert sich, die Wärterinnen, die Schwestern, den Gefängnisdirektor zu ärgern. Dieser beklagt sich oft bei ihrem Advokaten, umsonst. Es geht so weit, daß die Nonnen sich vor Neugier nicht halten können und unter allerlei Ausreden ihre Zelle öfter besuchen als nötig wäre. Ein stolzes Auftreten intrigiert die Demütigen immer, und erst recht in diesem Gebäude, wo die Menschen schleichen, knirschen und immer kleiner werden. Germaine hingegen wird nur stärker in dieser grauenhaften Einsamkeit. Sie hört und sieht rings um sich den Schmerz der verlorenen Frauen. Die modrige Feuchtigkeit des Gefängnisses ätzt ihre Revolte. Sie vernimmt in der Nacht über sich die Schreie der gebärenden Frauen und sieht am Morgen über den Hof die engen Särgchen hinaustragen. Arme, immer mehr verarmende Menschheit. Aber hat sie je etwas anderes gewollt als diesen helfen? Jetzt vielleicht zum erstenmal wird sie sich bewußt, was sie getan und was zu tun noch bleibt!

In den Gesichtern der Schwestern liest sie nicht Gott, sondern Neid, Geiz, mit dem Grabtuch des Lächelns versteckte Gemeinheit. Was zieht sie an? Eine ist dabei, sie heißt Claudia. Sie hat schwalbenblaue Augen, sie hat eine Stille in ihren Händen, sie hat Sommer in der Stimme. Sie ist jung und scheint doch so müde. Sie sieht nicht aus, als könne man sich an ihre Schulter lehnen, aber im Gegenteil, als hätte sie so das Bedürfnis, hinzuschluchzen! Ihre Pflicht ist’s, der Mörderin den Heiland nahezubringen, und mit allen Kräften versucht es Claudia: sie scheint die Bekehrung Germaines zum Guten wie ein Gelübde erfüllen zu wollen. Aber in Wirklichkeit bedarf sie selber des heiligenden Worts, in Wirklichkeit erscheint Germaine ihr als Botin eines besseren Lebens. Eines Abends setzt sich Schwester Claudia hin und schreibt an Germaine einen Brief erschütternden Leids: sie zweifelt an ihrem Gott! Und ein Wunder geschah in dieser Nacht von Saint-Lazare: Wunder dieser neuen Zeit: eine Braut Christi wird zur Rebellion bekehrt, die Dienerin des egoistischen Gottestums will hinaus, zum Volke reden, ihre Schwestern befreien, Germaine nacheifern! Sie beschließt, ihre Nonnenkleider abzuwerfen und mitten ins heißere Leben der Straße zu fliehen.

 

Brief Schwester Claudias an Germaine Berton:

15. 10. 23, 10 Uhr Abends.

Liebe Germaine,

Sie fragten mich heute Abend, ob ich meinen Geisteszustand in aller Kaltblütigkeit überblickt hätte? Nun: Ja! Und nichts mehr wird mich schwanken machen, verstehen Sie: nichts! ... Im vorigen Jahre kämpfte ich, wie ich es Ihnen schon sagte, aber ich hatte keinen Stützpunkt ... Zuweilen lehnte ich mich erbost auf, wenn ich meine Machtlosigkeit empfand. Wie hätte ich auch in Versammlungen gehen wollen, und reden! Und dann fühlte ich mich wie vernichtet ... Ärmste, sagte ich mir, was kannst denn Du? In diesem Zustand befand ich mich, als ich Sie zum ersten Male sah. Da aber mußten unsere beiden Seelen sich treffen, unsere Herzen einander verstehen, ohne daß es eines Wortes bedurfte! Deuten Sie jetzt meinen Ausruf von neulich: „Nun verstehe ich das Warum meines Lebens!“ Unsere Seelen sollten nicht mehr getrennt werden ... Wie kam es, daß Sie, als Sie keine einzige Schwester in Ihre Zelle hereinließen, mich gerade empfingen? Warum mich eher als jede andere? Und als Sie mir vor einigen Monaten sagen ließen, nicht mehr zu kommen, hätte mein Stolz eine solche Behandlung von keiner anderen ertragen, ich hätte sie mit keinem Blick mehr gewürdigt. Aber zu Ihnen eilte ich im Gegenteil, erinnern Sie sich? Nun, was war das anderes als die Ahnung, daß eines Tages unser Leben und unsere Gedanken sich vereinen würden?

O, Sie werden sehen, ob ich einen „Willen“ habe, und wessen ich fähig bin! Noch wenige Tage, dann auf in den Kampf! Man sagt, daß Vertrauen Vertrauen erwecke: ich fühle, daß ich das Ihre besitze, und das meine wird Ihnen niemals abgehen. Als Kind hatte ich einen stürmischen Charakter. Mit 14 Jahren war ich schon zweimal meinen Eltern entlaufen, da sich mein Wille dem ihrigen nicht beugen konnte. Ermessen Sie also die übermenschliche Kraft, die ich brauchte, um meine rebellische Natur einzuschläfern. Jetzt aber ist meine Kraft verbraucht, ich kann nicht mehr ... Sehr jung trat ich ins Kloster ein, zu jung, und doch war mein Herz nicht mehr ganz frei. Es war zu wild, um gefühllos zu bleiben. Oh, es war kein schuldhaftes Verhältnis! Nie habe ich gesündigt, aber ich habe etwas zerbrechen müssen! ... Und damals schwor ich mir: „Gut, dann will ich mich für eine größere Sache verschwenden und opfern!“ Indes, ich wählte einen falschen Weg; wie oft habe ich es bereut!

Glauben Sie aber, daß die Klosterjahre mir in dem neuen Leben Hindernisse und Schwierigkeiten in den Weg legen werden? Werde ich sie nie verschweigen können? Wenn es nur von mir abhinge, würde es niemand in der Welt außer Ihnen wissen. Alle diese hier niedergelegten Geheimnisse meines Lebens kennen nur Sie (und mein Beichtvater vor neun Jahren). Vor Ihnen habe ich nichts mehr zu verbergen. Haben Sie nicht bemerkt, daß oft unsere Gedanken und Ideen sich trafen, ohne daß wir es wußten? Bitte, reden Sie mich nicht mehr „Schwester“ an. Ich bin’s nicht mehr, weder vor Gott noch vor den meinigen. Ich bin es äußerlich, in Kleid und Bewegung, für wenige Tage noch, aber Herz, Seele und Gefühl sind nicht mehr dabei. Mein Herz schlägt nur noch für das Volk, für das niedergedrückte, das niedre.

Ich wiederhole meinen Anfangssatz: „Ich habe kaltblütig, allein vor mir selber, die Verantwortung und die Leiden des neuen Lebens erwogen, dem ich mich ergeben will, und bin fest dazu entschlossen, nichts kann mich mehr davon abbringen!“

Wie denken Sie darüber? Ich möchte warten, bis Ihr Prozeß beendigt ist, und ich möchte ihm auch so gerne beiwohnen! Aber, wenn es noch lange dauert, möchte ich Sie auch nicht gern im Gefängnis allein lassen ...

Gute Nacht, meine liebe Germaine, auf morgen!

Claudia.

Eine Woche später entfloh die Schwester Claudia aus dem doppelten Gefängnis, das ihr Gott und die Menschen auferlegt. Aber ihr ans Halbdunkel gewöhntes Herz ging irr im grellen Lärm des Lebens. Die Geräusche, die Worte der Menschen taten ihr weh. Die Kameraden, zu denen Germaine sie geschickt, waren kalt, ja ablehnend zu ihr. Wie, wovon sollte sie leben? Claudia fand keinen anderen Weg als zu ihrem Schwager, der sie aus Angst vor einem Skandal in die Gefangenschaft zurückschickte. Bald darauf wurde sie wieder in einem strengen Kloster in der Provinz eingesperrt.

Aber es war ein großer Triumph für Germaine, und ihrer Tat kann man nur den Fanatismus mittelalterlicher Christen an die Seite stellen. Seinen Gefängniswärter bekehren, das gelang einem Thomas Münzer. Das gelang Germaine Berton. Und wie sie das Schicksal der Irrgegangenen erfährt, ruft sie dies wunderbare Blasphem aus:

„Nun will ich mit dir um sie kämpfen, Jesus!“

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