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Vor die Geschworenen tritt eine zarte kleine Midinette und setzt sich so einfach in die Anklagebank, als wär’s ein Autobus, der sie bald, und auf dem raschesten Wege, zu den Compagnons zurückfahren wird. So einfach die Geste, mit der sie das herbstüberschüttete Mäntelchen ablegt, das kurz geschnittene schwarze Haar unter dem unscheinbaren Hut befreit, als schüttle ein Vogel seine Federn, und endlich aus dem Handsäckchen Spiegel, Puderquaste und Rotstift hervorzaubert, mit deren Hilfe sie das angelische Porträt einer modernen Revolutionärin zum letztenmal nachtuscht. Die Arkaden der Augenbrauen werden um einen Millimeter erhöht, die Blässe des Gesichts um einen Purpurschatten unterstrichen und die Erdbeere des Mundes julireif. Und nun sitzt sie da, artig, wie ein Pensionsmädchen, mit einem weißen runden Kragen und einem breiten Lavallièreschlips über dem grauen, eng anliegenden Kleidchen.

GERMAINE BERTON
während des Plaidoyers ihres Verteidigers

Sie sitzt da, ruhig, mit dem Glauben an sich, und der stürmische Schwurgerichtssaal brandet zu ihren Füßen. Dies kleine Mädchen hat eine Stirn, die man mit Elfenbein vergleicht, nicht weil sie weiß ist, sondern so hart. Aus diesen roten leidenschaftlichen Lippen brechen kalte, metallene Worte. Sie spricht gemessen und überzeugt. Jede Aussage ist in eine feste Form gegossen. Sie schwindelt nicht mit Gefühlen. Sie schindet nie Mitleid. Sie hat nichts aus ihrem Leben zurückzunehmen. Sie steht für ihre Fehler ein und vertuscht keine Linie der Zeichnung.

Ja, sie hat schon mehrmals mit der Polizei zu tun gehabt. Im November 1921 bekam sie drei Monate Gefängnis, weil sie auf dem Kommissariat einem Sekretär, der ihr ihre Papiere nicht zurückgeben wollte, eine Ohrfeige gab. Einige Monate später wird sie mit einer Einbrecherbande festgenommen, aber nicht für ein Delikt, sondern nur wegen verbotenen Waffentragens bestraft. Sie hat an aufrührerischen Meetings teilgenommen und einmal bei einer Manifestation der kommunistischen Jugend in Pré St. Gervais eine regelrechte Schlacht mit der Polizei ausgefochten, wobei sie einen Säbelhieb am Kopf davontrug. Sie nimmt nichts zurück.

Ja, sie hat gearbeitet und sie hat auch gehungert, sie hat Geld und Brot verdient und erpreßt, denn sie verachtet das alles im Hinblick auf das letzte Ideal: „Freiheit“. Sie nimmt nichts zurück.

Ja, sie hat im Namen der Petites Sœurs des Pauvres Armengelder erbettelt und unterschlagen.

Der Präsident gibt in einer einzigen Frage drei passionierte Romane:

„Am 13. Dezember wohnten Sie in der Rue Lécuyer, bei Gohary, genannt Harmant. Sie verließen ihn und verbrachten einige Tage bei Charles d’Aoray. Dann lebten Sie zwei Tage mit Boucher zusammen, der sich Rondel nennt. Aber wir wissen nicht, wo Sie die Nächte vom 31. Dezember bis zum 22. Januar gewohnt haben!“

Germaine leugnet nichts: „Auch wenn Sie es wüßten, das würde niemand kompromittieren.“

Ja, sie hat viele revolutionäre Hetzartikel im „Réveil de Tours“ geschrieben. Und einmal die Republik „als eine Hure mit blutbesudeltem Maul“ und Frankreich „als eine Rabenmutter, die ihre Kinder auf die Schlachtfelder krepieren schickte“ beschimpft. Sie nimmt es nicht zurück. Jedesmal, wenn sich die Gelegenheit bietet, bekundet sie ihren Haß gegen den Krieg.

„Krieg! ... welch verhaltenen Schmerz erweckte dieses Wort in mir! Furchtbare Erinnerung! 1914, noch ein Kind, sah ich das 66. Infanterie-Regiment mit blumengeschmücktem Bajonett ausziehen! Wenige Wochen drauf blieb nichts davon übrig ... Ich sah dann die Helden in den Bahnhöfen am Boden siechen, ich sah sie stumpf, irrsinnig, von Kot und Läusen bedeckt, auf den Bänken des Rathausplatzes in Tours herumlungern, während zehn Schritte weiter die geschniegelten Offiziere in blitzenden Uniformen gemeinsam mit Weibern den Sekt vergossen! Ich sah in den Spitälern die Vergasten, die ihre Lungen herausspuckten, die Erblindeten, die umsonst noch die Augen aufsperrten, die mit den zerschossenen Schädeln, und auf den Promenaden weinte ich, wenn man die Tapferen wie Greise in kleinen Wägelchen vorbeischob ... Wer das erlebt hat und befürchten muß, daß es noch einmal möglich werden könnte, durch die Schuld der Hetzer, der müßte von allen Gefühlen verlassen oder ein Feigling sein, um sich nicht dagegen zu revoltieren!

Und ich habe mich revoltiert! Da kam mir, angesichts der fünfzehnhunderttausend Toten Frankreichs, der Gedanke, den aus der Welt zu schaffen, der den Militarismus noch immer zu preisen wagte, den schlimmsten Feind des Volkes und der Republik, den Abenteurer Léon Daudet ...“

Ja, sie hat einen Royalisten ermordet, weil die Führer der Action Française nicht nur zum Bürgerkrieg hetzten, sondern auch von einem äußeren Krieg, und vor allem von einer Niederlage Frankreichs, einen nützlichen Ausgangspunkt zur Einsetzung eines neuen Königtums erwarteten. – Sie nimmt es nicht zurück.

Sie antwortet mit den Argumenten einer festen Gesinnung. Sie scheut nicht einen Augenblick den Kampf. Sie verteidigt sich nicht, sie klagt an. Sie hat nach erfolgter Tat sterben wollen. Sie fürchtet nicht den Tod. Sie hat im Gegenteil einen krankhaften Hang zum Tod. Aber nun steht sie da, um die vollbrachte Tat mit den nötigen Beweisen zu unterstützen. Sie geht selbst zum Angriff vor. Sie erhebt sich zur Anklägerin und zur Rächerin. Und hier erhöht sich der Prozeß zum Symbol. Der ganze Konflikt eines Volkes und einer Epoche wird hier ausgefochten. Es handelt sich nicht nur um eine Mörderin und eine Leiche: es handelt sich um den Kampf der eingeborenen Freiheitsliebe der Franzosen gegen den Diktaturwillen einer kleinen übermütigen Faschistenbande.

Auf die Frage des Präsidenten Pressard: „Was hatte Ihnen Marius Plateau getan?“ springt sie in der Anklagebank auf: „Mir persönlich nichts! Aber all denen, die heute im Bagno siechen, weil sie sich gegen den Krieg auflehnten! All denen, die als Opfer seiner schmählichen Verleumdungen standrechtlich erschossen wurden! All denen, die sich gegen die aufbrechende Reaktion stemmen wollten! Mein Gewissen befahl mir die Tat!“

„Immerhin, Sie haben einen Menschen ermordet. Bedauern Sie es?“ fragt der Präsident.

„Es fiel mir nicht leicht, ein menschliches, denkendes Wesen aus der Welt zu schaffen. Und doch bereue ich nichts, weil ich mich am 22. Januar für etwas mehr als eine gewöhnliche Mörderin fühlte, nämlich als die Rächerin aller Opfer der Action Française. Mein Gewissen hat es mir diktiert. Und da ich mir bewußt war, für das Wohl des Volkes zu handeln, wie sollte ich jetzt bereuen? Es wäre widersinnig ...“

„Ein Murmeln ging durch den Saal“, berichtet die Presse. Die Zeitungen nennen sie gefühllos. Doch konnte man von einer Anarchistin eine schönere Antwort verlangen? Die Silhouette einer großen, in unserem Zeitalter ungewöhnlichen Figur begann sich abzuheben. Die Atmosphäre wurde gespannter. Langsam glitt der ganze Prozeß, wie alles in Frankreich, ins Politische hinüber. Und sofort, wo das Volk eingreift, spielt eine gewisse Sentimentalität mit, die das kalte Gesetz, die kalte Logik abschwächt. Das französische Volk liebt das Pathos, das Theater, die Tränen. Die Frauen werden von den Schwurgerichten freigesprochen, weil die Liebe immer ein Melodram ist.

TORRÈS

Der Verteidiger, Henry Torrès, wußte was er tat, als er als Entlastungszeugen die namhaftesten Vertreter der Linksparteien, des Pazifismus, der Liga für Menschenrechte, der literarischen Fronde vor die Schranken rief, alle, die den hundertpulsigen Herzschlag des Pariser Volkes kennen und fühlen. Und so wurden in diesem Prozeß nicht die Anklageschrift, nicht die Aussagen während der Untersuchungshaft, nicht die Plaidoyers, nicht einmal die Stimme des Präsidenten maßgebend, sondern die flammenden Reden der Zeugen, die alle mit der Wärme des Herzens für ein mutiges Mädchen eintraten. Es ward ein Défilé sämtlicher Persönlichkeiten, die das politische und demagogische Frankreich darstellen, und da auch die gesammelten Mannschaften der Action Française die Ankläger spielten, trafen sich zum erstenmal Rechts und Links, die Reaktion und die Revolution vor diesem Tribunal, als ob nicht mehr über den Mord eines Menschen, sondern über ihre Ideen gerichtet werden würde. Und tatsächlich wurde auch das Urteil als Sieg für die eine oder die andere Partei bewertet.

 

Die Rechtspartei:

Léon Daudet, der Zuhälter der Republik: er läßt die anderen mit ihr schlafen und sie ist ihm gerade gut genug, um sich später von ihrem Bett aus auf die Stiegen eines morschen Thrones zu hissen. Er ist das, was alle Karikaturisten immer wieder aus ihm gemacht haben: ein Clown: aber ein böser und gefährlicher. Er spielt die erste Rolle in diesem Prozeß. Er ist der lebende Leichnam. Auf seiner Person baut sich die ganze Verteidigung auf. Wenn Germaine Berton gefragt wird, ob sie bereut, antwortet sie: „Ich bereue nicht, Plateau erschossen zu haben, aber ich bereue, nicht Daudet ermordet zu haben.“

Es handelt sich um ein Komma, das sie den Kopf kosten wird oder nicht. Aber sie ist mutig. Sie tanzt auf diesem Komma Seil.

Ihre Defensivstellung besteht darin, daß sie sagt:

„Ich wollte Daudet töten (aber ich habe es ja nicht getan). Ich habe die Opfer der Action Française gerächt (aber ich wollte platonisch töten).“

Herr Daudet trägt als Zeuge eine ganz andere Maske denn als Deputierter oder Zeitungsdirektor. Er benimmt sich still und bescheiden, wie ihn noch nie ein Pariser gesehen und gehört hat. Kein einziger Fluch, kein einziges Giftwort kommt über seine Lippen. Er enttäuscht. Und Germaine Berton ist es, die ihrerseits offensiv gegen ihn vorgehen muß. Schon hat er seine Aussage beendet und will sich unter dem Schutz seiner Truppen zurückziehen, da hält ihn die Angeklagte zurück und schreit ihm zu:

Herr Léon Daudet, ich habe Sie töten wollen, weil Sie für den Mord an Jaurès verantwortlich sind! Sie haben ihn umgebracht. Wir haben Jaurès geliebt, selbst wir Anarchisten. Jaurès bedeutete für uns ein Symbol, die Seele des edlen Frankreichs. Ich erinnere mich, ihn einmal in Tours gehört zu haben. Damals war ich noch sehr jung, aber unsere Verehrung für diesen Mann war so tief, daß wir in seinen Vortrag gingen wie zur Kirche. Sie haben ihn uns getötet. Und deshalb will ich heute auf die doppelte Frage, die mir gestern gestellt wurde, antworten: Herr Daudet, ich bereue bitter, nicht Sie statt Marius Plateau niedergeschossen zu haben!“

Und nun hat plötzlich ein neuer Verteidiger im Saal Platz genommen, ein unsichtbarer, aber noch mächtigerer und gewaltigerer als Torrès: er schwebt neben dem Christusbild hinter dem Präsidenten. Es ist ein dicker genereuser Mann, er hat die eine Hand erhoben, sein Bart ist versilbert, seine leuchtenden Blicke reißen das Licht der fahlen Fenster an sich, und durch das schwarze bürgerliche Jackett leuchtet ein rotes Herz: das ist der Tribun, der aus dem Kosmos herniederschwebt und seine Rächerin in seinen heiligen Schutz nimmt.

„Im Namen Jaurès!“ werden jetzt alle Zeugen schwören.

Und in diesem Augenblick erfährt Léon Daudet die zweitgrößte Sühne seines Lebens. Er wird von einem kleinen Mädchen vor versammeltem Volke von Paris mit den Worten der Wahrheit und der Freiheit einfach hingerichtet. Er rührt sich nicht. Er duckt sich hinter seinem feisten Leib. Er geht unsicher ab.

Zweitgrößte Sühne: die größte nicht! Die hat er schon gebüßt. Die Gerechtigkeit des Schicksals ist weit größer und erstaunlicher als die menschliche. Hier spielen antike Kräfte, die Götter selbst, mit.

Denn es ist kaum einen Monat her, daß sein fünfzehnjähriger Sohn Philipp sich erschoß, daß das Verblüffendste sich ereignen konnte, was ein Shakespeare zum Aufbau eines Dramas nicht zu erfinden gewagt hätte. Es ereignete sich das, was wie ein Film der Erinnerung hinter den augenblicklichen Begebnissen durchschimmert, und hier als solcher eingefügt sein möge.

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