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Doch heute wird Philippe, knapp einen Monat vor Germaines Prozeß, zum Märtyrer der Anarchie, der er fehlte. Einer aus dem Hause Daudet! (Shakespeare.) Schleier der Melancholie weben um die Wirklichkeit, die sich in wenigen Jahren zum zartesten Märchen verdichten wird. Unser Jahrhundert, wie einst die große Antike, schafft sich ihre eigne Mythologie. Für den blutigen Verleumder der Guten zahlt ein bis zur Verzweiflung niedergeduckter Vater.

Germaine liebt diesen Philippe. Er ist ihr Bruder im Leid geworden. Sie zeichnet im Gefängnis sein Bild. Er ist der Bräutigam ihrer Einsamkeit, der fünfzehnjährige Gast ihrer Gesinnung. Und: er wird keiner menschlichen Schwäche mehr anheimfallen, er ist heilig, weil er tot ist. Am letzten Tage vor ihrem Urteilsspruch, der ein schrecklicher, langer Sonntag ist, hält sie Philippes Photographie wie ihren einzigen Talisman in Händen, drückt sie an die Lippen und murmelt: „Schütze du mich gegen deinen Vater, frühgefallener Märtyrer du!“

Ein Jahr später, wenn sie der neuerlangten Freiheit unter den billigen Menschen schon wieder müde ist, sie, die nur im Kampf und im Schmerz Selige, wird sie zur Nonne seines Gedächtnisses. Sie trägt das Bild des Knaben mit sich. Sie herzt ihn im Traum. Und sie bildet es sich so fest ein, daß sie es nun glaubt, seine Braut gewesen zu sein. Es gibt wieder Nonnen und Heilige, oh, ihr tauben Schieber dieser Zeit! Am 1. November 1924 wird Germaine Berton bewußtlos in der kleinen Kirche Notre Dame de Lourdes aufgefunden. Es ist Allerseelen: der graue Tag, an dem die Bürger in den Friedhöfen ihrer Dummheit spazieren laufen. Der Tag ohne Musik, an dem der Selbstmord einzige Freiheit. Von Kirche zu Kirche, von Kapelle zu Kapelle ist Germaine den ganzen Nebeltag geirrt, um einen Gott, Trost und Ruhe zu suchen, sie ist hingekniet vor vielen lächelnden und wurmstichigen Marien, sie hat ihre Kleider mit dem faden Parfüm des Weihrauchs durchtränkt und gebetet. Und im grauen Friedhof Père-Lachaise, in dem die Toten hart auf Stein liegen, nicht weich an der Erde Brust, unter den Nebelbäumen hat sie gestanden an Philippes Grab und hat gemeint sterben zu müssen vor Leid und Ekstase.

Und dies alles war kein Irrwandel: der Glaube war wirklicher als die Realität. Sie schrieb einen Brief an Philippes Mutter, an die Mutter, in dem sie ihr mitteilte, sie sterbe aus Gram an Philippes Tode ... Sie empfinde keine Schuld dafür, daß sie den Jungen in ihren Armen gehalten und geliebt habe ... „Verzeihen Sie mir, Madame, denn wenn Philippe für mich gestorben ist, gebe ich mir heute den Tod für ihn.“

Man fand sie bewußtlos auf den Dielen der Kirche. Unweit von ihr lag ein korsisches Messer. Aber sie hatte sich nichts angetan. Man führte sie ins Krankenhaus, ohne zu entdecken, um wen es sich handelte ... Sie hatte ihren Tod tief erlebt. Aber sie starb nicht daran.

 

Dann die Linkspartei: Nun kommen die wahren Männer der Republik, und ihr einziges Ziel ist, aus dieser Affäre Berton eine Revision des Jaurès-Prozesses zu machen. Jaurès ist das Stichwort. Jaurès ist die Klage, mittels deren die ganze Anklage immun wird.

Publizisten, Advokaten, Schriftsteller, Abgeordnete, Generäle, Minister treten mit erhobener Hand vor und nehmen die Angeklagte vor der Justiz, vor der Weltgeschichte und vor ihr selber in Schutz. Die bekanntesten Gesichter des echten, des ewigen Paris treten auf und geben der Welt eine voltairische Lektion. Es quellen die pathetischen Worte aus ihrem Munde, wie man sie aus der Zeit Victor Hugos und Zolas kennt, aber mit dem Klang des vollen Herzens. Kommt es ihnen auf die Wahrheit oder auf den Geist an? Ein Mädchen sitzt da, eine Vision Frankreichs, das gilt es zu retten.

Jaurès! Jaurès! klingt es durch den Saal, öfter wie Berton! Berton! Der Nationalheld ist erschossen worden und sein Mörder Villain freigesprochen. Das ist die These. Und da stehen sie, die Freunde, die Mitarbeiter, die Jünger Jaurès, und fordern ein republikanisches Urteil. Es ist nur noch ein politischer Prozeß. Die Daudet-Leute werden mit ihren eigenen Explosivstoffen gesprengt. Sie haben den Gewaltakt gepredigt und haben den Gewaltakt in ihrem eigenen Blut erfahren. Sie haben sich nicht zu beklagen: „Wer durch das Schwert gesündigt hat, wird durch das Schwert umkommen ...“

Jaurès! ruft der Sozialistenführer Léon Blum, dessen zugetanster Freund, und erinnert, daß die Witwe und die Freunde des Tribunen die Gnade seines Mörders verlangt haben, denn Rache heische nur Rache, und Jaurès selber hätte nie zugegeben, daß sein Leben mit einem anderen bezahlt würde. „Unsere einzige Rache an Villain sollte sein, daß er seine Tollheit einsähe und daß sein Gewissen ihn zerfräße.“ Und in der Tat hat sich dieser nach seiner Freisprechung nicht selber das Leben genommen?

„Jaurès!“ ruft Jean Longuet, tränenerstickt: „mit ihm unternahm ich die letzte Brüsseler Fahrt, wo der letzte Versuch gemacht wurde, den europäischen Frieden zu retten. Ich warnte Jaurès davor, sich in dasselbe Restaurant zu setzen, in dem Daudet und Maurras verkehrten. Hatte nicht letzterer acht Tage zuvor in der „Action Française“ öffentlich den Tod des Tribunen provoziert, indem er schrieb: ‚Gegen diese moralische Fäulnis kann nur das Eisen noch helfen!‘ Und wirklich, unser Freund erlag.“

„Jaurès!“ ruft Marcel Cachin, der Chef der Kommunisten und erinnert, wie oft den edlen „Camelots du roi“ seine eigene Ermordung aufgetragen wurde, unter denen sich aber kein Charakter fand wie die Germaine Berton.

„Jaurès!“ ruft der sanfte Georges Pioch, der dicke Mann, der die Güte selbst personifiziert, der auf allen Meetings, allen Gedenkfeiern und allen Faubourgs und Vorstädten eine lächelnde Revolution predigt.

Und da kommen die altgedienten Republikaner alle, die im Dienst für Frieden und Menschenrecht graugewordenen Intellektuellen, die alle seit mehr als zwanzig Jahren den blutheischenden Zorn Daudets und seiner Königsclique ertragen.

Da ist der zweiundachtzigjährige Ferdinand Buisson, der Präsident der Liga für Menschenrechte, und sein zweites Wort ist „Jaurès!“

Da ist der Theoretiker der anarchistischen Lehre und Shaw-Übersetzer Augustin Hamon, da ist Urbain Gohier, den seit dem Dreyfus-Prozeß die Royalisten aus tiefstem antisemitischem Haß durch Verleumdung und Lüge aus dem Weg zu räumen suchten: „Hätte ich zwei Pistolen in der Tasche gehabt und die „Action Française“ gesäubert, ich wäre bestimmt freigesprochen worden,“ sagt er. Da ist Ernest Judet, der frühere Herausgeber des „Eclair“, soeben erst aus sechsjähriger Verbannung in der Schweiz heimgekehrt – lauter alte Männer, und alle bedauern nur, den Mut der Germaine Berton nicht aufgebracht zu haben.

Da sind der Exminister Violette, der Caillaux-Verteidiger Marius Moutet, der bekannte Pazifist Marc Sangnier, die ersten Opfer der faschistischen Gewaltakte der Action Française, die eines Abends, als sie sich in eine Versammlung der Salle des Sociétés Savantes begeben wollten, mit Knüppeln von der Daudetbande traktiert wurden.

Da ist der Hauptmann Fontanie und beichtet: „Als ich von der Tat der Berton hörte, war ich tief geknickt, weil ich mich oftmals während des Krieges selber gefragt hatte, ob ich Léon Daudet nicht erschießen müßte. Wir sollten republikanische Propagandaschriften in die deutschen Schützengräben schmuggeln, aber währenddessen bereiteten andere in Paris die Monarchie vor. Ich habe Daudet nicht getötet, weil ich aus ihm keinen Märtyrer machen wollte, aber daß die Berton es getan, verstehe ich vollkommen.“

Da ist sogar der Kriegsminister Lefèvre, dessen Objektivität einer Verteidigung Germaines gleichkommt (denn alle hielten ihn für einen Helfershelfer Daudets). Da ist der General Sarrail, der Verteidiger von Saloniki, und ruft seinerseits „Jaurès!“

Und da ist Pierre Hamp, der sozial-lyrische Dichter der Arbeit, der in einer großen Fuge „La Peine des hommes“ die Schönheit und die Schrecklichkeit der alltäglichen Fron schildert, einem Werk, das den Naturalismus Zolas auf statistischer Basis ausbaut und die Technik des Jahrhunderts mit Menschlichkeit anfüllt. Hamp entrückt das Bild Germaines in die Geschichte und vergleicht sie mit Charlotte Corday, der sie über hundertdreißig Jahre Distanz die schwesterliche Hand reichen darf. Die passionierte Corday hatte Plutarch und Rousseau gelesen und handelte für das republikanische Ideal. Germaine Berton hatte Zola und Tolstoi gelesen und tötete im Namen des Proletariats. Zwei parallele Taten: beide erschlagen das Monstrum, das ihnen als Symbol für die Qualen ihrer Zeit erscheint: Marat und Léon Daudet. Marat war zu seiner Zeit sehr beliebt und doch ereignete es sich, daß sich sein Gesicht im Abstand der Zeit in eine Fratze verwandelte, während sich die Gestalt der Charlotte Corday vergeistigte. Dichter wie André Chénier besangen sie und Lamartine nannte sie „L’ange de l’assassinat“. Welche Hymnen werden noch auf Germaine Berton geschrieben werden?

Und von diesem Dichter Pierre Hamp liest dann der Verteidiger einen blendenden Essay über Germaine vor, in welchem die Kategorien der Mörder mit neuen und klaren Ideen belichtet werden. Hamp dreht den Spieß um, und gibt der „Action Française“ die moralische Schuld an Plateaus Tode:

„Der Anschlag auf ein Menschenleben ist unverzeihlich. Schlagen ist dumm. Nichts widerspricht dem adligen Denken mehr als die Theorie der Action Française: ‚Denkst du nicht so wie ich, so erschlage ich dich!‘ Der Unterschied zwischen der Action Française und der Anarchie ist der, daß letztere kein Gesetz anerkennt, sich außerhalb ihrer Grenzen befindet und nur nach ihrer eigenen Moral und Rechtsanschauung lebt; hingegen geht das dogmatische Institut der Action Française darauf aus, uns mit Gewalt ihre Moral und ihre Gesetze aufzuzwingen. Sie besitzt eine Gendarmerie, ein Tribunal, Spitzel und Teeranstreicher für sich.

Die Tat der Germaine Berton entspricht nur den Forderungen der Action Française; aber für ein solches Attentat sind alle Indifferenten verantwortlich; sie ist der Ausfluß der öffentlichen Empörung, bei diesem Kind eine Geste des Edelmuts und des leidenschaftlichen Interesses am Gemeinwohl.

Unter den Verbrechern, die nach dem Leben anderer trachten, gibt es erstens diejenigen, die vor allem sich deren Güter aneignen wollen. Dann die aus Leidenschaft, Eifersucht oder Liebe handeln. Auch hier ein materieller Beweggrund. Endlich aber gibt es Opfer-Verbrecher, die keinen Vorteil für sich selbst suchen, sondern ihr Leben für das Allgemeinwohl aufs Spiel setzen. Zu diesen gehören die politischen Attentäter. Die politische Tat entspringt immer einem Kollektivwillen: einer Majorität wie bei Wilhelm Tell, einer Minorität, wie bei Ravaillac, aber nie dem Individuum allein, das es vollbringt. Dafür gibt es kein Beispiel. Hinter Ravaillac stand die katholische Kirche; hinter Charlotte Corday die Gironde; hinter Raoul Villain die Action Française; und hinter Germaine Berton? Sie zwar sagte: ‚Ich habe allein den Willen zum Mord gehabt!‘ aber sie hat nicht allein den Gedanken daran gehabt. Die Republik ist für das Treiben der Action Française zu nachsichtig gewesen. Léon Daudet ist zwar ein großer Literat, aber auch ein großer Halunke, und wir alle sind für Germaine Bertons Tat verantwortlich. Sie hat uns endlich ein Beispiel bürgerlichen Mutes gegeben! Eine Waise aus den Reihen der Anarchie hat sich für das Proletariat geopfert ...“

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