Epilog.

Weltgeschichte: lächelnde Sphinx. Ein Lächeln von Stein! Die Vergangenheit allein hat Bestand. Die Legenden sind wahr.

Die Tat der Germaine Berton ist bereits Legende. Aber sie selber lebt noch: und das Leben ist gestaltlos wie das fließende Wasser.

Die Tat ist geschehen: die Welt aber nicht besser geworden, Frankreich nicht glücklicher, die Freiheit nicht wirklicher. Wozu dann?

Freiheit? Nur die Toten sind frei! Deshalb verlockte sie das Los der Toten. Ist sie denn am Allerseelentag nicht gestorben? Sie hat ihren Tod so stark erlebt! Wohl stärker als den wirklichen!

Nun ist sie beinahe beruhigt. Und plötzlich akzeptiert sie die wissende, die unvermeidliche Erde. Ihre politische Laufbahn ist irgendwie abgeschlossen. Die Vergangenheit ist zwar da: aber wie eine Statue gewordene Form des Lebens. Nun entdeckte Germaine ein neues Reich: das des Geistes und der Liebe. Hier vielleicht ist eine höhere Freiheit zu finden, als in der brutalen, unnützlichen, irdischen Tat?

Sie schreibt am 10. November 1924 diesen Brief:

„Ihren lieben Brief[1] erhalte ich jetzt erst ... Wie gütig von Ihnen, Madame, Ihre Anteilnahme rührt mich. Aber ... trotz allem bleibt meine Seele voll von jener Vergangenheit, die mit meinem ganzen Wesen Eins ist und die ich nicht mehr aus mir zu reißen vermöchte; zuweilen dachte ich, es zu können, indem ich einige Fetzen lebenden Fleisches mit herunterriß ... aber wie ein Krebs kam es wieder.

[1] Dieser Brief ist im Original als Anhang faksimiliert wiedergegeben.

Dennoch habe ich unrecht gehabt, ich gebe es Ihnen gern zu, eine Zuflucht im Grabe zu suchen. Ich hätte wissen sollen, daß das Leben ewig triumphiert, und daß der Sarg keineswegs das letzte Lager ist, in welchem man – ‚auf ewig‘ – seine müden Glieder und sein priesterliches Herz ausstrecken darf!

Dies alles erscheint mir ach! sehr grausam und unerbittlich. Es ist so süß, zuweilen von einer vollständigen Auflösung zu träumen, und Sie werden mich nach folgenden Zeilen besser verstehen.

Ich glaube an Gott, obwohl ich keine Christin bin ... Ich habe mich immer danach gesehnt, Schmerzen lindern und so heiß lieben zu können, daß meiner Liebe Glut andere erfreuen und den Haß schmelzen würde – Das aber habe ich hienieden nicht fertiggebracht, und im Gegenteil Samen ins Feld des Hasses gestreut ...

Ich träumte auch davon, über den Tod hinaus lieben zu können; aber ich sah ein, daß ich selbst als der Engel des Lichtes bei dem großen ‚Irdischen Lamento‘ erbeben würde, und ihm selbst da noch nicht Halt gebieten könnte ...

Wenn Sie wüßten, wie schrecklich diese Einsicht ist: ‚Ich bin ohnmächtig!‘ Wenn Sie wüßten, wie dieser Gedanke mich auf den Tod unglücklich macht! Und ist das nicht übrigens auch Jesus’ furchtbarste Qual gewesen, als er am Kreuz aus dem Herzen und den vier Gliedmaßen blutete? ...

Wie soll man noch glücklich leben, wenn man weiß, daß selbst ein Gott unfähig ist, seine Liebe auf alle zu übertragen, daß es am Ende der Jahrhunderte doch noch eine Hölle und Verdammte geben wird!

Wie soll man noch einfach dahinleben, wenn man weiß, daß es trotz des Opfers immer noch verlorene Seelen geben wird? – Und daß die Erlösung keine vollständige sein wird!

Wie sollen wir am Erlösungsdurst nicht untergehen, der ewig unstillbar ist, wo doch ein Gott selber daran verdarb! Wie kann auch dieser Gott mich in meiner Schwäche stützen? Lieben kann ich ihn, in Wahrheit, aber aus meiner Liebe kann nur eine tiefe Melancholie und ein großes Mitleid mit diesem Ohnmächtigen erwachsen, der in 20 Jahrhunderten das angefangene Werk von Gethsemane nicht vollenden konnte – es nie vollenden wird!

So sind wir Menschen die ewig Betrübten, wir weinen über unseren Gott und unser irdisches Ideal! Ach! –

Schreiben Sie mir.“

Was geht in Germaine vor? Eine neue Krise, ein neues Verlangen nach Läuterung. Aber diesmal von innen heraus. Was mit politischem Skandal, was mit allen modernen Trompeten der Welt, was mit Blut, Tod, Gericht nicht erreichbar war (ein Mädchen von 20 Jahren konnte diesem irdischen Tumult gewiß eine Bedeutung zuschreiben, wo die Millionen der Lebenden bis zu ihrem Tod den Zustand als wertgültig hinnehmen!), das versucht nun die durch die Flamme heil Emporgegangene mit dem Gegenteil, mit der Liebe, mit der Einkehr, mit einem neuen Glauben zu erreichen. Auf diesen Glauben kommt es an! Nur in diesem Glauben liegt die wahre Freiheit geborgen.

Germaine Berton hat alle politischen Formen verbraucht. Sie wirft die menschlich-irdischen Möglichkeiten zum alten Eisen. Sie richtet jetzt die Frage an die Religionen, an alle Götter. Alle interessieren sie. Sie tastet und sucht. Wo liegt das Unfindbare? Christentum, Buddhismus, Rosenkreuz, Spiritismus: das zweiundzwanzigjährige Mädchen richtet die eine naive, immer dieselbe Frage an die Galerie der Götter. –

Wird eine Antwort ihr entgegenschallen? Vielleicht hört sie Stimmen? In dieser selben Geistesverfassung befand sich die heilige Jungfrau von Arc. Germaine Berton ist gewappnet. Sie hat einen Glauben. Sie bereitet sich vor. Sie weiß von sich. Sie fühlt sich getragen. Sie ist das vollkommenste Abbild der „Freiheit“. Sie hat Geduld und Ehrgeiz, diese Attribute des Genius. Sie erwartet die wahre Revolution.

Wie groß sie noch wird, hängt von der Zeit ab, deren Form der Einzelne spiegelt.

Germaine glaubt.

Wir glauben an sie.

Dezember 1924.

Gesegnet sei Frankreich, daß es neben den Opferfreudigen auch die milden, die geduldigen Frauen besitzt! Séverine ist das Symbol der allseits mütterlichen Güte. Eine Heilige der Republik. Eine Frau, die seit fünfzig Jahren mitten in den sozialistischen Reihen steht und ihre ganze Existenz dem Volk gewidmet hat. Heute trägt sie einen Silberkopf, zwei unverwelkte Veilchen in den Augen und das unsagbare Lächeln, geheimnisvoll und rein, wie die Entsagenden. Sie tritt vor die Schranke und lächelt, und schon ist Germaine gerettet. Sie faltet die Hände, wie die stillen Damen es zu tun pflegen, und ein Wunder geschieht. Der Saal, eben noch ein stürmisch aufgeworfenes Meer, ruht wie von Öl begossen. Sie spricht nicht, sie singt. Sie singt von einem Kinde, das nie eine Mutter gehabt hat und arm und kalt in die Großstadt hineinwehte. Man hat ihr vieles vorgeworfen und vorzuwerfen, aber ... „Sehen Sie, Ihr Herren Geschworenen, es ist ein Kind, das nicht ausgebrütet wurde unter den Küssen einer Mama. Man hat ihr das Herz nicht entwickelt, diesem Mädel. Sie weiß ja nichts. Und sie ist erst zwanzig ... Wenn Sie wüßten, was ich schon alles in diesem Saal erlebt habe, den Freispruch der Frau Clovis Hugues, der Frau Steinheil, der Frau Caillaux, und diese alle hatten nur aus egoistischen Gründen, aus Ehrgeiz, aus Habsucht oder aus Liebe gehandelt. Diese hier aber hat weder an Geld, noch an sich gedacht. Sie hat sich für die anderen geopfert! „Es ist ein armes Kleines. Man muß es lieb haben!“

SÉVERINE

So sprach Séverine, und das Volk Frankreichs widersteht der Kraft des Herzens nicht. Eine Frau sprach leise und ward besser erhört als alle die acht Tage hindurch schreienden zornigen Männer.

Und endlich kam der Tag des Urteils, ein Montag, der 24. Dezember, der Weihtag, vor der Weihnacht. Alles in diesem Prozeß hat eine schicksalhafte Bedeutung. Dieses Datum wird in den Annalen des nachkriegerischen Paris bleiben. Es regnet, es nebelt, es schneit. Die Stadt wird nimmer hell, der Abend greift schon lange vor. Aber seit vier Uhr früh warten vor dem Gerichtsgebäude die blassen Freunde Germaines in langen Reihen. In den Gängen hört man Schreie, Schritte und dumpfe Laute wie im Maschinenraum eines Ozeandampfers. Der Schwurgerichtssaal ist ein pochender Dampfkessel. Noch einmal steigern sich die Passionen bis zur Siedehitze.

Schon am vergangenen Samstag hatte der Fürsprecher der Action Française, Marie de Roux, ein Südländer, mit einem genereusen Renaissancebart, wie man sie von der Bühne her gewohnt ist, der Anarchie den Prozeß gemacht. Er liest aus einem Artikel vor, der von Germaine Berton geschrieben ist, und beweist, daß Germaine wissentlich und willentlich diesen anarchistischen Akt beging:

„Ich habe die absolute Überzeugung,“ so schreibt sie, „daß allein die individuelle Tat wirksam sein kann. Ich meine nicht die isolierte, aber mehrere in kurzen Abständen, trotz Verhaftung und Verurteilung unermüdlich wiederholte Taten, die wie der höhlende Tropfen im Felsen wirken. Wir brauchen furchterzeugende Beispiele. Mein Mitleid mit jenen, die sich opfern: sie sind es, die Mitleid haben mit Euch!“ Die angebliche „Theorie der Gewalt“ aber, die man der Action Française unterschiebt, sei nur eine „Theorie zur Eindämmung der Gewalt ...“

CAMPINCHI

An diesem Montag folgen die Anklagereden des heftigen metallenen Campinchi, dessen Worte und Stimme wie Rasierklingen sirren, aber dessen Argumente aus schlechtem Material sind. Der Staatsanwalt Sens-Olive ist kühl, objektiv, logisch, behauptet, daß ein Mord eben ein Mord sei und läßt sogar gutväterliche mildernde Umstände zu.

Aber am Nachmittag erhebt sich der donnernde Verteidiger Torrès, der wie eine Lawine wüten und wie ein Südwind seiner Heimat schmeicheln kann. Er tobt wie ein Löwe in einem Käfig. Aber bald zerbricht er die eisernen Stangen der Geschehnisse und jagt empor ins Freie, ins Geistige, der Löwe verwandelt sich in eine Gazelle, und die Vision Jaurès wächst langsam bei hereinbrechender Nacht im Hintergrunde des Saales empor. Wie in einem Film sehen wir noch einmal die Silhouetten auftauchen: den trivialen und tragischen Scylla Daudet, eine enge geizige Mutter, die blonde heroische Madame Caillaux, den hingerichteten Almereyda, Cottin, der auf Clemenceau schoß, Madame Paulmier, die 1898 auf Millerand schießen will und, da sie ihn nicht trifft, sich mit Herrn Ollivier begnügt, Plateau, der schon davon träumte, sich als königlicher Polizeichef im Ministerium des Innern zu installieren, und endlich Séverine, deren Name so zart ist, daß jedes Adjektivum überflüssig wird, und Germaine, Germaine, Germaine.

„Friede auf Erden! werden die Glocken zu Mitternacht läuten. Daß es ein echter Friede sei, werdet ihr Herren Geschworenen nicht Blut vergießen, sondern den Schnee des Vergessens darüberbreiten ...“

Eine halbe Stunde darauf ist Germaine freigesprochen. Zwei Fragen: „Ist G. B. des Mordes an Plateau schuldig? Hat sie ihn vorbedacht?“ Zwei Nein. Das bedeutet ein millionenfaches Ja. Die dunkle Menge, das ewige, das unfaßbare Paris wartet in strömendem Regen auf den Boulevards. Die Nachricht verbreitet sich von Mund zu Mund, schneller als von Radiostation zu Radiostation. Menschen umarmen sich. Die Extraausgaben überfliegen zehn Minuten später die Stadt wie ein Rudel weißer Tauben. Die kleinen Taxi-Autos, mit den schönen Frauen drin, eilen die Rue des Martyrs hinan. Auf der Place de la Madeleine wird diese neue Madeleine angebetet. Réveillon! Réveillon! Diese Nacht ist die größte, die tollste, die hellste des Jahres. In allen Restaurants sind die Tische seit Monaten vorbestellt. Christus ist frisch rasiert und begibt sich ins Moulin Rouge. Die Gänseleberpasteten aus Straßburg sind ausverkauft. Die Midinetten sind alle in Marquisen verwandelt. Die Läden sind offen bis fünf Uhr früh. Aus den Auslagen der Juweliere verschwinden die Perlenkolliers wie tauender Schnee. Auf den Straßen verteilen Familien unter sich die Austern, die Hummern, die Hühner und die Fasane. An jeder Straßenecke wird getanzt. Réveillon! Oben neben dem Sacré-Cœur, in der kleinen Kirche St. Pierre lassen fromme Bürgerinnen die tiefen Klänge der Orgel über ihr ehebrecherisches Herz ergehen und sind wieder treu, wieder fromm, wieder Mütter. Die Waisenkinder erwarten das neue Brüderchen Christus ... Aber auf der Place Pigalle ist es ein Feuerwerk von roten, violetten, goldenen Monden, Reklamen, Fanfaren, und die ganze Welt, die Perser mit ihren falschen Teppichen, die Russen mit ihren falschen Patronentaschen, die Bettler mit ihren falschen Brillen, die armen Blumenverkäuferinnen mit ihren falschen Kindern loben und singen die Größe dieser Nacht ...

Aber ein kleines, einfaches, unscheinbares Taxi rollt aus einem abseitigen Tor des Justizpalastes auf den schweigenden Quai, über schwebende Seinebrücken, durch stille, ganz verkrochene Straßen: Germaine Berton, die befreite Befreierin, fährt, ohne etwas zu denken, ohne sich zu freuen, ohne zu wissen, in die kleine bürgerliche Wohnung des armen Lecoin und verplaudert dort mit ihm und dessen Frau diese geheimnisvolle, diese stille heilige Nacht.

DIE FÜNF IM TEXT STEHENDEN
ZEICHNUNGEN SIND ARBEITEN
VON L. BERINGS

In der Sammlung
AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
– DIE VERBRECHEN DER GEGENWART. –
ERSCHIENEN BISHER:

Band 1:

ALFRED DÖBLIN
DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD

Band 2:

EGON ERWIN KISCH
DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL

Band 3:

EDUARD TRAUTNER
DER MORD AM
POLIZEIAGENTEN BLAU

Band 4:

ERNST WEISS
DER FALL VUKOBRANKOVICS

Band 5:

IWAN GOLL
DIE ROTE JUNGFRAU
GERMAINE BERTON

Band 6:

THEODOR LESSING
HAARMANN, DIE GESCHICHTE
EINES WERWOLFS

Band 7:

KARL OTTEN
DER FALL STRAUSS

Band 8:

ARTHUR HOLITSCHER
DER FALL RAVACHOL

Die Sammlung
AUSSENSEITER DER
GESELLSCHAFT
Die Verbrechen der Gegenwart

wird ständig fortgesetzt. Aus der großen Zahl der Mitarbeiter nennen wir an dieser Stelle nur: Henri Barbusse / Martin Beradt / Max Brod / F. Th. Csokor / Karl Federn / Max Freyhan / E. I. Gumbel / Walter Hasenclever / Walter von Hollander / Georg Kaiser / Otto Kaus / Kurt Kersten / Thomas Mann / Leo Matthias / Eugen Ortner / Walter Petry / Joseph Roth / René Schickele / Hermann Ungar / Jacob Wassermann / Alfred Wolfenstein / Über die Erscheinungstermine und weitere Einzelheiten werden wir genaue Daten jeweils durch Sonderprospekte bekannt geben.

VERLAG DIE SCHMIEDE
BERLIN

OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT

Anmerkungen zur Transkription

Das Cover wurde vom Bearbeiter den ursprünglichen Bucheinbänden der Serie nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

(mehrfache Fälle)
... schreien die Camelots du Roy, drohen, ...
... schreien die Camelots du roi, drohen, ...

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