Der Anti-Christ

Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden.

Pindar.

Die Vorstellung eines sagenhaften Volkes, von dem nicht zu sagen sei, wo es lebe, griff Nietzsche auf, um sein Jenseits aller modernen Ideen zu charakterisieren. Ein Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes … ein Jenseits aller Rachegefühle und Ressentiments, ein Diesseits des zu züchtenden höheren Typus Mensch, gegen welchen das Christentum, indem es alle Grundinstinkte in Bann tat und die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratenen nahm, einen Todkrieg führte.

Gegen diesen Todfeind seines Hyperboreer-Ideals hat Nietzsche zu einem heftigen Schlag ausgeholt in seiner leidenschaftlichen Schrift »Der Antichrist, Versuch einer Kritik des Christentums«, die 1888 entstand als erstes Buch der »Umwertung aller Werte« und hauptsächlich den Entwürfen zum »Willen zur Macht« entnommen wurde. Gegen diesen Todfeind hat Nietzsche die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens verteidigt. Von sonnenbeleuchteter Höhe aus gesehen, erscheint ihm das Christentum als Multiplikator des Elends, als Konservator alles Elenden. Denn durch seine Mitleids-Moral wirkt die Depression, die das Leiden hervorruft, ansteckend und verführt nihilistisch zur Verneinung des Lebens, weil sie ihm einen düsteren und fragwürdigen Aspekt gibt.

Es erhält, was zum Untergange reif ist; es kreuzt dadurch das Gesetz der Entwicklung, das auf dem Gesetz der Selektion beruht, und bedroht um der Schwachen und Matten willen alles Starke und Lebensfreudige. In unerschrockener Entschlossenheit spricht Nietzsche es aus: »Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art[196] Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer

Mit dem »Antichrist« erklärte er vollbewußt den Krieg allem, »was Theologenblut im Leibe hat«, also auch der ganzen vom offensichtigen und verborgenen Christentum beeinflußten Philosophie und ihren Idealen. Hierbei fällt uns Flauberts Ausspruch ein: »Was die Philosophie geleistet hat? Nichts, sie hat von Jahrhunderten zu Jahrhunderten Gott größer gemacht.«

Nicht gegen Mißbräuche und Entgleisungen innerhalb des kirchlichen Christentums, sondern zunächst wider die höchsten Vertreter einer christlich orientierten Lebensauffassung richtet Nietzsche seine Waffen. Der Mut zum extremsten Ausdruck steigert sich ins Maßlose; kein mildernd vermittelndes Wort will die Halbheit, irgendwelche Art von Halbheit, zu sich hinüberziehen, sondern er wagt es allein – noch sind ihm keine Mitstreiter geboren – den Kampf aufzunehmen: »Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen.«

Wer dem Glauben an ein Jenseits, Gott, oder das wahre Leben, oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit … anhängt, wer nach Unterwerfung seines schöpferischen Willens, seiner Persönlichkeit unter irgendein Abstraktum verlangt um des »Friedens der Seele« willen, wer aus Ohnmacht auf die männlichsten Tugenden und Triebe verzichtet und sich zum »Guten an sich« bekennt, aus dem alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze ausgeschieden wurde, wer immer offen oder geheim einen Gott glaubt, der dem Leben widerspricht, wer also das Nichts vergöttlicht, den Willen zum Nichts heilig spricht: der segelt auf anderen Gewässern als jenen, die zum Lande der Hyperboreer führen.

Nietzsche unterscheidet streng zwischen dem Christentum als historischer Realität und der Person seines Stifters. Was hat Christus verneint? »Alles, was heute christlich heißt«, antwortet Nietzsche. »Christlich ist die[197] vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Kultus, Priester, Kirche, Theologie.«

Die Innerlichkeitslehre Christi wird von Nietzsche mit entschiedener Achtung betont. Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens. Jesus gebietet: Man soll dem, der böse gegen uns ist, weder durch die Tat noch im Herzen Widerstand leisten. Man soll sich gegen niemanden erzürnen, man soll niemanden gering schätzen. Man soll nicht richten. Man soll sich versöhnen, man soll vergeben. Die »Seligkeit« ist nichts Verheißenes: sie ist da, wenn man so und so lebt und handelt. Aber durch Paulus wurde dieser naive Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, so daß sich das Christentum endlich – ganz und gar im Gegensatz zum Willen seines Stifters – mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt … und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt. Erst das paulinische Christentum brachte den Begriff Schuld und Sühne in den Vordergrund. Nur gegen dieses ist der »Antichrist« gerichtet.

Das Urchristentum, so gut wie der verwandte Buddhismus stehen als nihilistische Religionen der Lebensbejahung fern, aber Nietzsche achtet an ihnen, daß sie nicht »Kampf gegen die Sünde« lehren, sondern, der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«. Buddha ging gegen psychologische Folgen übergroßer Reizbarkeit der Sensibilität und verhängnisvoller Übergeistigung, die sich als Depression geltend machten, hygienisch vor. Seine entschiedene Abneigung gegen jedes Rachegefühl (»Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«) ließ ihn in einem milden Klima unter sanftmütigen und liberal gesinnten Menschen das selbe Ziel anstreben, das Nietzsche unter anderen Voraussetzungen, anderen Möglichkeiten auf anders geartete Weise zu erlangen trachtet: die Überwindung der unterbewußten Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst[198] und als Siegeskranz dafür: die Heiterkeit. Das paulinische Christentum aber hatte, als es unter Barbarenvölkern auf Macht ausging, nicht müde Menschen vor sich, sondern innerlich verwilderte und sich zerfleischende, also starke Menschen, aber mißratene; es wollte über Raubtiere Herr werden, und sein Mittel dazu ist, sie krank zu machen zwecks Schwächung und Zähmung. Das paulinische Christentum gilt für Nietzsche nicht als eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, sondern als dessen Folgerichtigkeit, als einen Schluß weiter in dessen furchteinflößender Logik.

Auch Heinrich Heine gelangte zu der Überzeugung, wenn auch aus anderen Erwägungen, nicht Judentum und Christentum seien Gegensätze, sondern der Gegensatz liege zwischen jüdisch-christlicher Moral und hellenischer Gesinnung. Was ist jüdische, was ist christliche Moral? frägt Nietzsche in einem Atem und antwortet: »Den Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff ›Sünde‹ beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als Versuchung; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissenswurm vergiftet …«

Als Antichrist kämpft Nietzsche in seinem also betitelten Werk gegen die Entnatürlichung des Menschen, gegen die Verlästerung und Schwächung der animalischen Triebe, gegen den Pessimismus der Moral, den Nihilismus der Gesinnung, gegen die Flucht ins Unfaßliche und Unbegreifliche, wie es seine gesamte Philosophie tut, nur daß diesmal der mächtigste, verhängnisvollste Feind der Freude am Dasein in Unschuld, an der Bejahung des Lebens, an Wohlgeratenheit des höheren Menschen und an der Steigerung des Lebens aus schöpferischer Willensmacht unmittelbarer, entschiedener, extremer im Ausdruck bekämpft wird.

Gegen das Vergangene ist Nietzsche, gleich allen Erkennenden, mit großmütiger Selbstbezwingung tolerant; er will die Menschheit nicht für ihre Krankheiten und[199] Irrtümer verantwortlich machen, aber die Feigheit jener geißelt er um so heftiger, die heute, obwohl wissend geworden, sich und andere belügen, indem sie die Worte Jenseits, Jüngstes Gericht, Unsterblichkeit der Seele noch immer im Munde führen, trotzdem ihr Instinkt und ihre Vernunft dem widersprechen.

Das echte ursprüngliche Christentum dagegen gilt Nietzsche auch heute noch möglich, für gewisse Menschen sogar notwendig, denn es bedeutet für sie nicht ein Glauben, sondern ein Tun, ein Vieles-nicht-tun, vor allem ein anderes Sein. Christus konnte mit seinem Tode nichts wollen, als öffentlich die stärkste Probe, den Beweis seiner Lehre zu geben, die Lehre von der Überlegenheit über jedes Gefühl von Feindschaft in lieblicher Ruhe des Herzens. Aber gerade das am meisten unevangelische Gefühl der Rache kam wieder obenauf. Man brauchte Vergeltung, Gericht. »Der frohen Botschaft folgte auf dem Fuße die allerschlimmste: die des Paulus.«

Das paulinische Christentum hat jedem Ehrfurchts- und Distanzgefühl zwischen Mensch und Mensch einen Todkrieg bereitet; es hat Waffen geschmiedet gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden. Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt. »Das Evangelium der Niedrigen – macht niedrig«, lehrt Nietzsche und kommt zu dem Schluß: »Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.«

Man sehe den »Antichrist« unter dieser Optik, um zu verstehen, daß Nietzsche nicht Christus, diese edelste Erscheinung, bekämpft, sondern Paulus, sondern das historische Christentum, welches das Altertum besiegte und dessen unmittelbare Fortwirkung auf zwei Jahrtausende unterbrach. »Das Christentum war ein Sieg,[200] eine vornehme Gesinnung ging an ihm zugrunde – das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit.«

Immer haben wir solche Worte im Hinblick auf das Ziel der Steigerung des Lebens, des Wachstums der Kultur zu verstehen, niemals von der Frage aus nach dem Labsal, das es Niedergedrückten, Trostbedürftigen bedeutet. Nicht diesen, wir müssen es nochmals wiederholen, sondern den freieren, höheren Menschen will der unerschrockene Kritiker des Christentums dieses verächtlich machen, indem er die Bibel zu ihrem Nachteil mit dem vornehmen Gesetzbuch des Manu vergleicht, auf dem die Sonne eines triumphierenden Wohlgefühls an sich und am Leben liegt.

Daß vom »Antichrist« nicht mit voller Macht die Wirkung ausgeht, die man bei einer solchen Streitschrift Nietzsches erwartet, erklärt sich weniger aus dem Widerstand der dogmatischen Gläubigen als aus dem Umstand, daß das latente Christentum in uns allen noch ungemein bestimmend wirkt, vielleicht aber auch aus der Fassung der Streitschrift selbst. Auch der Atheist fühlt dem Christentum gegenüber Ehrfurcht vermöge seiner Kindheitserinnerungen und schätzt es als Banner im Kampfe gegen den Materialismus gemeiner Interessen. Er will es souverän überwinden, aber die Heftigkeit der Angriffe, der maßlose Ansturm des Affekts läßt in ihm die Empfindung aufkommen, als ob hier die »Entrüstung« den Ton bestimme. Mit Unrecht, denn kein unterbewußter Groll, sondern die Größe seiner Aufgabe ließ den unerschrockenen Antichristen seine volle Energie entfalten, kein Unmut, sondern der Übermut der Kampfesfreude entfesselte alle Kräfte. Wie die beiden ersten Teile des »Zarathustra« in den Farben, als persönliche Gegenwirkung gegen Qual und Wirrsal seines Gemüts, »heiterer und lustiger« ausgefallen sind, als es in Nietzsches Absicht lag, so hat umgekehrt die Euphorie der letzten[201] Jahre in Turin auf den rigorosen Ernst, der dort entstandenen Schriften (»Grobe Briefe – bei mir ein Zeichen der Heiterkeit«) auf die Heftigkeit des Tones, auf die Grellheit der Farben eingewirkt.

Nur gegen Schluß des Werkes gelangen vorübergehend freudigere Töne zum Ausdruck. Hier zitiert der Philosoph von ihm übersetzte Stellen aus dem priesterhaften, aber trotzdem nicht pessimistischen Gesetzbuch des Manu (er hatte es in der französischen Übersetzung von Louis Jacolliot gelesen) und geht dazu über, die Ordnung der Kasten als Sanktion einer Naturordnung darzustellen. Moralische Entrüstung und Pessimismus sind untrennbar von der Vorstellung des Tschandala, also der Niedrigsten; der jasagende Sinn der Geistigsten dagegen betrachtet die Welt letzten Endes als vollkommen, denn er wertet das Unvollkommene als ein zugehöriges notwendiges Unterhalb, alle Mittelmäßigkeit als die breite Basis einer Pyramide der Kultur. Obenan stehen also die geistigsten Menschen, die zugleich als die Stärksten ihr Glück in der Selbstbezwingung finden. Als die zweiten gelten für Manu und Nietzsche die Wächter des Rechtes, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit; der König bedeutet ihnen die höchste Form von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Diese Rangordnung, die wir bereits in der Lehre vom Übermenschen als Nietzsches Ideal schätzen lernten, formuliert nach ihm nicht irgendeine willkürliche Staatsverfassung, sondern, wie er ausführt, das oberste Gesetz des Lebens. Denn die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft zur Ermöglichung höherer und höchster Typen. Die damit geförderte Ungleichheit der Rechte ist die Bedingung, daß es überhaupt Rechte gibt. »Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht.«

Einer solchen naturgemäßen Rangordnung, das werden wir Nietzsche ohne Widerspruch zugeben, laufen die[202] Tendenzen des Christentums mit seiner Gleichheit der Seelen vor Gott durchaus entgegen. Diese Gegensätzlichkeit hat es nicht nur an dem Römertum bewiesen – wobei es uns um die Ernte der antiken Kultur brachte –, sondern noch einmal, als es sich gegen die Renaissance empörte. Damals bereitete sich in Rom die Überwindung des Christentums tatsächlich vor durch den Triumph des Lebens, durch das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen. Was aber geschah? Luther sah nur die Verderbnis des Papsttums. Indem er die Kirche angriff, stellte er sie wieder her. Und siehe da: die Reformation vernichtete etwas Unwiederbringliches, das mit der Renaissance uns zum Heil Wirklichkeit werden wollte …

Stellen wir uns zum Schluß die Frage, wie Nietzsche die Bewegung zur Mystik beurteilt haben würde, die heute in Wort, Ton und Bild, in Expressionismus, in gemeinsamen Meditationen und philosophisch umkleideten Andachtsstunden, abseits vom Lärm der Welt, zum Teil mit Okkultismus vermengt, bei Tausenden neue Anhänger findet, und ihnen wohl als ein Ersatz für unmöglich gewordene dogmatische Gläubigkeit, als Ersatz für verflüchtete Ideale gilt: so dürfen wir wohl mutmaßen, daß er diese Bewegung als Nihilismus nach dem Verluste der früheren höchsten Werte, als eine Erscheinung der Erschöpfung nach den Anspannungen des Krieges, als ein Trostmittel gegen Enttäuschungen aller Art erkannt hätte, um auch sie vielleicht wie den Buddhismus als heilsamen Schutz gegen die Gefahren der Sensibilität und Übergeistigung milde zu beurteilen. Aber auch diese Bewegung bedeutet Flucht vor der Wirklichkeit, Ausweichen vor dem Ziel der Höherentwicklung des Lebens, und darum würde er ihr niemals gestatten, mit seinem Namen und seiner Lehre zu liebäugeln, wie es vielfach bei ihren Anhängern geschieht.

In den Dionysos-Dithyramben, diesen Liedern Zarathustras, die ebenfalls 1888 entstanden, erhebt sich in[203] leuchtenden Farben vor unserer Phantasie das Land der Hyperboreer als einsame Insel im Meere. In dem Gedicht »Die Sonne sinkt«, einem der schönsten, das wir besitzen, steigt diese Insel vor uns auf wie jenes Orplid, von dem Mörike sang. In dem »Feuerzeichen« (»Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs«) zündet der Einsame auf ihr sein Höhenfeuer an und in »Ruhm und Ewigkeit« bekundet uns sein Herz, wie wenig er in Willkür nach dem Beifall der Gegenwart geizt, wie ihm, gleich Goethe, alles was geschieht zum Symbol des Notwendigen wird und wie ihn wiederum, gleich Goethe, die Idee »das Ewige im Vorübergehenden« schauen läßt.

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