Der Anti-Metaphysiker

Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von Wert, denn er ist ein Repräsentant der Ewigkeit.

Goethe.

Befragen wir die Briefe Nietzsches aus der Zeit nach der Loslösung vom Lehramte in Basel über den äußeren Verlauf seines Lebens, so erfahren wir, daß er den Winter 1879 auf 1880 in Naumburg bei sehr schlechter Gesundheit verbrachte, aber trotzdem an Malwida von Meysenbug schrieb: »Kein Schmerz vermochte und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen.« Immer lebhafter erwachte in ihm die Sehnsucht nach Süden und Sonne. Sie führte ihn von Naumburg nach Riva und dann nach Venedig. Venedigs wunderbarer Zauber gab ihm neue Schaffensfreude. »Hundert tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber.« Als ihn die Sommerhitze und die Mosquitos aus der Lagunenstadt vertrieben, entschied er sich für eine leider erfolglose Kur in Marienbad.

Wer Nietzsches Briefe liest, erlebt mit ihm Kämpfe, die Herz und Hirn unter schweren körperlichen und seelischen Leiden miteinander ausfechten, ehe der Geist seine Siege und Überwindungen erzielt. Besonders in Marienbad bedrückte es ihn schwer, daß er durch die Neuheit seiner Gedanken und ihre radikale Fassung die Sympathie so mancher ehemals vertrauter Menschen verlor, an deren Liebe ihm doch so viel gelegen war. Manchmal nach sympathischen Unterhaltungen, auch mit wildfremden Menschen, übermannte ihn das Gefühl, daß es wohl töricht sei, Recht haben zu wollen um den Preis von Liebe. Dann drängte es auch ihn, der so tapfer jedes Seelenleid in sich verschloß, zur Klage, daß er den wenigen Menschen seines persönlichen Umgangs sein[95] Wertvollstes nicht mitteilen könne, um nicht die Sympathie aufzuheben.

Von Marienbad begab er sich im Frühherbst wiederum zu Mutter und Schwester nach Naumburg und dann nach Stresa am Lago Maggiore, um endlich in Genua die »Morgenröte« zu vollenden. Das gewitterreiche Frühjahr 1881 verbrachte er in Ricoaro bei Vicensa. Es erwies sich für sein Befinden höchst ungünstig. Um so beglückender gestaltete sich sein Sommeraufenthalt im Engadin. Entdeckte er doch nunmehr »den lieblichsten Winkel der Erde«, das »heroische Idyll« Sils-Maria.

Wie man Segantinis Landschaften am besten versteht, wenn man das Engadin und seine Eigenartigkeit der optischen Wirkung kennt, welche in der klaren sonnigen Höhenluft uns das Fernste nahe bringt, so kann man aus der Atmosphäre Sils-Marias, »wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint«, das unvergleichliche Nahgefühl des Glückes bei Nietzsche verstehen, das als Lebensfreude aus schöpferischer Erkenntnis aufjauchzt, als Lichtfreude der unerschrockensten Redlichkeit emporleuchtet, als Höhenfreude frei von allem Nebel überlieferter Illusionen aufatmet und als Ewigkeitsfreude sich offenbart.

In Sils-Maria erlebte jener Gedanke seine Geburt, der Nietzsche so ungeheuer erschütterte, ihn so unsagbar überglücklich machte, daß er in Verzückung Tränen des Jauchzens weinte und unter die erste Niederschrift die Worte setzte: »Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen.« Es war der Gedanke der Ewigen Wiederkunft des Gleichen.

Wie kam es, daß ihn gerade dieser Gedanke gleich einer Offenbarung so beglücken konnte? Wir sind wohl auf der rechten Spur, wenn wir annehmen, daß durch[96] diesen Einfall ein unterbewußter Widerspruch gegen seine eigene Lehre eine Lösung für ihn erfuhr. Er bedeutete für seine Lehre nichts geringeres als die Möglichkeit, ohne Metaphysik bestehen zu können.

Während seiner ersten Schaffensperiode stand Nietzsche bewußt im Banne der Metaphysik Schopenhauers, während der zweiten Periode wollte er sich nur an das erfahrungsmäßig Gegebene halten. Aber dieser Verzicht seines Denkens auf alles, was wesenhaft hinter der Erscheinung liegt, konnte ihn unmöglich auf die Dauer befriedigen, noch seinem Ewigkeitsdrang genügen. Die Metaphysik erschien ihm auf ihren seitherigen Wegen als eines freien Geistes unwürdig, der Positivismus als unzulänglich für eine ernste Philosophie. Diese zwiefache Verneinung hüllte jeden Ausweg in Finsternis. Da leuchtete ihm plötzlich die Möglichkeit einer Errettung aus dieser Nacht wie ein Gestirn auf. Eine Lehre erstand vor ihm, die ohne religiösen Unsterblichkeitsglauben doch nicht von ihm verlangte, daß er sich in die Einsicht der Vergänglichkeit des Individuums finde, sondern dessen Fortdauer verkündete durch Einfügung in den Kreislauf der Ewigkeit, eine Lehre, die trotzdem von keinem Jenseits fabelte, sondern das wahre Geheimnis der Welt nicht im Unsichtbaren, sondern im Sichtbaren sah, eine Lehre, die verkündete: »Dieses Leben – dein ewiges Leben!« In diesen fünf Worten ist der entscheidende Sinn der Lehre der Ewigen Wiederkunft des Gleichen enthalten, ein Sinn, der auch dann noch bestehen bleibt, wenn uns Nietzsches theoretische Begründung nicht überzeugt.

Nietzsche hat einmal gesagt: »Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen.« Beherzigen wir diese Mahnung, um zunächst einmal die Denkbarkeit seiner Lehre vorzubereiten. Beim Schachspiel sind außerordentlich viele Kombinationen möglich; immerhin aber ist ihre[97] Zahl begrenzt. Daraus folgt, daß bei unendlich vielen Spielen das gleiche Spiel notwendigerweise wiederkehren muß. Das gilt nicht nur vom einzelnen Spiel, sondern auch von der Reihenfolge sämtlicher möglichen Spiele, so daß wir zum Schlusse kommen, daß die gleiche Reihe, in der alle, aber auch rein alle Möglichkeiten enthalten sind, sich wiederholen und immer wieder wiederholen muß, sobald wir an eine unendlich große Zahl von Spielen denken. Es ergibt sich somit beim Schachspiel für uns die Ewige Wiederkunft des Gleichen für den ganzen Ring der Möglichkeiten. Ich glaube, diese Notwendigkeit ist unserem Denken vorstellbar. Was folgt hieraus für die Frage nach dem Weltenlauf? Wenn die Allkraft, wie Nietzsche annimmt, nichts Unendliches, sondern in ihrem Maße Bestimmtes ist, so ist auch die Zahl der Lagen, Veränderungen, Kombinationen dieser Allkraft zwar ungeheuer groß und praktisch unermeßlich, aber eben doch der Zahl nach bestimmt, wie die Zahl der Möglichkeiten beim Schachspiel bestimmt ist.

Gelingt es unserer Phantasie, eine unendliche Zeit uns vorzustellen, so können wir mit Nietzsche folgern: also müssen alle möglichen Kombinationen schon einmal dagewesen sein. Daraus folgt dann, daß auch die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung ist und daß diese gleiche Wiederholung derselben Kombination auch in alle Ewigkeit stattfindet.

Dieser Beweisführung ist logisch nicht zu widersprechen, so sehr sich unsere Phantasie gegen eine solche Vorstellung auflehnt. Die Frage ist jedoch, ob Nietzsches Voraussetzung zutrifft. Ob wir ihm zugestehen, daß die Zeit zwar unendlich, die Allkraft aber endlich zu denken ist. Nur dann müssen wir mit ihm folgern: »Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesamtlage aller Kräfte wiederkehrt.«

Die Lehre der Ewigen Wiederkunft taucht nicht etwa bei Nietzsche erstmals auf, sondern die Idee einer Wiederkehr[98] des Gleichen ist uralt. Man begegnet ihr bei den Orphikern, bei Pythagoras, bei Heraklit, Anaximander und Empedokles; dann bei Plato und den Stoikern.

Öhler hat uns das wiederholte Auftauchen dieses Gedankens in der Antike eingehend nachgewiesen, und Lichtenberger seine Wiederkehr bei den beiden Franzosen L. A. Blanqui und Gustave Le Bon; Simmel hat Nietzsches Theorie mathematisch widerlegt, Lou Salomé auf sie als eine Umkehrung der indischen Lehre der Wiedergeburt verwiesen; »nicht Befreiung von dem Wiederkunftszwange, sondern freudige Bekehrung zu ihm«; Oskar Ewald hat ihren tiefen Zusammenhang bei Nietzsche mit der Lehre vom Übermenschen aufgedeckt und Ernst Horneffer die Schicksale der Veröffentlichung durch das Nietzsche-Archiv kundgegeben.

Für Nietzsche bedeutete die Lehre der Ewigen Wiederkehr die extremste Form des Fatalismus. Sie steht daher in innigem Zusammenhang mit der Frage der Willensfreiheit. Als tätig erlebende Menschen glauben wir an einen freien Willen, weil wir unausgesetzt das Nebeneinander verschiedener Triebe und den Sieg des einen über die anderen in unserem Bewußtsein erleben. Als positiv erkennende Menschen dagegen sind wir von der Determiniertheit alles Geschehens überzeugt, also auch davon, daß die Taten der Menschen aus ihrem Charakter und den wirkenden Motiven mit Notwendigkeit hervorgehen. So ergibt sich das Paradoxon: alles ist notwendig vorausbestimmt, aber auch das ist vorausbestimmt, daß wir als Handelnde nicht daran glauben.

Diesem Widerspruch bleibt auch Nietzsches Lehre unterworfen. Nur die Metaphysik, die uns lehrt, Freiheit ist ein negativer Begriff, sie bedeutet soviel wie Grundlosigkeit, Ursprünglichkeit, hebt den Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Freiheit auf, indem sie besagt, die Notwendigkeit betrifft das Wirken und Tun, die Freiheit das Sein und Wesen. Sie führte notgedrungen[99] zur Unterscheidung einer Erscheinungswelt und einer Welt als Willen. Diese Zweiheit aber leugnete Nietzsche, als er Begriffe wie unendlich und ewig auf die Welt als Erscheinung anwandte.

Auch bei rein logischer Betrachtung läßt sich in Nietzsches Theorie eine Widersinnigkeit nachweisen. Wenn ich etwas, das ich heute erlebe, schon einmal oder viele Male erlebt habe, so unterscheidet es sich schon dadurch von dem vorangegangenen Erlebnis, daß es eine soundsovielte Wiederholung ist. Da die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft fortlebt, wird schon durch die Wiederholung eine Verschiedenheit gegeben. Der Begriff Ewige Wiederkunft des Gleichen erfährt somit schon in sich selbst eine Widerlegung.

Am besten jedoch widerlegen wir Nietzsches Lehre, wenn wir ihr eine andere Lösung als Ideal gegenüberstellen.

Wenn wir nicht wie die mythologische Metaphysik an eine einmalige Schöpfung glauben, dagegen aber in allem, was in uns und um uns vorgeht, eine andauernde Schöpfung sehen, dann gelangen wir auf unserem Wege zu dem gleichen Resultat, um das es Nietzsche zu tun war. Auch wir fragen nicht, indem wir uns ehrfürchtig des andauernden Werdens erfreuen, nach einer nie zu erlangenden Ursache der Ur-sache, auch wir lassen die Allkraft als gegeben gelten und definieren die Natur als »gebärende Macht«. Wenn wir dies tun:

Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Mit diesen Worten Goethes wird genau dasselbe gesagt, was Nietzsche in die fünf Worte faßte: »Dieses Leben – dein ewiges Leben«.

Die Lehre einer ewigen andauernden Schöpfung steht nicht nur in Übereinstimmung mit Meister Eckardt, Silesius, Cardanus, Helmont, Descartes und Leibniz,[100] sondern auch unter Verzicht auf jeden mythologischen Hintergedanken mit Goethe. Er glaubte, wie unter anderem aus einem Briefe an Tauscher hervorgeht, an eine »innere fortdauernde Schöpfung«, sowie an »eine ursprüngliche gleichzeitige Verschiedenheit«. Auch Henri Bergson verkündet uns in seinem Buche »Schöpferische Entwicklung«: alles im Begriff des Schöpferischen bleibt dunkel, solange man, wie wir gewohnt sind, an Dinge denkt, die geschaffen werden, und an ein Ding, das schafft. Sehen wir dagegen ab von einem Gott als etwas Abgeschlossenem und setzen dafür eine ursprüngliche, andauernd schöpferisch aussprühende Kraft, die Vorstellung eines unaufhörlichen Lebens, das Tat und Freiheit ist, so verschwindet für uns das Wunder; dann erfahren wir die Schöpfung in uns selbst, sobald wir frei handeln.

Diese Vorstellung einer fortdauernden Schöpfung, die wir durch Goethes Aussprüche und Bergsons Lehre in Übereinstimmung mit Nietzsches Atheismus gewinnen, erfüllt in überzeugender Weise die Aufgabe, zeitliches Leben untrennbar mit dem Begriff der Ewigkeit zu verbinden. Sie ermöglicht uns, Nietzsches Lehre abzulehnen, ohne das Ergebnis zu verlieren, auf das es ihm ankam.

Die Unbeweisbarkeit seiner Theorie hat Nietzsche selbst eingesehen, nachdem er vergeblich aus Robert Mayers »Lehre von der Erhaltung der Kraft«, aus Bahnsens Schrift »Zur Philosophie der Geschichte« und anderwärts nach ausreichenden physikalischen Feststellungen für sie gesucht hatte. Doch hoffte er seine Lehre wenigstens als Hypothese retten zu können mit den Worten: »Wenn die Kreiswiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen und bestimmte Erwartungen. Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammnis gewirkt!«

Man hat Nietzsches Lehre auch als Fiktion bezeichnet.[101] Aber auch diese Bezeichnung möchte ich zurückweisen. Unter Fiktion verstehen wir nach Vaihinger nur einen Kunstgriff des Geistes, also eine Aussage, die wir zu bestimmtem theoretischen oder praktischen Zweck machen, obwohl wir von der Unwirklichkeit oder gar Unmöglichkeit überzeugt sind. Das trifft bei Nietzsche nicht zu. Die Lehre sollte nach seiner Absicht ursprünglich als Dogma oder zum mindesten als Hypothese wirken. Zum Glück für uns versagte sie diesen Dienst. Denn nunmehr kam Nietzsche zu der Überzeugung, daß ihr Wahrheitsgehalt nur dichterisch mitzuteilen sei, wie es denn auch im »Zarathustra« geschah. Es ist ungemein vielsagend, daß sich in seinem Unterbewußtsein die Entstehung der Lehre der Ewigen Wiederkunft und die Geburt des Zarathustra vereinigten, so daß sie später in seiner Erinnerung in eins zusammenfielen. Die betreffende Stelle in »Ecce homo« lautet: »Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werkes, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit«.

Wir verfahren daher durchaus frei von Willkür, wenn wir letzten Endes uns nur an die symbolische Bedeutung des Gedankens halten. Der Ort, uns hierüber auszusprechen, kann nur das Kapitel sein, das dem Zarathustra gewidmet ist. An dieser Stelle aber muß es uns genügen, nochmals zu betonen, daß Nietzsches Bewußtsein darauf gerichtet war, fernab von allen unzugänglichen Regionen eine antimetaphysische Lehre zu verkünden, daß er jedoch vom Aufleuchten seiner Lehre nur deshalb so beglückt wurde, weil die praktische Bedeutung, die er ihr beilegte, ihn vom Positivismus zur Philosophie zurückführte.

»Der religiöse Glaube nimmt ab und der Mensch[102] lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach, er übt sich nicht so im Erstreben, Ertragen, er will den gegenwärtigen Genuß, er macht's sich leicht.« Aber, verkündete Nietzsche in der »Fröhlichen Wissenschaft«, »wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: ›willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!« So gelangt er zu der Aufforderung: »Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachteten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.« Der neue Glaube soll »die Religion der freiesten, heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel«.

Es kann kein Zweifel bestehen: der Gedanke der Ewigen Wiederkunft stieg bei Nietzsche als ein plötzlicher Einfall auf. Aber damit ist nicht gesagt, daß er nicht schon lange vorher nach einem solchen Gedanken suchte. Merkwürdig, daß man diese Frage noch nicht geprüft hat. Seine Briefe ergeben keine Andeutungen. Aber wie verhält es sich mit dem letzten Aphorismus der »Morgenröte«, dem gerade als Schlußwort besondere Bedeutung zukommt? »Wir Luftschiffahrer des Geistes« ist er überschrieben. Sein Anfang fragt: Alle diese kühnen Vögel, die am weitesten hinausfliegen, irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken. Wollen sie denn über das Meer? Und sein Schluß lautet: »Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man uns vielleicht[103] einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?«

Bedeutsam ist dieser Schluß gewiß. Darauf hat Nietzsche selbst später hingewiesen mit den Worten: »Dieses Buch schließt mit einem Oder? – es ist das einzige Buch, das mit einem ›Oder‹ schließt …« Bedeutsam wofür? Ist es unser Los, an der Unendlichkeit zu scheitern? Als Nietzsche auf diese Frage mit einem »Oder« antwortete, da verriet er uns doch wohl, daß er nach einer Lehre suchte, die diese Gefahr eines Scheiterns an der Unendlichkeit aufheben solle. Ist dem so, dann verstehen wir, wie sehr ihn der Augenblick beglücken mußte, der ihm diese Lehre schenkte. Wie bedeutsam erscheinen uns dann auch die Verse, die er Lou Salomé in ein Widmungsexemplar der »Fröhlichen Wissenschaft« schrieb:

Freundin, sprach Columbus, traue
Keinem Genuesen mehr!
Immer starrt er in das Blaue,
Fernstes zieht ihn allzusehr!
Wen er liebt, den lockt er gerne
Weit hinaus in Raum und Zeit, –
Über uns glänzt Stern bei Sterne,
Um uns braust die Ewigkeit.

Der helle hehre Klang dieses Gedichtes entspricht der heiteren A-Dur-Tonart jenes Buches, in dem Nietzsche als Anti-Metaphysiker – so hat er selbst sich genannt – erstmals seine Lehre von der Ewigen Wiederkunft verkündigte und in dem er seine heroische Lebensbejahung am entschiedensten zum Ausdruck brachte. Wir dürfen daher das folgende Kapitel, das der Betrachtung der »Gaya Scienza« gewidmet ist, »Der Ja-Sager« überschreiben und ihm Verse Gottfried Kellers voranstellen, die Nietzsche selbst einmal als treffenden Ausdruck seiner Lebensbejahung wählte.

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