Der Ja-Sager

Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!

Gottfried Keller.

Die Morgenröte ist ein jasagendes Buch, tief, aber hell und gütig. Dasselbe gilt noch einmal und in höchstem Grade von der gaya scienza: fast in jedem Satz derselben halten sich Tiefsinn und Mutwillen zärtlich an der Hand,« schrieb Nietzsche in »Ecce homo«. Mit dem provençalischen Begriff gaya scienza – so nannten die Troubadours ihre Kunst – wollte er an die Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist erinnern, mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provençalen gegen alle zweideutigen Kulturen abhebt.

Die »Fröhliche Wissenschaft« oder »Gaya Scienza« wurde in der Fassung, welche die Urausgabe bietet, im Winter 1881 auf 1882 in Genua geschrieben. Dorthin hatte sich Nietzsche bereits im Herbst vom Engadin aus begeben. Sie war ursprünglich als Fortsetzung der »Morgenröte« gedacht, ehe sie ihren eigenen Titel erhielt. Nietzsches Produktivität setzte hellsten Himmel voraus und vollste Freudigkeit des Geistes und Leibes. Den hellsten Himmel ließ ihm Genua zuteil werden und die vollste Freudigkeit verdankte er dem bezaubernden Gefühl der Genesung, das ihm die wechselvollen Zustände seiner Gesundheit immer wieder bescherten. Während der Krankheitsanfälle enthielt er sich jeder Arbeit. »Ich traue keinem Gedanken, der bei bedrückter Seele und betrübten Eingeweiden entstanden ist, und was nun gar bei Kopfschmerzen geschrieben sein sollte, wird sicherlich vernichtet«, berichtete er einmal seiner Schwester, die sich frühzeitig als sein tapferer Kamerad entwickelte.

Bei ihrer Darstellung seines Lebens kommt man zu der Annahme, daß es sich bei ihrem Bruder ursprünglich um eine Migräne handelte, die sich nur durch geistige Überarbeitung[105] bei sehr schonungsbedürftigen Augen, falsche Diät und unmäßige Anwendung von Medikamenten verschlimmerte. Andere vertreten die Ansicht, daß man bei Nietzsche, wenn man seine brieflichen Krankheitsberichte verfolgt, schon sehr frühzeitig den Eindruck eines tiefgründenden schweren Leidens erhält, gegen das seine kräftige Natur und vorsichtig prüfende Lebensweise mit ungeheuerer Willensstärke und großer Zweckmäßigkeit ankämpfte.

Der »Fröhlichen Wissenschaft« gehen eine Anzahl Sprüche voran, die sie unter dem Titel »Scherz, List und Rache« einleiten. Diese Bezeichnung ist dem gleichlautenden Singspiel Goethes entnommen, das Peter Gast in Musik setzte. Als charakteristisch möchte ich erwähnen, daß mehrere der kleinen Gedichte, die zweifellos in ihrer Fassung durch Goethe und Hans Sachs beeinflußt wurden, mit dem Ausruf Ja! beginnen. So auch das folgende:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr' ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!

»Licht wird alles, was ich fasse!« Verwandte Gedanken kehren auch im Buche selbst wieder. In reiner Luft fühlt sich Nietzsche als Nebenbuhler des Lichtstrahls. »Der Erde Licht bringen, das Licht der Erde sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessentwillen sind wir männlich und selbst schrecklich gleich dem Feuer.«

Auch wo er negieren muß, fügt er jetzt meist die Bejahung hinzu. So wenn er in dem Aphorismus »Gegen die Verleumder der Natur« jenen unangenehmen Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort entstellt wird, die vornehmen Naturen gegenüber sieht, die sich ihren Trieben mit Anmut und Sorglosigkeit überlassen[106] dürfen, die vor sich keine Furcht haben, jene freigeborenen Vögel, die mit ihm singen dürfen: »wohin wir auch kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein«. Unter ihnen findet man wohl am ehesten solche Glückliche, die sich auf die Improvisation des Lebens verstehen und auch den zufälligsten Ton in das thematische Gefüge einzuordnen vermögen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einhauchen. Aber auch jene Stolzen, die das Mißlingen einer Absicht nicht niederdrückt, sondern die sagen dürfen: »Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren, und eben darum habe ich mehr vom Leben als ihr alle.« Solche Menschen weisen die negativen Tugenden von sich, jene Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist. Ihr Ziel bestimmt nicht nur ihr Tun, sondern auch ihr Lassen; denn indem wir tun, lassen wir auch.

Es ist bezeichnend für Nietzsches hohe Einschätzung aller natürlichen Anmut, daß er nunmehr die Epikuräer, die den eigenen Garten haben, unter den geistigen Arbeitern den Stoikern vorzieht. »Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.«

Seine Abwendung von Angriff und Verteidigung kommt auch unmittelbar in sympatisch berührenden Worten zum Ausdruck. »Ringen wir nicht im direkten Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserem Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den andern durch unser Licht!« Aber selbst dieser eigene Ausspruch erscheint ihm nunmehr zu tadelnd. Darum fügt er als unbedingter Jasager hinzu: »Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber beiseite! Sehen wir weg!«

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Möge der Leser hinter solchen Worten nicht Kampfmüdigkeit vermuten. Aus ihnen spricht nur jenes Geltenlassen, dem wir auch in Goethes Heiterkeit begegnen. Denn Nietzsche war nicht vom Leben enttäuscht. »Das Leben ein Mittel der Erkenntnis – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstände?«

Erst aus dieser tapfer heiteren Lebensbejahung heraus konnte Nietzsche auch der von ihm so oft angegriffenen Religion des Mitleidens die Mitfreude entgegenhalten. Man hat zwar mit gutem Willen und bester Gesinnung, aber doch mit Unrecht versucht, seinen scharfen Worten gegen das Mitleiden die Spitze abzubrechen, indem man gleichsam zur Entschuldigung sagte, Nietzsche sei weichherzig und allzu sensibel gewesen, er habe daher für sich selbst der Mahnung bedurft: werde hart! um nicht am Mitleiden zugrunde zu gehen; wie man überhaupt gern die Subjektivität seiner Lehre betonte, die sozusagen Lebensvorschriften umfasse zugunsten seines Wunsch-Ichs, nicht aber seinem eigentlichen Wesen entspräche. Aber solche subjektive Erklärungen sind nur soweit zulässig, als dadurch die objektive Bedeutung seiner Lehre und sein Radikalismus nicht verkleinert werden.

Wohl versagte sich Nietzsche nicht im Leben dem praktischen Mitleiden, wo er dadurch einen Schmerz mildern konnte; aber eine solche Hilfsbereitschaft steht in keiner Weise in Widerspruch mit seiner Abwehr der Gefahren des intellektuell verherrlichten Mitleids. Ist das, frug er sich, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, nicht fast allen anderen unverständlich und unzugänglich, wird unser Leiden nicht immer zu flach ausgelegt? Es gehört zum Wesen der mitleidigen Affektion, daß sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet. Meist liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit,[108] mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt. Er will helfen und denkt nicht daran, daß es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks gibt. Und nun gar das Mitleiden mit sich selbst, diese »Religion der Behaglichkeit«, die da nicht weiß, daß Glück und Unglück Zwillinge sind, die miteinander groß wachsen, oder aber wie bei den Behaglichen miteinander – klein bleiben.

Wie oft ist es leichter, dem Mitleiden nachzugeben, statt sich ihm zu verschließen, wo es gilt auf dem eigenen Wege zu beharren in gewollter Unwissenheit über das, was den Zeitmenschen als das wichtigste dünkt. Helfen? Ja! Aber dort nur, wo man auf Grund verwandter Art sich in die bestehende Not wahrhaft einfühlt und sie versteht. Helfen auf die Weise, auf die man auch sich selbst am besten hilft: die Freunde mutiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Also das lehren, was jetzt so wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: – die Mitfreude!

Auch Goethe fragte: »Vermagst du, wenn deiner Freunde innere Seele von einer ängstigenden Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?« und antwortete: »Du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu lassen und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen genießest!«

Nietzsche hat durch seine mächtige Betonung der Mitfreude gewiß schon vielen Menschen die Widerstandskraft gegen die Unbilden des Lebens gestärkt. Wer seine Gedanken sich einverleibt, wird gewissermaßen immun gegen die Gefahren der Depression. Schicksalsschläge vermag niemand abzuwenden. Aber indem wir die Freude in der Welt mehren, erhöhen wir die Fähigkeit, Leiden ungebrochener und würdiger zu tragen. Daß Nietzsches Lebensbejahung nicht im Sinne eines zügellosen »Auslebens« zu verstehen ist, das erst zu beweisen, erscheint[109] heute kaum mehr erforderlich. Wie sollte er, der so eifrig darauf aus war, unserem Leben den Stempel der Ewigkeit aufzudrücken, in seiner Verherrlichung der Lebensfreude auch nur von ferne an den Taumel flüchtiger Menschen in gemeinem Genuß gedacht haben! Nur wen der heilige Ernst erfüllt, der ihn mit der Ewigkeit verknüpft, erwirbt sich die Tiefe, aus der allein wahre Freude und heiterste Lebensbejahung aufzusteigen vermag.

Man hat mich oft gefragt, welches Werk von Nietzsche ich als dasjenige empfehle, das man in erster Linie lesen solle. Ich empfehle die »Fröhliche Wissenschaft«. Es ist nicht nur »das liebenswürdigste Buch« Nietzsches, sondern auch dasjenige, das am unmittelbarsten Freude bringt und also in den Geist seiner Lehre einführt. »Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!«

Amor fati, als Liebe zum Schicksal, das war die Verkündigung, die zugleich auch ihm, dem schwer Leidenden, nicht nur Trost bereitete, sondern auch den Mut und den Stolz stärkte, in keiner Lebenslage zu verzweifeln. Der nur ist der wahre Jünger Nietzsches, der ihm hierin nicht die Nachfolge versagt. Wenn wir unser persönliches Ungemach aufbauschen, beklagen und beseufzen, wäre es auch nur im Selbstgespräch, so vermehren wir damit die Verdrossenheit und zumeist auch die das Leben vergiftende moralische Entrüstung. Wie leicht müssen wir alle unser privates Ungemach finden, sobald wir es wägen mit dem Gewicht der schmerzerfüllten wahrhaftigen Fernstenliebe Nietzsches. Sein Genius lehrte ihn, überpersönlich das große Leid der Menschheit in sich aufzunehmen, um der Verdüsterung des Lebens durch kleines Leid entgegenzuwirken. Nicht damit er den Opfertod suche, sondern trotz alledem und alledem zu leben wisse und durch den Stolz des Ertragens und[110] weise Sinngebung ewiger Bedeutung den Wert des Lebens in Freude wandle, erfüllt von dem tapferen Entschlusse: »alles in allem und großem: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-Sagender sein!«

– Das letzte Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« ist ebenso wie die Vorrede der zweiten Auflage erst vier Jahre später entstanden. Wohl schließt es sich in seinen Gedankengängen den ersten Teilen unmittelbar an, doch erkennen wir aus ihm, wie recht wir hatten, in der »Fröhlichen Wissenschaft« einen Übergang aus den Eisgefilden analytischer Wissenschaft auf den fruchtbaren Boden Werte bestimmender Philosophie zu erwarten. Mit bewußter Entschiedenheit spricht der Philosoph es nunmehr aus, daß die großen Probleme sich nicht von denen fassen lassen, die sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens antasten. »Die Selbstlosigkeit hat keinen Wert im Himmel und auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die große Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen.«

Auch das Verlangen nach Gewißheit, »welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet«, wird nur als Instinkt der Schwäche bezeichnet. Der Spezialist kommt bei fast allen Büchern von Gelehrten irgendwo zum Vorschein, und »jeder Spezialist hat seinen Buckel«. Aber auch dieser Verneinung wird sofort von Nietzsche ehrfürchtig als Bejahung die Wertschätzung jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit zur Seite gestellt.

Die Kunst tritt wieder in die Rechte ihrer Beachtung ein. Auch die Kunst, wie die Philosophie, setzt Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, solche die an der Verarmung des Lebens leiden und um Erlösung von sich oder Berauschung suchen, und solche, die an der Überfülle des Lebens leiden und darum eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine[111] tragische Ansicht und Einsicht in das Leben. Eine Kunst dieses Ursprungs, in der der Wille zum Verewigen aus Dankbarkeit und Liebe kommt, wird immer eine Apotheosenkunst sein, »dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen Homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend«.

Neben den Problemen des Lebens, der Erkenntnis, des Bewußtseins, der Religion und der Moral – schon wird »Jenseits von Gut und Böse« genannt, und wiederum der »Wille zur Macht« erwähnt – vernehmen wir Klänge, die den Zarathustra präludieren. Der Halkyonier, der Heimatlose, der gute Europäer, der freie Geist, der Gottlose und die Argonauten des Ideals stehen dem Humanitarier und dem modernen Menschen gegenüber und künden uns als Vorläufer des Übermenschen die Erhöhung des Typus Mensch an. Das Ideal »eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird«, steigt in der Perspektive auf, und zwar ganz und gar im Geiste der Verheißung, welcher die »Fröhliche Wissenschaft« erfüllt, als freudigste schöpferische Lebensbejahung.

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