Der Enttäuschte

Was ihr niemals überschätzt,
Habt ihr nie besessen.

Goethe.

»Durch die tägliche Not sich und andere höher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen, immer als ein Exzelsor – so wünsche ich mein und meiner Freunde Leben.« Man veranschauliche sich, was dies heißt und heischt. Dann wird man verstehen, wie leicht hierbei die Hoffnung trügt und der Erfolg enttäuscht. Logisch vorgetragene Gründe überzeugen unseren Verstand, mit Wärme dargestellte Gefühle gewinnen unser Herz, beredt entfaltete Überzeugungen unterwerfen sich unsere Gesinnung, aber mit solcher Macht auf Sinn und Seele einzuwirken, daß unser Wille neue Bahnen einschlägt, das mag zu Zeiten religiöser Erhebung im Bann der Suggestion als blinde Nachfolge in die Erscheinung treten, denn alles Bestimmte hat (nach Burckhardt) ein Königsrecht gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen, aber den Einzelnen zu sich selbst führen, daß er aus eigener Kraft nach einem hoch und fern über ihn gestellten Ziel strebt, das verlangt nicht nur große autoritative Kraft vom Führenden, sondern auch eine verwandte Artung bei dem hierfür Ausersehenen.

Und eben nach solchen Fischen, und nur nach solchen warf Nietzsches Sehnsucht die Angel aus. Er begrüßte es daher freudigst, als Rée und Meysenbug ihm von einer jungen Finnländerin Lou Salomé berichteten, sie sei berufen, im schönsten Sinne seine Schülerin und Jüngerin zu werden. Wenn die Schilderung ihrer persönlichen Erscheinung die ich einem Freunde verdanke, zutrifft, so ging von ihr kaum jener Reiz aus, der unmittelbar[123] die Sinne gefangen nimmt. Aber das konnte bei Nietzsche nur die Hoffnung stärken, daß dauernd ein schönes freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen möglich sei. »Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schließen; aber um diese aufrechtzuerhalten – dazu muß wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.«

Die erste Begegnung fand bei seiner Rückkehr aus Messina nach Deutschland in Rom in der Peterskirche statt. Lou Salomé erwies sich in der Tat als eine außerordentliche Intelligenz. Sie folgte seiner Einladung nach Tautenburg in Thüringen, wo er mit seiner Schwester den Sommer 1882 verbrachte. Sein Verkehr mit Salomé währte etwa fünf Monate. Während dieser Zeit versuchte er, sie in seine Lehre einzuführen. Die wenigen Briefe, die Nietzsche an sie schrieb, enthalten einige Stellen überschwenglicher Freude. Wie hätte es ihn auch nicht beglücken sollen, ihr Gedicht »An den Schmerz« zu lesen, das er unter dem Titel »Hymnus an das Leben« ursprünglich für eine Singstimme mit Klavierbegleitung und dann für Chor und Orchester in Musik setzte. Nicht nur die Schlußverse, die das Leben anrufen und die den Höhepunkt der Vertonung bilden:

Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben,
Wohlan noch hast du deine Pein!

sondern das ganze Gedicht atmet Nietzsches Geist. In diesen Versen hat sein schöner Gedanke, auch durch die tägliche Not sich und andere höher zu heben, einen edlen Nachklang gefunden. Entsprach das wahre Wesen der Dichterin dieser Gesinnung, war das Gedicht mehr als intellektuelle Anpassung und reproduktive Anempfindung, so war für Nietzsche wirklich die berufene Schülerin gefunden.

Man hatte ihm, wie seine eigenen Worte bezeugen, Lou Salomé als ein Wesen geschildert, das fast zu gut[124] für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntnis von Kindesbeinen an, jedes Glück und jedes Behagen des Lebens, ja die Gesundheit hingebend für das eine: Wahrheit. Als vollkommen selbstlos und bewährt in einer langen Schule der Aufopferung war sie ihm geschildert worden. Sein eigenes Urteil erkannte bald, daß sie dieser Schilderung nicht entsprach. Aber vielleicht konnte sie vermöge ihrer geistigen Anlagen so werden. Das wenigstens scheint Nietzsche gehofft zu haben. »Wie arm sind Sie in der Verehrung, der Dankbarkeit, der Pietät, der Höflichkeit, der Bewunderung – von hohen Dingen nicht zu reden …« So schreibt man als Mann an ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen doch wohl nur dann, wenn man glaubt, sie durch größte Offenheit erziehen zu können. Hierin aber irrte sich Nietzsche. Ohne Zweifel besaß sie in hohem Grade die Fähigkeit, die Lehren seiner positivistischen Periode zu verstehen, nicht aber die Fähigkeit, seine Ideale zu erleben. Was ihm eine Frage seiner wesenhaften Persönlichkeit war, blieb für sie nur eine Sache des Intellekts. In einem Buche, das sie später als Frau Lou Andreas-Salomé veröffentlichte, »Friedrich Nietzsche in seinen Werken«, ist der Satz zu lesen: »Der einzige wahrhaft wertbestimmende Unterschied zwischen den Menschen liegt ausschließlich in der Art und dem Grade ihres intellektuellen Vermögens; die Menschen veredeln heißt demnach nichts anderes, als Einsicht unter sie tragen.«

Dieser Ausspruch ist bei seiner Einseitigkeit viel weniger für Nietzsche charakteristisch – auch wenn er nur für seinen Positivismus gelten sollte – als für die Schreiberin selbst. Der einzige Unterschied liegt im Intellekt! So urteilt nur ein Mensch, der kein Gefühl für den Adel des Seins durch die Vererbung seit Generationen, noch für die unbewußte Triebkraft des Wachsens und Werdens besitzt. Damit hat sich nicht nur die Verfasserin selbst gerichtet, sondern unbeabsichtigt[125] auch in typischer Weise den Beweis geliefert, daß ein Nietzsche nicht im Positivismus aufgehen, nicht in einer Betrachtungsweise beharren konnte, die für eine solche Lebenswertung immerhin Belege darbot. »Man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizontal-Wolkenhafteste hin.« Ein solcher Ausspruch stand in Widerspruch zu dem wahren Wesen Nietzsches, das sich am treffendsten gerade in seiner Fernstenliebe aussprach, in deren Perspektive der Übermensch steht.

Nietzsche hätte sich mit der Zeit von Salomé und von Rée losgelöst – soviel dürfen wir schon mutmaßen – auch ohne den Zwang der von außen kommenden Enthüllungen, und zwar von dem Augenblicke an, da er sich nicht mehr als der Don Juan der Erkenntnis fühlte.

Salomés Buch enthält manche geistreiche Auslegung. Es zeigt auch, daß einzelne von Nietzsches Mahnungen, die er unter dem Titel »Zur Lehre vom Stil« für sie niederschrieb, von ihr beherzigt wurden. »Das erste was not tut, ist Leben: der Stil soll leben.« Ihre Gestaltungsgabe ist durchaus nicht gering zu achten. Um so schlimmer, daß ihr das intellektuelle Gewissen fehlt.

Wer so maßlos flunkert, nicht nur wo es sich um das eigene Verhältnis zu Nietzsche handelt, sondern auch betreffs der Distanz zwischen Nietzsche und Rée, verdient auch bei durchaus objektiver Prüfung schärfste Zurechtweisung. Selbst wenn die Behauptung, daß sie eine bewußte Fälschung beging, als sie Nietzsches Aphorismus »Sternenfreundschaft« auf Rée bezog, nicht zutreffen sollte, so bedeutet dies jedenfalls, psychologisch betrachtet, einen groben Mißgriff aus Oberflächlichkeit. Ob Lou Salomé tatsächlich mit Rée über Nietzsches Ernst und begeisterte Hingebung an seine Ideale im geheimen spottete, können wir nicht entscheiden, aber ihr Verhalten[126] spricht dafür. Ob die Anklagen, die Frau Förster gegen sie erhob und die durch Frau Overbecks matte Verteidigung eher bekräftigt als abgeschwächt werden – sie selbst hat dazu geschwiegen – in vollem Umfang zutreffen, darüber haben wir nicht zu richten, aber aus Nietzsches eigenen Worten gewinnen wir die Überzeugung, daß ihre »Menschlichkeit« ihm ein Erlebnis bereitete, dessen Atmosphäre nicht in den Stil seines Lebens hineinpaßte. Wie tief Nietzsche darunter litt, bezeugt uns sein schmerzlicher Ausruf: »ein gräßliches Mitleid, eine gräßliche Enttäuschung, ein gräßliches Gefühl verletzten Stolzes quält mich – wie halte ich's noch aus? Wo ist noch ein Mensch, dem man vertrauen, den man verehren könnte!« Es wurde ihm unmöglich gemacht, seinem Grundsatze zu folgen: »Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehen«, denn die Verletzung seines Stolzes verlangte eine scharfe Zurechtweisung durch ihn. Sie ist Lou Salomé in den Worten zuteil geworden: »Ich mache Ihnen heute nichts zum Vorwurf, als daß Sie nicht zur rechten Zeit über sich gegen mich aufrichtig gewesen sind. Ich gab Ihnen in Luzern meine Schrift über Schopenhauer – ich sagte Ihnen, daß da meine Grundgesinnungen drin stünden und daß ich glaubte, es würden auch die Ihrigen sein. Damals hätten Sie lesen und Nein! sagen sollen (in solchen Dingen hasse ich alle Oberflächlichkeit) – es wäre mir viel erspart geblieben! Ein solches Gedicht, wie das ›An den Schmerz‹ ist in Ihrem Munde eine tiefe Unwahrheit.« Er war eifrigst bestrebt, die Erinnerung an sie in seinem Leben durchzustreichen; denn »Ihr dürft nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten. Ihr müßt stolz auf euere Feinde sein«.

Ganz anders verhält es sich mit einer zweiten Enttäuschung, die Nietzsche zwei Jahre später erfuhr, als er abermals hoffte, einen befähigten Jünger zu gewinnen, in dem seine Lehre fortleben sollte. Bereits im Jahre[127] seiner Bekanntschaft mit Lou Salomé schickte Nietzsche an Heinrich von Stein, der ihn in Leipzig aufgesucht aber nicht angetroffen hatte, die »Fröhliche Wissenschaft«. Er erhielt als Gegengeschenk von ihm zwölf Gespräche zugesandt, die Stein unter dem Titel »Helden und Welt« mit einem Briefe Richard Wagners als Vorwort veröffentlichte. Mehrere Briefe wurden gewechselt, durch die sich beide bald näherkamen.

Heinrich von Stein war Nietzsche nicht geistverwandt. Geistverwandt war er viel eher Richard Wagner, von dem er auf Empfehlung von Malwida von Meysenbug als Hauslehrer berufen wurde. In Wagners Sinne, wohl auch auf dessen Anregung schrieb er den Aufsatz, »Shakespeare als Richter der Renaissance«. Der Geist der Reformation, nicht aber der Geist der Renaissance, wie bei Nietzsche entsprach Steins Gesinnung. Ursprünglich Theologe, im Christentum erzogen, löste er sich vom Dogma los, nicht aber von der Moral des Christentums.

»Kopf und Herz müssen zusammenklingen, wenn es einen Akkord geben soll.« Das ist ein charakterisierendes Wort Steins. Er meinte es mit dieser Forderung ernst und ehrlich. Damit bewies er seine Wesens-Verwandtschaft zu Nietzsche. Stein litt schwer unter den Dissonanzen des Lebens, dem Widerspruch von Wahn und Wirklichkeit. Ein solcher Mensch, eng befangen im Mitleiden, voll ritterlicher Gesinnung, zum großen freien Gehorsam geschaffen, harrte des berufenen Führers. Die Umstände führten ihm diesen in Richard Wagner zu. Er war ihm tief ergeben, wie ich mich einmal selbst überzeugen konnte. Es geschah bald nach der ersten Aufführung des »Parsifal«. Die Patrone der Festspiele hielten in Bayreuth eine Versammlung ab. Der Verein hatte seine Aufgabe, soweit es ihm möglich war, erfüllt und sollte sich auf Wagners Wunsch auflösen. Man sprach hin und her. Da fuhr eine edle[128] schlanke Erscheinung in die Höhe und rief in die Versammlung etwa folgendes hinein: »Was soll das alles?! Hier gilt es doch nur eine Frage zu beantworten: Soll der Verein sich auflösen oder nicht? Wagner sagt ja, wollen Sie nein sagen?« – Nach diesen wenigen Worten nahm Stein wieder seinen Platz ein; aber sie genügten, um Klarheit in die Verhandlung zu bringen.

Das war in der Tat eine aufrechte entschiedene Persönlichkeit, wie sie ein Genius als Jünger bedarf, damit sein Wille radikal verwirklicht werde. Aber dieser Mann gehörte Wagner an. Für immer? Das war die Frage, die Nietzsche beschäftigte. In seinem ersten Brief an Stein stehen die Worte: »Man hat mir erzählt, daß Sie, mehr als jemand sonst vielleicht, sich Schopenhauern und Wagnern mit Herz und Geist zugewendet haben. Dies ist etwas Unschätzbares vorausgesetzt, daß es seine Zeit hat.« Da Stein sich im Banne des Pessimismus unglücklich fühlte und sehnsüchtig Aussprüche tat wie: »Freude ist die Leidenschaft, durch die wir besser werden. So viel du dir und anderen Freude stiehlst und verdirbst, daran tust du Sünde«, durfte sich Nietzsche wohl berufen fühlen, Stein aus dem Banne der Schopenhauerschen und Wagnerschen Metaphysik zu befreien, und sich der Hoffnung hingeben, daß er ihm vorbehalten sei.

Er sprach Stein zunächst seine Verwunderung darüber aus, daß er in seinen Dichtungen lauter Probleme der Grausamkeit wähle und nicht nach einer Höhe strebe, von wo aus gesehen das tragische Problem unter uns liegt. Er bekannte ihm: »Ich möchte dem menschlichen Dasein etwas von seinem herzbrecherischen und grausamen Charakter nehmen.« Noch hielt er es nicht an der Zeit, ihn zu den Tiefen und Höhen seiner Lehre zu führen. Aber das wenige, was er ihm mitteilte, genügte, um in Stein die Ahnung zu erwecken, daß der[129] Ruf zur Befreiung aus seinen selbstquälerischen Gedanken an ihn ergangen sei, und daß er dort, als der »Mutige, der sich vor seinem tiefsten Inneren nicht zu schämen hat«, das finden dürfte, was ihm am meisten not tat: »das Vertrauen zu dem eigenen Atem«. Und so reiste er nach Sils-Maria, nicht um des Engadins, sondern um Nietzsches willen.

Die drei Tage, die er dort im August 1884 verbrachte, bedeuteten für ihn und Nietzsche ein Erlebnis, wie es sich selten ereignet. Hier fanden und verstanden sich zwei Menschen, die miteinander – lachen konnten. Das Wort buchstäblich und symbolisch genommen. Stein schrieb begeisterte Ausrufe in sein Tagebuch: »Großartiger Eindruck seines freien Geistes, seiner Bildersprache!« Auch Nietzsche war auf das tiefste ergriffen. Nur mit einem solchen Menschen konnte er moralische Probleme besprechen. Bei den anderen lese er so leicht in den Mienen, daß sie ihn mißverstehen und nur das Tier in ihnen sich freut, eine Fessel abwerfen zu dürfen. »Stein ist eine stolze und reine Herrennatur; er paßt nicht zu diesen niederen Sklavenseelen.«

Stein beklagte es, seinen Besuch nicht länger ausgedehnt zu haben, denn »in der Tiefe lauscht und wacht eine unendliche Sehnsucht nach wirklichem freien Leben«. Nietzsche antwortete ihm tief beglückt, von geheimen Hoffnungen erfüllt: »Von nun an sind Sie einer der wenigen, deren Los im Guten und Schlimmen zu meinem Lose gehört.« Ebenso entschieden erwiderte ihm Stein: »Daß ich Ihnen nichts geben kann, was Sie nicht reicher und besser schon besäßen, ist ja ganz offenbar. Was also kann ich Ihnen bringen: treues herzliches Mitgehen und Verstehen. Und hiermit sei alles gesagt.« Was noch zu sagen übrig blieb, das schien sich fast dem Worte zu entziehen. Aber Nietzsche fand auch hierfür den Ausdruck in einem seiner schönsten Gedichte »Einsiedlers Sehnsucht«, das er für Stein[130] dichtete und ihm als Brief zusandte. Er beklagte vor Stein das Unverständnis der alten Freunde für seine neuen Ziele und ließ zum Schluß an ihn, den neuen Freund, den warmen Ruf ergehen:

O Jugendsehnen, das sich mißverstand!
Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte –
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt!

O Lebens-Mittag! Zweite Jugend-Zeit!
O Sommer-Garten!
Unruhig Glück im Steh'n und Späh'n und Warten!
Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit: –
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

Stein war ohne Vermögen und an seinen Beruf gebunden. Es ist uns daher begreiflich, daß er nach Empfang von Nietzsches Gedicht erwiderte: »Wiederum auf einen solchen Anruf bliebe mir nur eine Antwort: zu kommen; mich dem Verständnis des Neuen, was Sie zu sagen haben, zunächst einmal ganz und gar als einem edelsten Berufe zu widmen. Dies ist mir versagt.«

Nietzsche mochte diese Antwort beklagen, aber sie war nicht dazu angetan, seine Freundschaft für Stein zu erschüttern. Anders freilich stand es um die Worte, die folgten. Nietzsche hatte ihm unausgesprochen gesagt: Löse dich von Wagner, komme zu mir! Und was antwortete ihm Stein? Er antwortete ihm: Verlasse du dich und komme zurück zu Wagner! So und nicht anders mußte Nietzsche Steins überraschende Aufforderung verstehen, nach Berlin zu kommen und sich an Steins »Wagner-Lexikon« durch Mitarbeit zu beteiligen.

Die Erklärung für eine solche Zumutung liegt darin, daß Stein wenn nicht im Auftrage, so doch – wie ich aus persönlichen Mitteilungen weiß – unter Mitwissenschaft Wahnfrieds nach Sils-Maria gereist war, in der[131] Hoffnung, Nietzsche wieder für Bayreuth zu gewinnen. Dort hatte er sich ganz dem Zauber Nietzsches hingegeben, aber nun aus der Ferne erinnerte er sich wohl wieder jener ursprünglichen Absicht. Er hatte Nietzsche bewundernd verehrt, aber seine Blickkraft (ein von ihm selbst geprägtes Wort) war doch nicht groß genug gewesen, um ihm die unvergleichliche Selbstherrlichkeit Nietzsches zu offenbaren, sonst hätte er ihm eine solche Kärrnerarbeit im Dienste Bayreuths unmöglich zugemutet.

Hatte Lou Salomé Nietzsche eine Enttäuschung bereitet, weil ihre Menschlichkeit nicht auf der Höhe ihres Intellektes stand, so bereitete ihm Stein eine Enttäuschung, weil seine Erkenntnis nicht auf der Höhe seiner Menschlichkeit stand. Wer Steins Schriften liest, wird auch dann, wenn er mit seinen Gedanken einer anzustrebenden »Kultur des Gefühls« sympathisiert, doch kaum den Zweifel abwehren können, ob Stein geistig so hoch stand, wie Nietzsche wohl annahm. Er war »ein ganz ernster Mensch«, aber die radikale Erkenntnis für die Unvereinbarkeit sich aufhebender Gegensätze war ihm nicht gegeben. Jedenfalls noch nicht in jener entscheidenden Stunde. Nietzsches Seele war abermals auf das schmerzlichste verwundet. »Was hat mir Stein für einen dunklen Brief geschrieben! und das als Antwort auf ein solches Gedicht! Es weiß niemand mehr, wie er sich benehmen soll!«

Ist das Lou-Erlebnis bedeutsam, weil es uns zeigte, welcher Sphäre Nietzsche nicht angehörte, so ist das Stein-Erlebnis typisch für die Schicksale eines Denkers, dessen Größe ihn zur Einsamkeit verurteilte.

Amor fati! Auch dieses Mal blieb Nietzsche diesem Worte treu. Das für Stein bestimmte Gedicht erhielt nicht nur einen neuen Titel »Aus hohen Bergen«, sondern auch sein Schluß erfuhr eine Umarbeitung. Der[132] trotz aller schmerzlichen Erfahrungen immer wieder zum Leben Ja-Sagende feierte die Erfüllung seiner Einsiedlersehnsucht als Fest der Feste. Nicht in Stein hatte er den so innig ersehnten Genossen gefunden, sondern er schuf ihn sich einzig aus sich selbst.

Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!
Nun lacht die Welt, der große Vorhang riß,
Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis …

[133]

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