Der Pamphletist

In der Liebe … wird die Seele Sklave, und man bringt nur zu oft das Opfer seiner selbst, d. h. das, welches man nicht bringen darf.

Malwida von Meysenbug.

In Sorrent sagte Nietzsche einmal – es war im Jahre 1878 – zu Freiherrn von Seydlitz, dessen Begeisterung für Wagner er damals noch billigte: »Der Himmel behüte uns, daß wir nie in Versuchung geraten, Pasquille über unsre Freunde zu schreiben; Stoff gäbe es freilich da mehr als bei Gegnern; aber eben deswegen –!« Dieser Ausspruch verrät uns, daß Nietzsche sich Zwang antun mußte, um als aufrichtiger Psychologe sich nicht allzu freimütig zu äußern. Damals galt ihm eine solche Zurückhaltung noch als Pflicht, zehn Jahre später sah er darin Mangel an Mut. »Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß …«

Da dieser Wagemut bei Nietzsche – das hat uns wohl sein Entwicklungsgang klar bewiesen – fortgesetzt wuchs, kam er dazu – nicht ein Pasquill gegen seinen freund-feindlichen Gegner, denn ein Pasquill hat stets die Person zum Ziel, wohl aber ein Pamphlet gegen Wagners Wirkung zu schreiben. »Alles, was auf Ehrfurcht sich gründet, bedarf, um bekämpft zu werden, seitens des Angreifenden eine gewisse verwegene, rücksichtslose, selbst schamlose Gesinnung …«, erklärte er ohne jede Beschönigung. Hieraus verstehen wir, daß er selbst seine Schrift »Der Fall Wagner« ein Pamphlet nannte und offen bekundete, daß er auf dieses »Pamphlet gegen Wagner« stolz sei. Er war überzeugt, daß es nicht möglich sei, »so entschiedene Dinge deutlicher und delikater zu sagen«, als es in dieser »übermütigen Farce« geschah. Er war sich voll bewußt, daß der Stil dieses Werkes – die Absicht einer Schrift bestimmte für[215] ihn deren Stil – seiner früheren Schreibweise nicht ähnlich sieht, sondern daß ein allegro feroce der Leidenschaft an Stelle der raffinierten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung getreten ist.

Aber auch ein persönlicher Notstand wirkte sich aus, den wir nicht übersehen dürfen. Die »tote stupide Einsamkeit«, in der er sich befand, erforderte eine Ablenkung, denn er fühlte sich damals zuweilen auf eine unbeschreibliche Weise melancholisch. Gegen diesen Exzeß des Gefühls kämpfte er durch den leidenschaftlichen Stil seiner Schriften in der Turiner Zeit von 1888 mit aller Macht an. Die Leidenschaft betäubt. »Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet musikalischen Inhalts gedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeit betäubt. Sie tut mir wohl, sie macht vergessen. Ich lache wirklich sehr viel bei solchen Erzeugnissen –.«

Wie tief lassen uns diese Sätze, die wir dem Entwurf zu einem Brief verdanken, der für Overbeck bestimmt war, in den Zustand seiner Psyche blicken. Der mutige Drang, was ihm als Überzeugung aggressiv in den Sinn kam, ungehemmt durch Formen der Neutralität aussprechen und das seelische Bedürfnis, die drohende Melancholie durch Leidenschaftlichkeit zu überwinden, erklären uns ebensosehr die Heftigkeit des »Antichrist« wie die Fülle von ätzendem Spott im »Fall Wagner«, ein Spott, der sich durch keine auf Verehrung begründete Rücksicht mehr unterdrücken ließ. Er will den Meister von Bayreuth nicht etwa hämisch verkleinern – »Wagner war etwas Vollkommenes« –, aber die Ehrfurcht vor dessen Zielen und Wirkungen parodistisch überwinden, um die Bahn frei zu bekommen für seine eigenen Ziele und Wirkungen. Gilt es doch die Umkehr durchzusetzen vom pessimistisch gefärbten Idealismus zu dankbarer Wirklichkeitsfreude, von der romantischen Flucht ins Metaphysische zur sinnenfreudigen Erdennähe der Natur,[216] von christlich und demokratisch gerichteter Moral zur aristokratischen Rangordnung der Werte, von der dekadenten Modernität einer sterilen Zivilisation zum fruchtbaren Wachstum der Kultur, von der Theaterhingebung der Kunst an die Instinkte der Massen zur klar bewußten Erziehung der berufenen Einzelnen, von der Schwächung und Zähmung der Triebe aus Naturverlästerung zu deren Stärkung und Züchtung um der höchsten Lebensentfaltung und Menschensteigerung willen.

Nur flüchtig anerkennt er noch, was bei Wagner im Sinne dieser Umkehr sich fördernd erweist. Die herrliche Gestalt des Siegfried bleibt ihm auch jetzt noch unantastbar. Der ursprüngliche Schluß des »Ring des Nibelungen«, der optimistisch konzipiert war und erst später im Sinne der Schopenhauerschen Philosophie eine Umarbeitung erfuhr, bedeutete für Nietzsche »die Götterdämmerung der alten Moral« und den »Aufgang des goldenen Zeitalters«. Auch dort bewahrte sich der entschlossene Kämpfer seine Freude an Wagner, wo dieser seine Kunst nicht in den Dienst des Alfresko-Stils der Theatralik stellte. Er findet ihn bewunderungswürdig, liebenswürdig in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details.

Wie der »Antichrist« den Vorarbeiten zum »Willen zur Macht« entnommen wurde, so auch »der Fall Wagner«, dessen Inhalt ursprünglich für das Kapitel »Modernität« bestimmt war. Ebenso hat er die »Götzendämmerung« als einen Auszug des »Willens zur Macht« bezeichnet. Was veranlaßte Nietzsche, in dieser Weise der Veröffentlichung seines Hauptwerkes vorzugreifen? Doch wohl das Gefühl, daß seine Lebenszeit nicht mehr so lang bemessen sein könne, daß er in Ruhe die allmähliche Wirkung seiner Werke abwarten dürfe, sondern daß es an der Zeit sei, das Entscheidende in grellster Deutlichkeit auszusprechen, um endlich gehört und beachtet zu werden.

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Schon vier Jahre früher hatte er einem mir befreundeten Chemiker, als dieser auf gemeinsamen Spaziergängen in Sils-Maria ihn ermahnte, sich um seiner Gesundheit willen zeitweise der Arbeit zu enthalten, geantwortet, er dürfe keine Zeit verlieren, denn er habe der Menschheit noch vieles darzubieten. Wohl aus dem gleichen Gefühl heraus schrieb er von Turin an seine Schwester, nachdem er durch seinen Gesundheitszustand längere Zeit am Arbeiten gehindert worden sei, habe er nunmehr den großen Zeitverlust für seine Aufgabe durch eine um so angespanntere Arbeit auszugleichen gesucht. Aber nicht nur die Intensität der Arbeit erfuhr eine Steigerung, es drängte ihn auch, die unmittelbare Wirkung zu erhöhen durch die Ausschaltung jeder verzögernden Neutralität.

Auch die »Götzendämmerung« ist infolgedessen vielfach von dem Geiste erfüllt, den uns das Wort Pamphletist kennzeichnet. Ein Kapitel »Das Problem des Sokrates« bietet in diesem Hinblick ein Seitenstück zum »Fall Wagner«. Im Verlangen nach »Vernünftigkeit um jeden Preis« sieht Nietzsche bei Sokrates den Versuch, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, und zwar um seiner Errettung willen aus der Anarchie der Instinkte.

Wie die Psychoanalytiker heute bei Origines, Paulus, Augustin und vielen anderen ihre Bekehrungen als Versuche deuten, sich aus den Qualen verdrängter Sexualität zu befreien, so verfuhr bereits Nietzsche als er schrieb: »Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandene Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn auszeichnet.«

Unwillkürlich drängt uns dieses Urteil die Frage auf, ob nicht vielleicht auch bei Nietzsche ins Unterbewußtsein verdrängte Gefühle den Zorn seiner Worte gegen Sokrates entzündet haben. Für die Heftigkeit der Angriffe[218] gegen Wagner fanden wir bereits eine solche Erklärung in der zwanghaften Überwindung seiner ehemaligen und niemals ganz erloschenen Verehrung – welche Empfindungen aber hatte Nietzsche gegenüber Sokrates zu überwinden? Die Antwort, die Bertram in seinem vorzüglichen Nietzsche-Buch gibt, besagt: der Erzieher in Nietzsche wehrte sich gegen den Fanatiker der Erkenntnis in der eigenen Brust. Aber wir schauen vergebens nach Belegen in Nietzsches Schriften aus, die diese Aussage begründen.

Wohl hat Nietzsche in seinen früheren Schaffensperioden wiederholt anerkennende Worte für die Originalität des Sokrates gefunden, wohl zählte er ihn jenen Menschen zu, die es wagen, »ihrer selbst willen da zu sein«, wohl sah er in den Memorabilien des Sokrates das Zusammentreffen von vielen Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen und Temperamente, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit der Spitze nach der Freude am Leben und am eigenen Selbst gerichtet. Aber diese Einschätzungen, die hauptsächlich aus der Zeit seines Positivismus stammen, bekunden niemals eine entschiedene innere Zusammengehörigkeit, sondern sehr früh schon bezeichnete er trotzdem Sokrates bald als das Urbild, den Typus oder als den Stammvater des von ihm bekämpften theoretischen Menschen und wählte ihn zur Zielscheibe seiner Angriffe, wo immer er optimistische Erkenntnis und tragische Kunstbedürftigkeit einander gegenüberstellte. Das Denken der Griechen im tragischen Zeitalter wurde von ihm allezeit entweder als pessimistisch in der Erkenntnis oder aber als künstlerisch-optimistisch gesehen. Zu beidem verhielt sich Sokrates, als der Mystagoge der Wissenschaft, antipodisch. Aber auch für die Wissenschaft sah er niemals in ihm mit innerer Anteilnahme ein ihm entsprechendes Vorbild. Hörte er doch die sokratischen Schulen die Frage stellen: welches ist diejenige Erkenntnis[219] der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Eine Frage, mit der man nach Nietzsches heroischer Überzeugung die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung unterband. Nur deshalb etwas für wahr halten, weil es uns beglückt, bedeutete ihm stets eine Untreue an der Aufgabe der Erkenntnis.

Trat diese Versuchung zur Untreue am Selbst, am Ziel und Werk auch an Nietzsche heran zur Zeit, als er sich seiner Unbeachtetheit und schülerlosen Einsamkeit schmerzlicher als je mit drohender Melancholie bewußt wurde, gemahnte auch ihn eine Versucherstimme, sich in der bloßen Vernünftigkeit gemäß der Lehre des Sokrates Befreiung und Errettung von der erdrückenden Überlast seiner Aufgabe zu suchen, und setzte seine tapfer ausharrende Treue zum eigenen Selbst, seine opferwillige Hingabe an sein Werk sich eben darum mit größter Heftigkeit zur Wehr, um diese sokratische Versucherstimme zu übertönen mit pamphletischen Schmähungen gegen Sokrates? Begnügen wir uns, diese Möglichkeit anzudeuten; denn die Gegnerschaft zu Sokrates zeigt sich schon lange vorher in so grellem Lichte, und wir begreifen auch ohne eine solche psychologische Erklärung, daß zu jener Zeit, als Nietzsche sich ungehemmt dem Affekte seiner Kampfeslust überließ, sein Zorn gegen jene Gesinnung, die sich für ihn in Sokrates typisch verkörperte, hell aufflammte. Wie alle Bildungsphilisterei Nietzsche gleichsam durch David Friedrich Strauß repräsentiert sah, wie er einfach Pascal sagt, wo er an die Entselbstung durch christliche Religiosität denkt, Schopenhauer und Wagner als Typen bekämpfte, so folgte er seinen griechischen Lehrmeistern, für die »das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen rinnt«, auch hier, wo er die verhängnisvolle Rangentwertung des Instinkts durch den Intellekt: Sokrates nennt.

Dem »Problem des Sokrates« schließen sich in der »Götzendämmerung« Betrachtungen über die »Vernunft[220] in der Philosophie« und die »Moral als Widernatur« und andere oft sarkastisch gefärbte Ausführungen an. Die Schrift, die trotzdem zu den kürzesten aber inhaltreichsten Schriften Nietzsches zählt, sollte ursprünglich den Titel »Müßiggang eines Psychologen« führen. Aber als Peter Gast dem Verfasser schrieb: »Eines Riesen Gang, bei dem die Berge in den Urgründen zittern, ist schon kein Müßiggang mehr« und ihn um einen prangenderen, glanzvolleren Titel bat, da entschied sich Nietzsche mit einem abermaligen Seitenblick auf Wagner für die Bezeichnung »Götzendämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophiert«. Der ursprüngliche Titel dieser »philosophischen Heterodoxie« hätte gewiß weniger auffällig gewirkt, aber, wie mir scheint, die Zugehörigkeit der Schrift zu den ausgesprochen psychologischen Arbeiten Nietzsches dafür deutlicher bekundet.

Über den äußeren Lebenslauf Nietzsches seit der Vollendung des »Zarathustra« ist wenig zu berichten. Um seiner Vereinsamung entgegenzuwirken, schlug ihm Overbeck vor, wieder Lehrer zu werden, »ich meine nicht akademischer, sondern Lehrer (etwa des Deutschen) an einer höheren Schule«. Burckhardt hatte ihn schon vorher sehr eindringlich aufgefordert, Weltgeschichte ex professo zu dozieren und gewissermaßen sein Nachfolger in Basel zu werden. Nietzsche überlegte Overbecks Vorschlag ernstlich, beriet sich darüber auch mit Gast, kam aber zu dem Schluß, daß ihm selbst ein nützlicher und wirkungsvoller Lehrerberuf nur als Erleichterung des Lebens gelten dürfe; erst dann, wenn er seine Hauptaufgabe erfüllt habe, werde sich das gute Gewissen für eine solche Existenz einstellen. Auch sei das Klima Basels für ihn ganz unmöglich, da er reinen Himmel brauche, um nicht an seinem »gräßlichen Temperament« zugrunde zu gehen. Das Suchen nach einem heiteren Himmel – »meine Feinde, die Wolken« – bestimmte die Wahl der Aufenthaltsorte. Außer Sils-Maria erkannte er besonders, je[221] nach den Jahreszeiten vor allen, Nizza und Turin für sich geeignet.

Sein mühsam behauptetes seelisches Gleichgewicht erlitt während einiger Zeit schwere Einbuße durch Mißhelligkeiten mit seinen Angehörigen. Die Verlobung seiner Schwester mit dem Kolonisator Dr. Bernhard Förster, dessen antisemitische Gesinnung Nietzsche widerstrebte, gab die Veranlassung und ließ ihn in Briefen an Overbeck scharfe Urteile über die Schwester fällen. Dr. Rée und Lou Salomé erschienen ihm in solchen Stunden in günstigerem Lichte als zuvor. Aber bald kam er betreff Salomé wieder zu der Erkenntnis: »Dieser Art Mensch, der die Ehrfurcht fehlt, muß man aus dem Wege gehen.« Seine fortgesetzt noch zunehmende Vereinsamung bedrückte ihn schwer. »Wagner war bei weitem der vollste Mensch, den ich kennen lernte, und in diesem Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten,« klagte er Overbeck. Es fehle ihm so sehr ein Mensch, mit dem er über die Zukunft der Menschheit nachdenken könne. »Ich bin durch die lange Entbehrung von zu mir gehöriger Gesellschaft inwendig ganz krank und wund. Nichts kommt mir zu Hilfe, niemand denkt sich etwas aus, das mich erheitern und erheben könnte …« und »Es sollte jemanden geben, der für mich, wie man sagt, lebte.«

Die absprechenden Urteile über die Schwester wurden Overbeck gegenüber aufgehoben durch warme Worte der Anerkennung ihres Wertes nach einer geschwisterlichen Zusammenkunft in Zürich. Er war beglückt, die alte ungeschmälerte Herzlichkeit wieder zu finden. Um so schmerzlicher empfand er die örtliche Trennung durch ihre Übersiedlung mit ihrem Gatten nach Paraguay. Immer wieder in seinen Briefen dahin beklagt er diese Trennung. »Erst seit Du so weit davon gelaufen, fühle ich, wieviel Du mir gewesen bist. Du warst meine Erholung, die Brücke zu den andern.«

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Vorübergehend schien ein Deutsch-Italiener Paul Lanzky zum Adepten berufen; aber auch bei ihm, wie zuvor bei Dr. Paneth und Albert Conradi, wollte Nietzsche nicht, daß er über ihn schreibe, in der Befürchtung, daß auch er nicht in der Lage sei, das Wesentliche seiner Lehre zu erfassen. Wohl erhielt er im Jahre 1886, wie mir sein Hauswirt Durich erzählte, in Sils-Maria die Besuche verschiedener Gelehrter, lebte aber, von solchen gelegentlichen Unterbrechungen abgesehen, durchaus einsam. Einsam bedeutete vor allem unverstanden, war er sich doch darüber vollständig klar, daß wer immer das Wachstum der Kultur erwartete von dem, »was Verbesserung des Menschen oder geradezu Vermenschlichung genannt wird«, nicht sein Ziel der Vergrößerung des Typus Mensch verstehen könne. Einzig bei Burckhardt und Hippolyte Taine glaubte er eine Verständnismöglichkeit voraussetzen zu dürfen. Sowohl Burckhardt als Nietzsche schätzten Taine sehr hoch ein. Nietzsche hatte ihm als »dem ersten zeitgenössischen Historiker« sein bedeutsames Werk »Jenseits von Gut und Böse« zugeschickt und eine Antwort erhalten, die von einer sehr aufmerksamen Lektüre des Werkes Zeugnis ablegte. Er begegnete bei ihm der Richtung vom Individuellen aufs Typische, verbunden mit einer Vorliebe für die starken expressiven Typen, und zwar für die Genießenden mehr als für die Puritaner. Anders stand Erwin Rohde zu Taine, der ihm allzusehr darauf gerichtet schien, den Charakter großer Männer aus der Rasse, dem Milieu und der Zeit zu erklären. Nach zehnjähriger Trennung hatte Nietzsche seinen alten »Waffenbruder« in Leipzig aufgesucht, der sich dort durchaus nicht am Platze fühlte, so daß seine nervöse Gereiztheit den mittlerweile eingetretenen Abstand ihrer Überzeugungen besonders scharf hervortreten ließ. Beide waren enttäuscht. Und als Nietzsche einige Zeit später einen Brief Rohdes erhielt, der ein offenbar übertrieben[223] abfälliges Urteil über Taine enthielt, verteidigte er diesen in einer Rohde verletzenden Weise. Wohl versuchten beide durch nachfolgende Briefe einen Ausgleich herbeizuführen, aber der Abbruch ihrer ehedem so schönen herzlichen Freundschaft vollzog sich trotzdem. So ging ihm auch Rohde verloren.

Das entschiedene Eintreten von Georg Brandes in Kopenhagen für seine Philosophie und deren aristokratischen Radikalismus, die briefliche Wiederanknüpfung mit seinem Freunde von Gersdorff, dazu ein Besuch Deussens, dessen Schriften über indische Religion er hoch und dankbar einschätzte, brachten Lichtpunkte in das umdüsterte Dasein Nietzsches, aber sie vermochten es nur vorübergehend zu erhellen. Die unmittelbare Wirkung von Mensch zu Mensch fehlte ihm. Nur die Erwerbung von Jüngern konnte sie bringen.

Ohne Zweifel verfolgte Nietzsche mit seinem Pamphlet gegen Wagner auch diesen persönlich gerichteten Zweck. Es sollte Männern, die er, wie ehedem Heinrich von Stein, berufen erachtete, ihm anzugehören, durch Überwindung der Ehrfurcht vor Wagner die Augen öffnen für die Unvereinbarkeit ihrer Ziele. »Der alte Verführer nimmt mir, auch nach seinem Tode noch, den Rest von Menschen weg, auf die ich wirken könnte,« ist in einem Brief an Malwida von Meysenbug zu lesen. Daß ein Mann wie Graf Gobineau sich Wagner anschloß, obwohl seine Stellung zum Christentum und zur Renaissance ihn viel eher als geistesverwandt mit Nietzsche erscheinen ließ, erklärt sich uns daraus, daß eben Wagner auch auf dem Gebiete der Kultur bereits als Autorität dastand, Nietzsches Bedeutung aber noch unerkannt war. Auch wissen wir durch Ausführungen von Frau Wagner, daß man in Bayreuth von freier hoher Warte aus Gobineaus antichristliche Gesinnung recht wohl gelten ließ und zu würdigen wußte.

Daß Nietzsche in der Tat voll überzeugt war, sein[224] »Fall Wagner« sei so »maßvoll, so heiter wie möglich« geschrieben, beweist uns der Umstand, daß er sogar an Malwida von Meysenbug, trotz ihrer warmen Begeisterung für Wagner, eine Anzahl Exemplare zur Verteilung schickte, womit er aber nur erreichte, daß auch die Freundschaft mit der »Idealistin«, die ihn mütterlich liebte, aber niemals in die Tiefen seiner Philosophie einzudringen vermochte, in die Brüche ging. Daß auch Malwida von Meysenbug später, aus zeitlicher Ferne gesehen, die Notwendigkeit der Trennung der beiden großen Geister erkannte, bewies mir ein Brief vom 22. Februar 1897. Ich hatte ihr meinen in der Vorrede erwähnten Aufsatz über »Wagner und Nietzsche« geschickt. Sie antwortete: »Ich habe mich sehr darüber gefreut, weil er so gerecht ist und gewiß die Sache im ganzen vollkommen richtig erklärt. Daß trotz der inneren Verschiedenheit die Trennung weniger gewaltsam und in edlerer Form hätte vollzogen werden können, das wäre für alle, die den beiden nahestanden, eine Wohltat gewesen, so wie der gewesene Verlauf ein ewiger Schmerz sein wird.«

Die Aufnahme, die der »Fall Wagner« bei Freunden und Gegnern fand, bewies Nietzsche, daß man das Pamphlet als das Zeugnis eines plötzlichen Gesinnungswechsels ansah und nicht als das Schlußwort über die Gegensätzlichkeit ihrer Ziele, die sich langsam entwickelt und andauernd verschärft hatte. Der Beweis hierfür war nur aus früheren Bemerkungen über Wagner in Nietzsches Schriften zu führen. Der einsame Kämpfer ersuchte Karl Spitteler, den griechisch fühlenden Dichter, eine solche Zusammenstellung herauszugeben. Aber Spitteler lehnte ab. So unternahm es Nietzsche selbst – war er doch immer wieder nur auf sich selbst angewiesen – durch eine solche Zusammenstellung in der Schrift »Nietzsche contra Wagner, Aktenstücke eines Psychologen« den Beweis zu liefern, daß Wagner und er seit langem Antipoden seien. Treffend gelangt[225] der Zweck der kleinen Schrift in einem Briefe Nietzsches an seinen Verleger Naumann zum Ausdruck: »Nachdem ich im ›Fall Wagner‹ eine kleine Posse geschrieben habe, kommt hier der Ernst zu Wort: denn wir – Wagner und ich – haben im Grunde eine Tragödie miteinander erlebt.« Eine Tragödie! Erweisen wir uns fähig, das Verhältnis der gegnerischen Freunde zueinander als solche zu schauen!

Hüte sich, wer feindlich zu Wagner steht, vor hämischer Schadenfreude, aber bewahre sich auch, wer dem Meister von Bayreuth ergeben ist, durch allzu menschliche Auslegung der Angriffe Nietzsches die überragende kulturelle Bedeutung dieses heroischen Kampfes zu verkennen! Als schwerleidender Mensch ist Nietzsche in diesem Kriege seinen Wunden erlegen. Ob er als Philosoph Sieger blieb, oder ob es, wie sein Aphorismus »Sternenfreundschaft« so wunderbar besagt, eine unsichtbare Kurve und Sternenbahn gibt, in der ihre so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen: das kann erst eine ferne Zeit offenbaren. An uns ist es nur, das radikale Antipodenverhältnis der beiden großen Erdenfeinde und Sternenfreunde durch Einlebung in die Tragödie zu begreifen und die Notwendigkeit ihrer Trennung und Bekämpfung als schicksalhaft zu verstehen.

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