Ecce homo

Alle Scheidenden sprechen wie Trunkne und nehmen gerne sich festlich.

Hölderlin.

Wo wir bis jetzt vom »Ecce homo« sprachen, da nannten wir es eine autobiographische Skizze. Aber diese Bezeichnung schält nicht den Kern der Schrift heraus. »Das ist eher eine Psychographie als Biographie zu nennen«, schreibt Dr. Richard Oehler in dem Vorwort, das die Veröffentlichung in der Taschenausgabe einleitet. Auch der Herausgeber von »Ecce homo« in der großen Ausgabe von Nietzsches Werken, Dr. Otto Weiß, erkennt das Werk ganz richtig als psychologische Selbstanalyse; denn »Leben und Lehre, Denken und Schaffen vereinigen sich bei ihm fast zur Identität«.

Nietzsche hat es an seinem vierundvierzigsten Geburtstag, also am 15. Oktober 1888, in Turin begonnen und innerhalb drei Wochen abgeschlossen. Er war sich bewußt, eine extrem schwere Aufgabe in dieser kurzen Zeit gelöst zu haben, nämlich sich selber, seine Bücher, seine Ansichten und bruchstückweise, soweit es dazu erforderlich war, sein Leben zu erzählen. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht bestimmte er es mit dem Mut zum Äußersten für die Öffentlichkeit; es sollte über ihn »ein wenig Licht und Schrecken« verbreiten, ein »Erstaunen ohnegleichen« hervorrufen und als vorbereitende Schrift, als »feuerspeiende Vorrede« für sein kommendes Werk die »Umwertung aller Werte« eine wirkliche Spannung schaffen, damit dieses nicht wie der »Zarathustra« unbeachtet bleibe.

Auch diese Psychographie Nietzsches wurde wie die zunächst vorangegangenen Schriften im Zustande der Euphorie geschrieben. Er fühlte sich auf das Allerglücklichste inspiriert »dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden,[227] das einzig in meinem Leben dasteht«. Er war sich des Überschwanges, der seine Darstellung erfüllt, voll bewußt, wie uns seine Briefe an Fräulein von Salis-Marschlins, Peter Gast und Georg Brandes bezeugen. Er fand, daß diese Schrift mit einem welthistorisch werdenden Zynismus in einer den Meistersingern abhanden gekommenen Tonweise gesetzt sei: »die Weise der Weltregierenden«.

Das schmerzlich erkannte Mißverhältnis zwischen der Größe seiner Aufgabe und der Kleinheit seiner Zeitgenossen läßt ihn im Vorwort ausrufen: »Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor allem nicht!« Er will erkannt werden als eine Gegensatznatur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat, als Gegensatz aller Moralisten, für die Idealismus nicht die Verdichtung und Betonung des Wesenhaften der Realität bedeutet, sondern als Fluch auf die Wirklichkeit den Glauben an eine erlogene Welt. Das ist es, was ihn von der Romantik, so vielfach seine Gefühlslehre sich auch mit ihr berühren mag, grundsätzlich unterscheidet. Wenn man diesen starken, vollbewußten Willen Nietzsches versteht, sich als Gegentypus des moralistischen Idealisten zu zeichnen, dann verfällt man kaum der Versuchung, von »Größenwahn« zu sprechen, obwohl er die stärksten Worte gebraucht, um sich und den Wert seiner Werke zu veranschaulichen. Absichtlich wählt er Überschriften wie »Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin«, »Warum ich so gute Bücher schreibe« und »Warum ich ein Schicksal bin«. Sie sollen dem Leser den Flug auf eine Höhe der Betrachtung ermöglichen, wo Nietzsche frei von jeder Bescheidenheits-Koketterie in höchsten Tönen von sich nicht etwa als Privatperson – »ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrößerungsglases« –, sondern als »der Jünger des Philosophen Dionysos« spricht.

Es galt ihm, das Schicksalhafte seiner Erscheinung[228] zu betonen. Diese Absicht kommt in vielen Einzelzügen dem psychologisch begabten Leser zum Bewußtsein. Nietzsche will in »Ecce homo« symbolisch verstanden werden. Und zwar in dem Sinne, in dem Goethe an Karl Ernst Schubarth schrieb: »Alles was geschieht, ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige.«

Die große Wichtigkeit, die er seiner Abstammung beimißt, die Betonung seiner Konstitution, die einen steten Wechsel von Krankheit und Genesung verursache, vor allem aber die Sinnverknüpfungen mit dem Zufall zeigen uns, wie sehr es ihm auf Darlegungen verborgener Zusammenhänge ankam. Wenn er dem Umstande, daß die Verheiratung seiner Großmutter an dem Tage stattfand, an dem Napoleon in Eilenburg einzog, und dem Datum seiner Geburt am Geburtstag Friedrich Wilhelms des Vierten besondere Bedeutung beimißt, wenn er von der Art, wie seine Aufmerksamkeit auf Schopenhauer gelenkt wurde, sagt: »So etwas Zufall zu nennen, wäre Sünde wider den heiligen Geist Schopenhauers«, wenn er als vorbedeutungsvoll auffaßt, daß ihm bei seinem ersten Besuch in Tribschen die Akkorde aus dem »Siegfried« entgegenklangen: »Verwundet hat mich, der mich erweckt«, wenn er wiederholt darauf hinweist, daß er den ersten »Zarathustra« in der heiligen Stunde vollendet habe, in der Richard Wagner in Venedig starb, oder die historischen Bewandtnisse seiner Aufenthaltsorte zu sich in Beziehung setzt, die Stätten ehrfurchtsvoll kennzeichnet, an denen ihm entscheidende Ideen seiner Werke aufstiegen und so verschiedene Fäden jeder Art zu einem Netz verknüpft: so haben wir in alledem nicht Aberglauben noch Phantasterei zu sehen, sondern das In-eins-Dichten von dem, »was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall«.

Will man diese Einbeziehung des Zufalls in eine verborgene Kausalität, diese Symbolisierung durch freie[229] Interpretation Mystik nennen, so ist es jedenfalls nicht Mystik im Sinne »augenschließenden Anschauens« gemäß der griechischen Herkunft des Wortes, sondern hellsichtiges Überbewußtsein seiner von ihm erkannten Einzigkeit und seiner als Fatum empfundenen Mission, eine Entscheidung von unermeßbarer Fernwirkung heraufzubeschwören. »Niemand wußte vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreitende Wege der Kultur – ich bin deren froher Botschafter … Eben dadurch bin ich auch ein Schicksal.«

Einer solchen Sprache begegnen wir nur bei Religionsstiftern. Und doch war Nietzsche das Gegenteil eines solchen, so sehr auch hier nach dem Gesetz der Polarität die Extreme sich berühren. Wohl sind auch die Religionen wesentlich die Schöpfungen einzelner Menschen, sie können nicht allmählich entstanden sein, sonst besäßen sie nicht den siegreichen Glanz ihrer Blütezeit, aber die Voraussetzungen für ihre Entstehung waren metaphysische Bedürfnisse und Veranlagung zur Kontemplation. Sie verlangten, wie Burckhardt so richtig erkannte, einen Zustand von Exaltation bei der Geburt, so daß wir uns heute von der völligen Kritiklosigkeit solcher Zeiten und Menschen keinen Begriff mehr machen können.

Wo wäre von alledem etwas bei Nietzsche zu erkennen, wo zeigten sich Massen, die er zu berauschen strebte, wo fand er, von Peter Gast abgesehen, zu Lebzeiten seine Jünger? Aber freilich eines hatte er mit den großen Religionsstiftern gemeinsam: »das Königsrecht des Bestimmten gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen«. (Burckhardt.) Das Bewußtsein dieses Königsrechtes gestattete ihm nicht nur in seiner Auto-Psychographie die Tonweise des Weltregierenden erklingen zu lassen, sondern auch durch den Titel »Ecce homo« ein Gegenbild zu der von Paulus erschauten Christuserscheinung aufzurichten, sein Gegenbild.

[230]

Wird die Zukunft die Selbsteinschätzung Nietzsches bestätigen? Wenn wir uns Rechenschaft geben über die Umstellung der Perspektiven, die dank seinem Einflusse in den letzten zwanzig Jahren erfolgte, und uns eingestehen, daß der Nihilismus – das Wort immer wieder in weitestem Sinne genommen – einer mächtigen Gegenwirkung bedarf, wenn wir nicht den Zusammenbruch aller Kultur erleben sollen, so werden wir diese Möglichkeit wohl zugeben und erhoffen. Ob seine Wertlehre, wie Nietzsche vermeinte, sich krisenhaft durchsetzen wird, oder ob sie sich nur allmählich zum Zentrum unserer Gedankenwelt verdichtet, bleibt eine Frage von untergeordneter Bedeutung.

Nietzsche bekannte sich als Dekadent, aber er durfte sagen, daß er zugleich auch dessen Gegensatz sei. Aus Heilinstinkt die Gegenmittel zu finden gegen jede Gefahr persönlicher und kultureller Entartung galt ihm hierfür als sicherstes Kennzeichen. Er hat das Ideal der Wohlgeratenheit uns neu vor Augen gestellt. Die Freiheit vom Ressentiment ist ihr vornehmstes Kennzeichen. Um sie zu bewahren, gilt es zuweilen aus hygienischen Gründen, überhaupt nicht mehr zu reagieren und sich dem Winterschlaf des Fatalismus vorübergehend zu überlassen, bis jede Erschöpfung überwunden und mit der Genesung das Leben wieder reich und stolz geworden ist. Aber auch das aggressive Pathos – in diesem Sinne schaute Nietzsche, kriegerisch gesinnt, immer wieder nach ebenbürtigen Gegnern aus – ist erforderlich, damit wir nicht unterbewußter Rachsucht anheimfallen. Nur so behütet man sich vor Gewissensbissen. Zur Wohlgeratenheit gehört ferner ein gesundes Körpergefühl. Damit gewinnt eine Frage Bedeutung, die bisher keine Philosophen beschäftigte, weil sie die Realität aus den Augen verloren: die Frage der zweckmäßigen Ernährung – »alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden« – und im Anschluß hieran die individuell zu treffende Entscheidung[231] über Ort und Klima, sowie die persönlich bestimmte Art der Erholung.

Für den schöpferischen Menschen kommt zu diesen Diätvorschriften des Leibes und der Seele im Zeitalter des Intellektualismus noch eine andere Mahnung hinzu, nämlich die Forderung, sich die ganze Oberfläche des Bewußtseins rein zu erhalten von großen Imperativen, wie sie der Idealismus zeitigt. Nicht die Weisheit des »Erkenne dich selbst«, sondern die Kunst des »Sich-Vergessens« behütet uns vor der Gefahr, zuletzt nur noch auf äußere Anlässe hin denkend zu reagieren und dabei die Kräfte in der Kritik auszugeben. Der künstlerische Instinkt, lehrt uns Nietzsche, darf sich nicht verstehen, damit die organisierende Idee in der Tiefe zu wachsen vermag. Es gilt, nichts zu vermischen, nichts vor der Zeit zu versöhnen, damit die Vielheit im Unbewußtsein, die trotzdem das Gegenteil des Chaos ist, sich zum Werke verdichtet. Was hier vom Werke gesagt ist, gilt auch vom Leben selbst, vom schöpferischen Leben in seiner schicksalhaften Bedeutung.

Die Liebe und Hingebung an das eigene Schicksal, dieses Motiv des Amor fati, das Nietzsches Lebenssymphonie beherrschte, bestimmte sein Wachstum. »Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben …«

Hier ergibt sich in der Tat eine hellenische Wiedergeburt. Die tragischen Mächte: Dike, Ananke, Moira, als Gerechtigkeit, Notwendigkeit, Schicksalsfügung das All beherrschend, wurden in einem Atem durch dieses Amor fati anerkannt ohne mythologische Vorstellung. Alles was dem modernen Menschen und seiner Sehnsucht als jenseitig gilt, ist in das Diesseits wieder einbezogen.[232] Hier ist, was den christlichen Völkern Gott heißt, in das Selbst des Menschen aufgenommen, das Irdische vom Göttlichen durchdrungen und damit der Dualismus Gott und Welt überwunden, die Weltheiligung, die Goethe im Wilhelm Meister anstrebte, durch restlose Bejahung der Wirklichkeit erreicht. Am deutlichsten zeigt sich uns dies bei Nietzsches Beurteilung der Sinnlichkeit. »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist das Verbrechen selbst am Leben, ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« So spricht nur das Genie des Herzens, das zu seiner Beglückung keines Glaubens an eine jenseitige Macht bedarf, sondern reicher an sich selbst wird, je vertrauensvoller und selbstherrlicher es sich betätigt.

Als Psychograph prüfte Nietzsche seine Werke, mit der »Geburt der Tragödie« beginnend, und zeigt uns ihren inneren notwendigen Zusammenhang. Interpretationen eigener Werke sind durchaus nicht immer in Kunst und Philosophie zuverlässig. Was unbewußt geschaffen wurde, erfährt darin eine nachträgliche Auslegung durch das Bewußtsein, die nur durch Abstraktion sich ermöglicht. Richard Wagners »Mitteilung an seine Freunde« deutet zum Beispiel den Sinn des »Tannhäuser«, des »Lohengrin« usw. auf Grund nachträglich erworbener philosophischer und psychologischer Ansichten und ist von Willkür ebensowenig frei als irgendeine fremde Deutung. Ganz anders bei Nietzsche. Nicht literarisch, noch philologisch betrachtet er seine Werke, sondern einzig als Psychologe seiner selbst, durch Deutung seines Wachstums, seiner Entwicklung unter voller Erkenntnis der Hemmungen und aufgenötigten Umwege. So subjektiv sein Entzücken am eigenen Werk den nüchternen Leser anmuten mag, so unpersönlich wirken seine Worte, sobald man begreift, daß Nietzsche sich selbst dabei nur als den frohen Botschafter fühlte, durch den[233] eine neue Heilslehre, eine Heilslehre des wirklichen Lebens sich offenbaren will.

Wenn Nietzsche harte Worte gegen die Deutschen schleudert und zum Beweise ihrer Berechtigung den Umstand anführt, wie wenig man ihn bisher in Europas »Flachland« verstanden habe, als er seine Leser schon anderwärts überall fand, was anders will er damit sagen, als: erkennt, wie fern ihr noch der Erfassung oder gar der Erfüllung der Aufgabe seid, die durch mich euch gestellt wurde. Solche Worte spricht man nicht, wo man an der Möglichkeit eines entscheidenden Verständnisses verzweifelt, sondern dort, wo man als Erzieher die Scham über die bisherige Versäumnis und die Selbsterkenntnis erwecken will, in der Überzeugung, zu solchen zu sprechen, die vom Schicksal berufen sind, an sich die Umwandlung aller Werte zu erfahren und »eine wirkliche Wiederkehr des deutschen Ernstes und der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen« zu erleben. Darum gilt, was Nietzsche vom »Zarathustra« sagt, erst recht von »Ecce homo«: »Aus dieser Schrift spricht eine ungeheuere Hoffnung«.

[234]

Share on Twitter Share on Facebook