Einleitung

Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.

Fichte.

Zwischen dem Wesen eines Menschen und den Begebenheiten seines Lebens besteht ein tiefer Zusammenhang. Äußere Mächte beeinflussen die organische Entwicklung innerer Kräfte. Umgekehrt entscheidet das Wesen eines Menschen, was an Begebnissen zu Erlebnissen wird und schicksalhafte Bedeutung erlangt. Diese Wechselwirkung von außen nach innen und von innen nach außen bestimmt ebensowohl sein Handeln wie sein Erkennen, sein Leben wie seine Weltanschauung.

Lebensbeschreibungen von Künstlern und Denkern wollen daher nicht nur einer geschichtlichen Darstellung in der Folge der Zeit genügen, sondern Einsichten in Wesen und Wirken erschließen. Sie enthüllen uns nicht nur die Anlässe, die zu bestimmten Problemen führten, sondern auch aus dem Wesen die Voraussetzungen, welche die Gestaltung des Lebens bedingten.

Bei Nietzsche, dem Dichter, Denker und Seher, kommt der Erforschung dieser Zusammenhänge eine ganz besondere Bedeutung zu, weil das Leben selbst das Problem seiner geistigen Tätigkeit bildet. Wie Schopenhauer hat er eine radikale Entscheidung darüber angestrebt, ob das Leben zu bejahen oder zu verneinen sei. Aber während Schopenhauer aus der Erkenntnis der Tragik des Lebens auf die Notwendigkeit einer verneinenden Wertung schloß, hat Nietzsche die Folgerung gezogen: das Leben wird wertvoll durch eine bejahende Wertung. Wir bedürfen keiner Tröstung auf ein Jenseits, das uns für die Leiden des Diesseits entschädigt, sondern der Wert des Lebens hängt davon ab, wie wir seinen Gehalt bestimmen. Darum Nietzsches Mahnung: »Freunde bleibt[10] der Erde treu!« Das Leben will sich, als Organismus betrachtet, im Gegensatz zum Mechanismus der Wirklichkeit, fortgesetzt selbst übertreffen, jedenfalls sich fortgesetzt wandeln. Dieses Werden und Wandeln verlangt von uns andauernd neue Wertungen. Und darum wird der Rang, der dem einzelnen Menschen zukommt, von dem Grad seiner Fähigkeiten entschieden, dem Leben Gehalt zu geben. Wer den Wert des Lebens als an sich vorhanden hinnimmt, wird sich zu ihm vor allem als Genießender verhalten; wer sich berufen fühlt, ihm diesen Wert erst zu verleihen, als Schaffender. »Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke.« Und: »Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden und des Lebens Leichtwerden.« Dem ersteren gilt Tugend als Befolgung autoritativ gegebener Vorschriften, dem zweiten im Sinne der Antike als Tüchtigkeit. Dort die Forderung: Betätigung des Altruismus, hier die Forderung: Läuterung des Egoismus. Jenes das Ideal der massenhaften Schwachen, dieses das Ideal der einzelnen Starken. Dort Herdenmoral, hier Herrenmoral. Dort Herabsetzung der natürlichen Willenskräfte, wie sie das Christentum anstrebt, hier ihre energische Beherrschung, wie sie Goethe fordert mit den Worten: »Des Mannes Vorzug besteht nicht in gemäßigter, sondern in gebändigter Kraft«. Dort als Folgeerscheinung: Sozialismus hier: Individualismus.

Wohl bedingen und fördern Gesamtheit und Individuen einander; aber die Frage steht offen, wem es zukommt, das Ziel zu bestimmen. Liegt dies im größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl, oder darin, daß der Typus Mensch seine größtmögliche Erhöhung erfährt? Wer Wesen und Zweck des Daseins nur im Genuß sieht, den ihm das Glück beut, muß verlangen, daß auch der große Einzelne letzten Endes keine andere Aufgabe kennt, als der Wohlfahrt der Gesamtheit in ihrem Sinne zu dienen; wer dagegen Wesen und Zweck[11] des Lebens in Wachstum und Steigerung sieht, die sich der Entfaltung eines schöpferischen Willens verdanken, wird Nietzsches Worte verstehen: »Das Ziel der Menschheit liegt in ihren höchsten Exemplaren«.

Der Schaffende im Sinne Nietzsches muß die Unterordnung des Schwachen unter den Starken, des Kleinen unter den Großen verlangen. Aber er darf es nur, wenn er sich selbst in den Dienst des Ideals stellt, das in der Richtung des Aufstiegs zu einem höheren Leben leuchtet. Nicht jeder ist zu diesem Aufstieg, der eigene Wege und selbstherrliche Betätigung fordert, berufen; aber jeder kann mittelbar diesem Zwecke dienen, indem er die Bedingungen erfüllt, welche die Entstehung und Entwicklung solcher höheren Menschen fördern. Während der ersten Periode im Schaffen Nietzsches stand in der Perspektive seiner Lehre: das Genie; während der zweiten Periode: der Wissende und während der dritten Periode: der Übermensch, als schöpferischer Gesetzgeber einer solchen Wertlehre.

Was vermögen wir zu tun, daß der Typus des Menschen im Hinblick auf das Ideal des Übermenschen eine Steigerung erfährt? Die Antwort lautet: wir vermögen eine Kulturgemeinschaft zu schaffen, als deren Blüte der höhere Mensch gedeiht. Das Genie war alle Zeit gezwungen, sich im Gegensatz zu der herrschenden Kultur oder Unkultur zu entwickeln; der Weise stellte sich abseits derselben; der Übermensch aber ist als harmonischer Vollmensch gedacht, der aus Kulturverhältnissen erwächst, in die er sich einzuwurzeln vermag. Erhöhung des Typus bedeutet zunächst Erhöhung des Niveau. Wem »Gleichheit« als Parole gilt, wird eine Ausgleichung der Höhenunterschiede anstreben zum Nachteil der Großen; wer die Ungleichheit als gegeben anerkennt, wird im Niederen die Schichten erkennen und ehren, aus denen das Hohe emporsteigt, und sehnsüchtig nach diesem aufschauen. Alle Zukunft wurzelt in der Niederung des Volkes. Aus ihm[12] steigen die Kräfte auf, die sich dereinst zur Blüte entfalten. Diese Einsicht lehrt uns die organische Zusammengehörigkeit von Wurzel und Blüte. Solche Erkenntnis adelt das Verhältnis von Hoch und Nieder.

Kant hat die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens bestimmt. Wir erkennen nur Erscheinungen. Aber wir folgern aus der Erscheinung, »daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich selbst nicht Erscheinung ist«, sondern das »Ding an sich«. Das Ding an sich bedeutet das unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene, also das eigentlich Seiende. Schopenhauer folgerte: Es ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen. Für die äußere Wahrnehmung ist es nicht erkennbar, aber die innere Wahrnehmung, das »Selbstbewußtsein«, kann es zwar nicht nackt enthüllen, aber es doch zum großen Teil entschleiern. Gegenstand des Selbstbewußtseins ist allzeit nur das eigene Wollen. Dieses ist uns unmittelbar gegeben, wenigstens als blinder zielloser Drang. Diesen Drang, als etwas, das nicht weiter definierbar sei, nannte Schopenhauer »Wille zum Leben«.

Lange Zeit begnügte sich auch Nietzsche mit dieser Definition. Dann aber gelangte er zu der Überzeugung: das Wesen alles Geschehens ist nicht Wille zum Leben (Schopenhauer), sondern Wille zur Steigerung des Lebens; nicht Kampf ums Dasein (Darwin), sondern Kampf um ein höheres stärkeres Dasein; nicht Trieb zur Selbsterhaltung (Spinoza), sondern Trieb zum Selbstzuwachs. Auch das Prinzip Wille und Streit des Empedokles steigerte sich für ihn zum Wettkampf um Sieg und Übermacht. »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.«

Wohl ist der Wille zur Macht allen Menschen gemeinsam; aber nach welcher Art von Macht man verlangt und zu welchem Zwecke, erweist sich als rangbestimmend.[13] Auch den höheren Menschen läßt die erlangte Männlichkeit das größte Maß von Macht über die Dinge anstreben und zwar aus innerster Fülle und Notwendigkeit. Dieser Trieb ist bei Nietzsche nicht mehr blind gedacht, wie bei Schopenhauer, sondern alles Tun soll Sinn bekommen. Er ist nicht zügellos gedacht, denn der Befehlende soll seine Kräfte in der Gewalt haben. Aber er ist auch nicht nachgiebig gedacht, denn der Schaffende der neuen Werte darf humanitären Anwandlungen nicht unterliegen. Die Herrscher-Tugend, die Züchter-Tugend ist die, welche auch über ihr Mitleiden Herr wird, um des fernen Zieles willen. In der Perspektive dieser Anschauung steht: der Übermensch als Herr der Erde, und die Forderung: Aufhebung alles dessen, was der natürlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten entgegenstrebt, und endlich Ablösung des Zufalls durch Zusammenfassung aller Kräfte zu diesem neuen Zweck.

Damit ist die Wegrichtung zur Höherzüchtung der Menschheit gewiesen, die den eigentlichen Sinn der Lehre Nietzsches vom aufsteigenden Leben bestimmt. Er hat der Deszendenzlehre Darwins ebenbürtig eine Aszendenzlehre gegenübergestellt.

Wie seine Worte Herrenmoral, Übermensch, Immoralismus usw., so wurde auch Wille zur Macht im Sinne einer Aufweckung niederer Triebe und brutaler Vergewaltigung auf sozialem Boden mißdeutet. Das darf uns nicht wundern; denn das Schicksal des Genies ist es allezeit gewesen, unverstanden zu bleiben, nicht nur gleich einem Menschen, der in einem fremden Lande seine eigene Sprache spricht, sondern das Genie steht auch mit seinen vorausschauenden Überzeugungen außerhalb seiner Zeit. Dem Nachlebenden mag es erstaunlich erscheinen, daß selbst von jenen, die sich zu ihm als Freunde bekannten, Nietzsches Lehre nicht in ihrer vollen Bedeutung erkannt wurde; aber wir haben kein Recht, sie dieserhalb zu schmähen. Wie Jahre vergehen, ehe das Licht eines[14] neuerstandenen fernen Sternes zu uns gelangt, so bedarf auch das Werk eines Genies Jahre und Jahrzehnte, ehe seine Strahlen das geistige Auge treffen. Unsere historisch gebildete Generation setzt heute vielfach ihren Stolz darein, allem Neuen liberal zuzujubeln, um nicht rückständig zu erscheinen; aber sie irrt sich: sie vermag damit das »Moderne« zu erhaschen, das im Vordergrund der Zeiten lebt, nicht aber ungeahnte Werte zu erschauen.

Indem wir zur Betrachtung von Nietzsches Leben übergehen, zeigt sich, daß nicht nur das Unverständnis für seine Worte und seine Lehre ihn jenseits seiner Zeit stellte, sondern es öffnet sich auch der Abgrund, der allezeit breit und tief klafft zwischen Menschen, die der Idee leben, und jenen, denen der Intellekt nur ein Werkzeug bedeutet, sich in der Wirklichkeit zu behaupten.

Frau Elisabeth Förster, Nietzsches verdienstvolle Biographin, hat mit schwesterlicher Liebe und Verehrung Eigenschaften Nietzsches betont, die auch bei dem Fernstehenden Sympathien für seine Persönlichkeit wachrufen; anderseits wurde versucht, die Lehre Nietzsches in die historische Entwicklung der Philosophie einzuordnen, um so, auf die eine und die andere Weise, die Abstände zu überbrücken, die ihn von unserer Zeit trennen. Als Aufgabe dieses Buches aber möchte ich im Gegenteil bezeichnen, den Gegensatz radikal darzulegen, der Nietzsche und seine Lehre trennt von der Gegenwart und ihrem immer noch selbstgefälligen Optimismus im Hinblick auf die erreichte Zivilisation und Kultur. Wohl ergibt sich dabei auch für uns eine Synthese; aber nicht diejenige mit Weltanschauungen der Vergangenheit oder mit Lebensprinzipien der Gegenwart, sondern mit den Erwartungen der Zukunft.

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