Vorrede

Meine persönliche Berührung mit Nietzsche erfolgte in jungen Jahren im Dezember 1871. Damals leitete Richard Wagner in meiner Vaterstadt Mannheim ein Konzert, das als erstes für die »Bayreuther Bühnenfestspiele« durch den von meinem Vater kurz zuvor begründeten »Wagner-Verein« veranstaltet wurde. Gemeinsam mit Frau Cosima Wagner traf Nietzsche aus Basel schon einige Tage vor dem Konzert in Mannheim ein, um nicht nur dem Konzert, sondern auch den Proben, sowie der Uraufführung des »Siegfried-Idylls«, die vor einem Kreise geladener Gäste stattfand, beizuwohnen. Er befand sich des öfteren in Begleitung Wagners, wenn dieser meinen Vater Emil Heckel besuchte, und ich erfuhr von tiefgründigen Gesprächen, die zwischen Wagner, Frau Cosima und Nietzsche in jenen Tagen stattfanden. Sie betrafen hauptsächlich die Griechen und Schopenhauer, sowie die Kulturverhältnisse in Deutschland und weckten mein Interesse für den Wagner so treu ergebenen Basler Professor, der auch an den Bestrebungen des Wagner-Vereins warmen Anteil nahm.

Als sich nach Wagners Abreise die Nachricht verbreitete, er sei in Tribschen bei Luzern lebensgefährlich am Typhus erkrankt, telegraphierte Nietzsche an meinen Vater: »Gerücht ganz unbegründet; beste Nachrichten aus Tribschen. Herzliche Neujahrswünsche dem Wagnerverein. Professor Nietzsche.«

Und wieder vernahm ich von Nietzsche, als er im Mai des nächsten Jahres mit meinem Vater bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth zusammentraf. Nach derselben fuhren Nietzsche, sein Freund[4] von Gersdorff und mein Vater gemeinsam mit Wagner nach der Stadt zurück. Wagner saß ernst und schweigend und sah, wie Nietzsche es so treffend bezeichnete, »mit einem Blick lange in sich hinein«. In seiner unzeitgemäßen Betrachtung »Richard Wagner in Bayreuth«, der ersten Schrift, die ich von Nietzsche kennen lernte, knüpft er an diese Rückfahrt vom Festspielhügel tiefsinnige Betrachtungen an, die er mit den Worten abschließt: »Was aber Wagner an jenen Tagen innerlich erschaute – wie er wurde, was er ist und sein wird – das können wir, seine Nächsten, bis zu einem Grade nachschauen: und erst von diesem Wagnerischen Blick aus werden wir seine große Tat selber verstehen können – um mit diesem Verständnis ihre Fruchtbarkeit zu verbürgen.« Auch in späteren Jahren gedachte Nietzsche noch mit Wärme der Tage der Grundsteinlegung und »der kleinen zugehörigen Gesellschaft, die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte Dinge zu wünschen hatte«.

Auch in der Folge sollte ich Weiteres über Nietzsche erfahren und mittelbar miterleben. Als mein Vater Wagner den Vorschlag machte, Einzeichnungslisten für Patronatscheine zu den Festspielen in den deutschen Buchhandlungen aufzulegen und gleichzeitig einen Aufruf zu erlassen, bat ihn dieser, wegen Abfassung des Manifestes Nietzsche zu Rate zu ziehen, er habe hierfür »ganz besonderes Zutrauen zu ihm – gerade zu ihm«. Nietzsche entsprach der nun erfolgenden Aufforderung und verfaßte seinen zielbewußten »Mahnruf an die Deutschen«. Vorher schrieb er nach Mannheim:

Geehrtester Herr Heckel,

das was Sie von mir verlangen, wird besorgt. Ihr Entwurf für die Buchhändler scheint mir vortrefflich, wie überhaupt der ganze Plan wieder für seinen Urheber spricht. Lassen Sie mir den Entwurf zu näherer Prüfung[5] noch ein paar Tage1, vielleicht kann ich dann den meinigen mitschicken. Ich komme, falls meine Gesundheit irgendwie es zuläßt, am 30. d. M. nach Bayreuth. Von meinem Entwurfe will ich hier eine Anzahl gedruckte Abzüge machen lassen: er ist dann besser zu übersehen und nötigenfalls zu revidieren.

Treulichst Ihr Nietzsche.

Basel, 19. Oktober 1873.

1 Nein: ich schicke ihn gleich und habe ihn bereits durchgesehen.

Wagner billigte die Fassung des »Mahnrufs« durchaus; aber die Delegierten der Wagner-Vereine waren der Ansicht, daß derselbe wohl allen Freunden aus dem Herzen gesprochen sei, aber Gegner und Gleichgültige nicht bekehren werde.

In einem Briefe an Freiherrn von Gersdorff schrieb Nietzsche hierüber: »Also ich war von Mittwochabend bis Montagmorgen auf der Reise, hinwärts allein, rückwärts mit Heckel zusammen. In Bayreuth war etwa ein Dutzend Menschen zusammengekommen, lauter Delegierte der Vereine und ich der einzige Patron an sich. – Nach der Besichtigung in Dreck, Nebel und Dunkelheit war die Hauptsitzung im Rathaussaal, in der mein »Mahnruf« von seiten der Delegierten artig aber bestimmt abgelehnt wurde; ich selbst protestierte gegen eine Umarbeitung und empfahl Prof. Stern für die schnelle Anfertigung eines neuen Fabrikats. Dagegen wurde Heckels vortrefflicher Vorschlag, bei sämtlichen deutschen Buchhändlern Sammelstätten zu errichten, approbiert.«

– In der Verehrung Wagners aufgewachsen, vertiefte ich mich nach dem Besuch der ersten Bayreuther Bühnenfestspiele in das Studium Schopenhauers, veröffentlichte später philosophische Deutungen des »Parsifal«, unterschied jedoch schon damals zwei Richtungen in Wagners Schaffen: die lebensfreudige des Siegfried und die[6] entsagungswillige des Parsifal. Ich beurteilte die Werke Wagners unter diesem Gesichtspunkte als sich ergänzende Gegensätze. Und nun, als ich Nietzsches Werke aus der Zeit nach der Abkehr von Bayreuth kennen lernte, da sah ich auch in Wagner und Nietzsche selbst Kontrapunkte der kulturellen Entwicklung. Diese Erkenntnis veranlaßte mich zu einer Zeit, da man einerseits bei Nietzsche nur eine willkürliche Abtrünnigkeit von Wagner, anderseits bei Wagner nur einen Abfall von seiner seitherigen Lebensanschauung sah, zu einer Betrachtung aus der Vogelperspektive, die bestrebt war, beiden gerecht zu werden. Und so unternahm ich in einem Aufsatz »Wagner und Nietzsche«, der 1897 in der »Neuen Deutschen Rundschau« erschien, erstmals den Versuch, die Scheidung der beiden Freunde als notwendig aus ihrer innersten Natur und Entwicklung darzustellen und auf die Polarität ihrer Bestrebungen zu verweisen.

Daß diese Auffassung Nietzsches eigener Anschauung entspricht, bezeugt uns sein Aphorismus »Sternenfreundschaft«, worin er im Hinblick auf Wagner schrieb: »Es gibt wahrscheinlich eine ungeheuere Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen – erheben wir uns zu diesem Gedanken.«

Mit großer Spannung sah ich der Aufnahme entgegen, die meine Ausführungen sowohl in Wahnfried als im Nietzsche-Archiv finden würden. Aber noch sah man in Bayreuth nur den Abfall Nietzsches von Wagner, nicht seinen eigenen Aufstieg, und so schrieb mir Frau Wagner: Ziele habe Nietzsche nicht gehabt, sondern eine schwere Krankheit, die ihn von Bayreuth trennte; da könne man kaum selbst nur von Meinungsverschiedenheiten sprechen. In vollem Gegensatz hierzu stand die Beurteilung, die mein Aufsatz in Weimar fand. Frau Dr. Förster schrieb an meinen Vater: »Soeben lege ich den Artikel Ihres Herrn Sohnes in der »Neuen Deutschen[7] Rundschau« aus der Hand, und ich kann wohl sagen, daß ich zum erstenmal an einem über meinen Bruder geschriebenen Artikel aufrichtig Freude gehabt habe.«

Gern entsprach ich dem Wunsche von Frau Dr. Förster, sie im Nietzsche-Archiv zu besuchen. Ich hielt daselbst vor einem geladenen Publikum einen Vortrag über Nietzsches Verhältnis zu Wagner und blieb seitdem andauernd in Beziehung zu dem Hause auf dem Silberblick in Weimar, woselbst Nietzsche im Jahre 1900 verstorben war. Gar manche aufklärende Mitteilung wurde mir durch Frau Dr. Förster zuteil, wofür ich an dieser Stelle meinen Dank ausspreche.

Aber auch noch einer anderen Frau darf ich dankbar hier gedenken: der Verfasserin der »Memoiren einer Idealistin« Malwida von Meysenbug, der gemeinsamen Freundin Wagners und Nietzsches. Während eines über mehrere Jahre sich erstreckenden Briefwechsels gab sie mir freundwilligst manche belangreiche Auskunft über Nietzsche.

Die hauptsächlichen Mitteilungen über sein Leben gründen sich vor allem auf Nietzsches Briefe, auf die von der Schwester verfaßten Biographien und auf Erinnerungen, welche von Personen, die mit ihm in Verkehr standen, veröffentlicht wurden. Sie erfuhren Ergänzungen durch persönliche Mitteilungen, die ich meinem Vater, Peter Gast, Freiherrn von Seydlitz, Dr. M. G. Conrad und anderen verdanke.

Mein Aufsatz »Wagner und Nietzsche« in der »Neuen Deutschen Rundschau« bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt für das vorliegende Buch. Indem dasselbe durch Betonung der Polarität zwischen Nietzsche und Wagner, Nietzsche und Schopenhauer, Nietzsche und Sokrates, sowie in Nietzsches Verhältnis zum Christentum, die Grundlinien seiner Weltanschauung scharf und deutlich hervorhebt, hofft es der mächtigen Einseitigkeit seines[8] Radikalismus gerecht zu werden und der Gefahr jedes verwischenden Kompromisses zu entgehen, der so manche Schrift der Nietzsche-Literatur unterlag.

Dieses Ziel galt es unter gleichzeitiger Betrachtung seines Lebens und seiner Lehre zu erstreben. Ich sagte mir, je kürzer und knapper es mir gelingt, frei von jedem gelehrten Beiwerk die Grundlinien seines Lebens und Schaffens zu zeichnen und alle anzuführenden Einzelheiten organisch mit ihnen zu verbinden, desto leichter wird es dem Leser, in die Gedankenwelt Nietzsches einzudringen und ihn mit mir zu – erleben. Dann erst, wenn sich uns, was er lehrte und lebte, dachte, dichtete und sah, zu einem Vollbilde der schaffenden Persönlichkeit verdichtet, dürfen wir zu erkennen hoffen, inwiefern mit Nietzsche, diesem Meilensteinmenschen, eine neue Epoche der Kulturgeschichte anhebt, in der nicht die Verächter des Lebens, sondern die Verklärer des Lebens aus schwerbelasteter Gegenwart uns die Wege in das Heil der Zukunft weisen.

Schöngeising bei München, Ostern 1922.

Karl Heckel.

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