Rückblick und Ausblick

Willst du dich des Lebens freuen,
so mußt der Welt du Wert verleihen.

Goethe an Schopenhauer.

Wir sind gewohnt zwischen arm und reich, hoch und nieder, Gebildeten und Ungebildeten zu unterscheiden, je nachdem wir von der Frage des Besitzes, der Stellung oder den Erfolgen der Erziehung ausgehen. Aber es gibt einen Gegensatz, der tiefer begründet ist als solche soziale Trennungen: Der Mensch, der nicht nur Person, sondern Persönlichkeit ist, nicht nur ein Ich, sondern ein Selbst darstellt, der nicht nur durch die Menschen, sondern am Menschen leidet, der nicht nur für die Wandlung von Institutionen kämpft, sondern um der höheren Idee willen lebt, die er über dem Erreichten als Ideal erahnt und schöpferisch zu versichtbaren, zu verwirklichen strebt – »Dort wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist« –, dieser Mensch in seiner Einzigkeit ist viel tiefer und umfänglicher von den Menschen geschieden, die bei allem feindseligen Wettstreit unter sich doch in ihren Leiden und Freuden an der Realität sich egoistisch und altruistisch verbunden fühlen. Er ist ein primärer Mensch, zu dem alle anderen sich sekundär verhalten. Der Leidensweg solcher Menschen primärer Art führte – wir eignen uns damit eine Zusammenstellung Hans Blühers an – von Plato über Christus, Lionardo da Vinci, zu Goethe und knapp an Schopenhauer vorbei zu – Nietzsche.

Schon in Nietzsches ersten wesenhaften Schriften kommt dieser Gegensatz zutage. Er tritt dem Optimismus seiner Zeit entgegen, die sich von unzulänglichen kulturellen Errungenschaften befriedigt fühlte. Er spricht es aus, daß wir von der Bildungshöhe der Zeit Goethes herabgesunken sind, weil wir nicht an der aristokratischen[244] Natur des Geistes festhielten, daß wir einer Erneuerung der sittlichen Kräfte bedürfen, verlangt im Rückblick auf die Antike eine Renaissance der Kultur und ruft uns zu: wagt es, tragische Menschen zu werden!

Als tragischer Mensch gilt ihm, wer nicht untätig durch Verzicht, unselbstherrlich durch Anpassung, unkriegerisch durch Kompromisse den notwendigen Gegensätzen des Lebens ausweicht, sondern unerschrocken in die Abgründe pessimistischer Erkenntnis hinab und hoffnungsselig zu den Möglichkeiten, die den Menschen geboten sind, hinaufzusehen wagt.

Galt Nietzsche schon der Mensch der Goethe-Zeit und der Individualist der Renaissance höher als der Träger der Gegenwart, wieviel mehr der Hellene in seiner Kunstbedürftigkeit aus Lebensdrang. »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sich hin die Traumgeburt der Olympischen stellen.«

Als große tragische Menschen verehrte Nietzsche damals Schopenhauer und Wagner. Schopenhauer, weil er trotz skeptischem Unmut oder kritisierender Entsagung sich dem Leben als einem Ganzen gegenüberstellt und in seinem tiefen Verlangen nach dem Genie uns zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet. Wagner, weil er ihm als ein solches Genie galt, das damals noch antik fühlte und ihm berufen schien, aus dem Geiste der Musik eine Wiedergeburt der Tragödie, aus dem Geiste der Tragödie eine Wiedergeburt der Kultur zu verheißen. Ihre Gegenbilder sah er, wie uns die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« zeigten, in den typischen Vertretern optimistischer Selbstgefälligkeit, in den Verkündern rein historischer Wertungen, die durch Überbetonung der Wissenschaftlichkeit dem produktiven Leben lähmend entgegenwirken.

Aber Schopenhauer war zu buddhistischer Verneinung des Lebens gelangt, aber Wagner bot nicht die von[245] Nietzsche erhoffte apollinische Vision aus dem dionysischen Geiste der Musik, sondern, auch in Bayreuth, zu Nietzsches Enttäuschung nur den naturalistisch wirkenden Schein der Szene. Nicht Schopenhauer entsprach dem Anruf Goethes »Willst du dich des Lebens freuen, so mußt der Welt du Wert verleihen«, sondern die Erfüllung dieser kulturell entscheidenden Aufgabe fiel Nietzsche zu.

Er übernahm das Erbe seiner als Vorbilder erschauten Meister dort, wo sie ihrer Aufgabe untreu geworden; er mußte sie bekämpfen, wo sie nicht das Diesseits um der Steigerung des Lebens willen verklärten, sondern, christlich befangen, nach einem Jenseits ausschauten. Die Loslösung von diesen Vorbildern war unvermeidlich, sollte Nietzsche zu sich selbst und den eigenen Wegen seiner Aufgabe gelangen.

Skeptisch gegen jede seitherige absolute Wertung mit ihrer Verkennung der bloß relativistischen und perspektivischen Optik, skeptisch gegen jede umschleiernde Idealisierung der Wirklichkeit, wendete er sich von aller Metaphysik ab, um zunächst als Positivist aus der Erfahrung die Voraussetzungen einer neuen wahrhaftigen Kultur herzuleiten. Das Stoffliche, Unvollkommene, ja das Böse und Furchtbare erheischte von ihm eine Würdigung als wurzelhafte Triebkraft, wenn die neue Kultur keimen und sprießen sollte, das Individuelle durfte nicht mehr im Sozialen untergehen. Dem Mittelalter war die Allgemeinheit alles, der Einzelne nichts, der Renaissance der Einzelne alles, die Allgemeinheit nichts. Das Verlangen nach Versöhnung der Kontraste, das Nietzsche als Erbteil seiner Herkunft für sich in Anspruch nahm, ließ ihn auch hier nach einer Synthese ausschauen.

Ich habe diese Gegensätzlichkeit einmal in die Formel gebracht: Wer ganz und gar in der Gemeinschaft aufgeht, bleibt ihr das Beste schuldig, das er ihr geben kann: die Höherentwicklung seines Selbst. Wer ganz und gar auf sich beharrt, bleibt sich das Beste schuldig, das er sich[246] geben kann: die schöpferische Entfaltung seines Selbst innerhalb der Gemeinschaft.

Nietzsche aber erkennt die Wechselbeziehung von Gemeinschaft und Einzelheit, die organische Verbundenheit von Wurzel und Blüte in der Entwicklung des überragenden Einzelnen aus den Schichten der Niederung. Dies besagt uns die Lehre vom Übermenschen als Zielsetzung unserer Kulturentwicklung. In ihr haben wir den Kern seiner Philosophie zu begreifen.

Fragen wir uns, worin diese Weltanschauung sich unterscheidet von dem, was bisher als Ziel aller religiösen und philosophischen, aller humanitären Sinngebung des Lebens galt, so müssen wir uns sagen: hier Zähmung des Tieres Mensch durch Zivilisation, dort Züchtung des höheren Menschen durch Kultur. Die unmittelbar aus dem Gefühlsleben gebotene Dichtung des »Zarathustra« veranschaulicht uns mit magisch waltender Schöpferfreude, mit hellseherisch offenbarender Erkennerfreude, voll Ekel am alltäglichen Menschen, voll Lust am möglichen Menschen das Ziel, das bestimmt ist, der Welt neuen Wert zu verleihen.

Dieses Ziel kann unter Nietzsches Führung nur der höhere freiere Mensch erschauen, und doch ist es letzten Endes nicht für ihn allein erstellt. Wir alle, ohne Ausnahme, vom Höchsten bis hinab zum Niedersten sollen seiner Verwirklichung dienstbar werden. Die Höheren in klarer Erkenntnis, die Mittleren dank der Führung, die Niederen kraft des Zwanges. Dieses Ziel erheischt: wirke für eine Gemeinsamkeit und Rangordnung, die die Steigerung des Menschen fördert; dieses Ziel erheischt: vollende dich als Einzelner in mutiger Selbstliebe, in unerschrockener Selbstbejahung! Nicht nur als Denker und Dichter, nicht nur als Künder und Künstler, sondern als Seher und Setzer eines neuen Welt- und Wertzieles haben wir Nietzsche zu verstehen, und zu begreifen, daß er als primärer Mensch einen Wendepunkt[247] in der Entwicklung des kulturellen Menschen bedeutet. Dann erst werden wir seinem Leben und seiner Lehre voll gerecht.

Ein Wendepunkt! Nicht mehr sehen wir uns verwiesen auf die Rückverbindung mit einem als vollkommen gedachten, als Gott verpersönlichten Ursein, sei es durch dogmatischen Glauben, sei es durch mystische Einswerdung, sondern auf die tragische Einordnung in das Werden.

Das Werden selbst ist der Sinn des Lebens! Wie die Kunst für den Schaffenden immer am Ziele ist, selbst Ziel ist und nur historisch das Neue das Frühere voraussetzt, so das Werden. Aber wiederum wie das Werk der Kunst nicht im Bewußtsein des Genießenden zum endgültigen Abschluß gelangt, sondern in das Überbewußtsein ausstrahlt, auch in seiner Vollendetheit produktiv weiter wirkt, so das allzeit lebendige Werden, das allzeit schöpferische Leben. Dem Baum ist es nicht um die Frucht, sondern um den Samen zu tun, belehrt uns Nietzsche und veranschaulicht uns so die Ewigkeit des Werdens.

Wohl ist alles, was uns Ziel heißt, schließlich nur relativistisch und perspektivisch zu verstehen. Auch den Übermenschen nennt Nietzsche nur unsere nächste Stufe und weist damit zugleich über sich selbst hinaus; denn auch jede Zielsetzung ist dem Werden eingeordnet. Nur wenn unser Rückblick auf Nietzsches Leben und Lehre uns zugleich einen Ausblick erschließt, verstehen wir das Werden in seinem Sinne.

Auch unsere Ausführungen sind zeitweise zu Synthesen gelangt, die einen Bogen spannten über von ihm erlebte Gegensätzlichkeiten; aber Ruhepunkte des Aufstieges durften uns immer nur als Stationen, nicht als Endpunkte gelten. Wollten wir auch jetzt noch nach einem friedfertigen Abschluß trachten, so verfielen wir Nietzsches produktivem Wirken gegenüber in den gleichen Fehler, den jene begingen, die ihn rein historisch in den Werdegang[248] der seitherigen Philosophie einordneten mit der Genugtuung, daß durch ihn die Erkenntnis bereichert wurde, aber trotzdem alles beim alten verbleibe.

Von der Bergeshöhe Zarathustras aus gesehen, verlieren wohl jene Thesen und Antithesen, die nur in der Niederung einander ausschließen, ihre sich aufhebende Gegensätzlichkeit: Egoismus und Altruismus, Individualismus und Sozialismus, Optimismus und Pessimismus werden zu Korrelata. Aber weder Zarathustra noch Nietzsche selbst sind Versöhner radikaler Gegensätze, sondern Kämpfer für die Selbstherrlichkeit der Einzelnen, die ihnen als Gipfel der Höherentwicklung der Menschheit gelten.

Der schwesterlichen Liebe seiner Biographin dürfen wir es ohne Zögern nachsehen, daß sie zu vermitteln strebte, daß sie seine Güte als Mensch der Unerbittlichkeit als Kämpfer beimischte, die Härte seiner Angriffe zuweilen in der Beurteilung euphemistisch abschwächte: wir aber dürfen nicht davor zurückschrecken, die notwendige Ungerechtigkeit gegen seine typischen Feinde Schopenhauer, Wagner, Sokrates, philiströses Deutschtum und moralistisches Christentum ohne jede unangebrachte Beschönigung, wenn auch von hoher Warte aus, zuzugestehen, wir müssen – getreu seinem Haß gegen jeden feigen Kompromiß, getreu seinem unentwegten Radikalismus – uns um der unerbittlichen Wahrheit willen dazu verstehen, ihn in seiner charakteristischen Einseitigkeit als Kämpfer und Führer zu erschauen.

Nur dann verkleinern wir ihn nicht, wenn wir die Grausamkeit nicht ableugnen, die sein Vernichtermut sich aufzwang; nur dann, wenn wir verstehend teilnehmen an seiner radikalen Verneinung dessen, was Tausenden, in seinem Sinne zum Nachteil ihrer Befreiung und Steigerung, als höchstes Gut, als auszeichnende Tugend in Religion, Moral, Humanität unantastbar gilt.

Den ganzen Positivismus in sich aufzunehmen und[249] doch Träger des Idealismus sein, hat Nietzsche als seine persönliche Aufgabe bezeichnet; er hätte hinzufügen können: den ganzen seitherigen Idealismus in sich zu überwinden und doch der Idee der spiralmäßigen Höherentwicklung des Typus Mensch treu zu bleiben.

Was aber haben wir als unsere Aufgabe zu erkennen, um uns der Nachfolge Nietzsches rühmen zu dürfen? Sprechen wir es so schlicht wie möglich aus: Ehrlichkeit. Erraffen wir den Mut zur Ehrlichkeit, so müssen wir uns – jeder vor sich selbst – auch im kleinen eingestehen: nicht nur die christlichen Tugenden, nicht nur die Forderungen der Humanität, nicht nur die hochtrabende Begeisterung für das Wahre, Schöne, Gute, nicht nur die gelegentliche Hingebung an Kunst und Wissenschaft, sondern selbst der Moralbegriff der Pflicht sind uns schillernde Gewänder geworden, mit denen wir die Nacktheit unseres Egoismus schamhaft umschleiern. Der Mut zur Ehrlichkeit vor uns selbst aber fehlt uns gar oft nur darum, weil uns der Mut zur Anerkennung unseres von der Natur gegebenen Egoismus fehlt. Daß er aus unserem Unterbewußtsein heraus uns im Fühlen, Denken, Handeln fortgesetzt bestimmt, das wissen wir, das können wir uns heute nicht mehr ableugnen. Aber immer auf halb und halb eingestellt, räsonieren wir vor uns selbst: Unbewußt ja, da sind wir alle dem Egoismus untertan, aber eben darum soll er uns nicht auch das Bewußtsein vergiften, halten wir uns wenigstens die Gesinnung rein.

Es gab Zeiten, da man mit solchen Maximen sich sein Gewissen reinigen konnte, da die Überzeugung »der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« den Weg zur Selbstrechtfertigung erschloß; aber heute wissen wir, daß es sich anders verhält. Nicht bei der bewußten Absicht liegt die letzte Entscheidung, sondern unser Fühlen und Denken ist abhängig von unserem unbewußten Sein. Auch der Geist ist nur Werkzeug unserer organischen[250] Konstitution. Nur solche Gedanken, die wir uns einverleiben, haben den Erfolg, aus unserer Wesenhaftigkeit heraus tathaft zu wirken. »Was dich in Wahrheit hebt und hält, muß in dir selber leben.« (Theodor Fontane.) Heute dürfen wir uns nicht mehr der radikalen Mahnung verschließen, die absolute Trennung von Fleisch und Geist als unzulässig zu erkennen, heute müssen wir, um der Ehrlichkeit willen, von uns fordern: Wirklichkeitserkenntnis und Idealismus in Einklang zu setzen. Auf Kosten des Idealismus! Eine erschreckende Forderung für den, der von der Sündhaftigkeit der Menschen überzeugt ist, eine erhebende Forderung für den, der amoralisch auf die Tatsachen menschlicher Triebhaftigkeit hinblickt und sie – bejaht. Nun muß uns Idealismus, soll er nicht in eitel Dunst aufgehen, nicht mehr das Hinwegdenken des Niedrigen, sondern die Verdichtung des Wesenhaften bedeuten. Nun gilt es nicht mehr unseren Egoismus feig zu verleugnen, sondern ihn als Willen zur Macht anzuerkennen, zugleich aber scharf zu unterscheiden, welche Ziele dieser Machtwille sich stellt und mit welchen Mitteln er sich auswirkt.

Abgesehen von allem, was auch uns als allgemein verbindlich verbleibt, treten nun neue Forderungen an uns heran, die sich aus der gewonnenen Neueinstellung zur Umwertung der Werte ergeben. Sind es wieder nur kategorische Imperative oder allgemein gültige Dogmen, die von jedem das gleiche fordern? Die Einsicht in den Relativismus aller Wertungen heißt uns diese Frage verneinen, heißt uns übrigens auch Nietzsche gegenüber nicht in blinde Nachbetung verfallen, sondern durch ihn zur sehenden Erkenntnis unserer selbsteigenen Pflicht gelangen. Wie uns Glück schließlich immer nur das bedeutet, was gerade uns als das höchste Gut gilt, gemäß unserer Eigenart, so bedeutet uns Pflicht als Komplex immer nur das, was sich gerade uns als die eigentliche Aufgabe unseres Lebens erschließt. Inwiefern der Erfüllung[251] dieser Pflicht durch unsere Unzulänglichkeit Grenzen gezogen sind, aber auch inwiefern wir diese Grenzen zu erweitern und neu zu bestimmen vermögen, darüber kann einzig unsere eigene Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit entscheiden. Aus der natürlichen Ungleichheit der Rechte folgt auch eine Ungleichheit der Pflichten, weil die Wesensunterschiede zwischen Mensch und Mensch nach Art, Gattung und Persönlichkeit eine Ungleichheit der Aufgaben und eine Verschiedenheit der Teilnahme an gemeinsamen Aufgaben bestimmt.

Wahrhaftigkeit! Aber wir können nicht ohne Illusionen leben. Wir bedürfen der Fiktionen als Mittel, um uns Wege zu erschließen, wir bedürfen der Hypothesen, um uns Möglichkeiten vorzustellen, wir bedürfen idealer Zielsetzungen, um unseren Aufstieg zu ermutigen. Auch das Dogma absoluter Wahrheit erfriert im Eise dieser Erwägungen, nicht aber das Ideal der Wahrhaftigkeit, so wenig als unser Gemüt die Religiosität preisgibt, wenn unsere Vernunft auf die Religion verzichtet.

Wieviel Lügenhaftigkeit zwischen theoretischem Idealismus und praktischem Tun wir heute noch hinnehmen, bestimmt den Grad unserer Ehrlichkeit; wieviel Wahrheit zwischen Wirklichkeit und Scheinbedürftigkeit wir zu ertragen vermögen, kennzeichnet das Maß unserer Seelenstärke; wieviel neue Ziel- und Wertsetzung wir uns einverleiben, bekundet die Macht unseres schöpferischen Willens und endlich wieviel Gegensätzlichkeit von Leid und Lust, von Zufall und Kausalität, von Irrtum und Wahrheit wir in uns harmonisch vereinigen können, die Gesundheit und den Reichtum unserer Menschlichkeit.

Nietzsches Philosophie ist in ihrem Kerne Axiologie, das aber heißt: Wertbestimmung, Rangerteilung, Zielsetzung, Sinngebung und Formgestaltung der Möglichkeiten am vornehmsten Material, das die Natur bietet: am Menschen. Die Voraussetzung hierfür liegt im urständig[252] Schöpferischen. Ein magischer Zauber geht aus von dem Worte, mit dem Nietzsche diesen Urquell aller Spontaneität benennt. Die Fülle der Natur an zeugender und gebärender Kraft, an tiefster Leidenschaft und höchster Freudenschaft, ihre Wunderwirksamkeit im Schaffen und Vernichten und Wiederschaffen, ihr Einssein im Genius der Gattung und ihr unendlicher Reichtum im Vielsein der Individuen, dieses Mysterium des unerschöpflichen Lebens, dem alle Entelechie als ein Stück Ewigkeit sich verdankt, heißt ihm: Dionysos.

Von seinem ersten Buche »Der Geburt der Tragödie« an bis zum »Ecce homo« hat er sich als der Jünger des Dionysos gefühlt, als der Ja-Sager zu allem was ist, als der frohe Botschafter dieser Lehre im Widerspruch zu allem, was das Leben herabsetzt, statt die Welt mit dem Jubel des Daseins, dem Reichtum der Formen, der Wertsetzung der höchsten Ziele miterlebend zu beschenken. Das letzte Wort seines letzten Werkes lautet: »Dionysos gegen den Gekreuzigten!« Darum Immoralist, darum Anti-Metaphysiker, darum Anti-Nihilist, darum Anti-Christ! Und darum Verkünder einer neuen Lehre, die das verhängnisvolle Erbteil der Vergangenheit als Negation des Lebens bekämpft, und darum Verkünder einer neuen Lehre, die von uns verlangt, daß wir treu zur Erde stehen aus Freude am Seienden, aus Fernstenliebe zum Werdenden.

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