Der Kranke

Das schnellste Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.

Meister Eckardt.

Über die Krankheitserscheinungen bei Nietzsche sind wir durch seine Briefe – das Nietzsche-Archiv enthält deren gegen 1500 – sowie durch die Darstellungen seiner Schwester unterrichtet. Er war in seiner Jugend durchaus gesund. Nur seine Kurzsichtigkeit darf uns für diese Zeit als Erbübel gelten. Die Erkrankung, die er sich beim Heimtransport Verwundeter von den französischen Schlachtfeldern zuzog: Brechruhr und Rachendiphtheritis, erklärt sich als Ansteckung. Sie wurde durch Anwendung starker Mittel überwunden; aber er war nicht vollständig genesen, als er seine Vorlesungen in Basel wieder aufnahm. Nach der Überzeugung seiner Schwester griffen die scharfen Arzneimittel seinen Magen an und legten den Grund zu heftiger Migräne, die ihn nie mehr ganz verließ.

Ein Briefbekenntnis: »Unsereins leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so daß ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte« und die erkannte Notwendigkeit, »eine gewisse Härte der Haut wegen der großen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen«, weisen uns darauf hin, daß er damals bereits von beiden Seiten ins Feuer kam. Rohde gegenüber klagt er schon 1871 über Schlaflosigkeit: »immer noch verbringe ich von zwei Nächten die eine schlaflos«, und drei Jahre später, in einem Briefe an die Mutter: »die Schwäche des Magens nimmt zu sehr überhand«.

Als er in Steinabad im Schwarzwald sich zur Kur aufhielt, stellte Dr. J. Wiel, darin mit Prof. H. Immermann in Basel übereinstimmend, die Diagnose auf[235] nervöse Affektion des Magens. Unter den vier Ärzten, die ihn 1878 und 1879 untersuchten, behaupteten zwei, daß ein Kopfleiden die Ursache seiner Schmerzen sei, während die beiden andern, darunter Prof. Graefe in Halle, der Überanstrengung der Augen die Schuld gaben. Später behandelte ihn Dr. Otto Eiser aus Frankfurt am Main mit günstigem Erfolg, so daß er sich vorübergehend als Genesener oder mindestens als Genesender bezeichnen durfte. Aber immer wieder traten nach kürzeren oder längeren Pausen Gehirnschmerz samt mühseligem Erbrechen auf. Bald hören wir Nietzsche selbst, so in einem Briefe an die Mutter vom Juli 1881, die Diagnose auf ein schwer zu beurteilendes Hirnleiden stellen. Als Deussen ihn im Sommer 1887 in Sils-Maria besuchte, gestand er dem vertrauten Freunde: »Ich glaube, daß es nicht mehr lange mit mir dauern wird; ich bin jetzt in den Jahren, in welchen mein Vater starb, und ich fühle, daß ich dem selben Leiden erliegen werde, wie er.«

Wenn wir in einem Briefe an die Schwester vom Jahre 1886 lesen: »Schaff mir einen kleinen Kreis Menschen, die mich hören und verstehen wollen und ich bin – gesund« und wiederholt ähnlichen Bemerkungen begegnen, so tritt freilich auch an uns die Versuchung heran, in seiner trostlosen Abgegrenztheit von den Menschen seiner Zeit eine immer neu sich wieder geltend machende Ursache seines schweren Leidenszustandes zu suchen. Aber jeder Psychologe belehrt uns, daß nicht die äußeren Umstände an sich entscheiden, sondern die Einstellung zu ihnen.

In den ersten Tagen des Jahres 1889 schickte Nietzsche meist mit »Dionysos« oder mit »der Gekreuzigte« unterschriebene Briefe und Zettel an verschiedene Freunde und Bekannte ab, die diesen den Ausbruch seiner geistigen Erkrankung bekundeten. Hierdurch wurde Franz Overbeck veranlaßt, ihn dringend zu sich einzuladen,[236] um dann, als ihn ein Basler Irrenarzt auf die Gefahr verwies, die mit dieser Aufforderung heraufbeschworen wurde, eiligst selbst nach Turin zu reisen. Dort erfuhr er, daß Nietzsche infolge eines Schlaganfalles auf der Straße zusammengebrochen war. Seitdem traten Wahnvorstellungen zutage. Overbeck gelang es, ihn nach Basel zu verbringen, von wo er in Begleitung seiner herbeigerufenen Mutter, eines Arztes und eines Krankenwärters die Reise nach Jena in die Irrenanstalt des Professor Binswanger antrat. Die Ärzte erklärten die Krankheit als unheilbar, während die Mutter, wie leicht begreiflich, aus jeder vorübergehenden Besserung, Hoffnung auf Genesung schöpfte.

Sein Gedächtnis erwies sich in der ersten Zeit für alle Geschehnisse vor dem Zusammenbruch in Turin als gut. Auf absichtlich, als eine Art Gedächtnisübung gestellte Fragen, zum Beispiel nach Epikur, Aristoteles usw. antwortete er mit geistreichen Ausführungen, während ihn das Gegenwärtige wenig interessierte. »Auch sein Klavierspiel«, berichtete die Mutter an Overbeck, »hat etwas so Sinniges, so daß man merkt, er denkt dabei.« Er war glücklich, wenn sie ihm vorlas, und ließ sich in der Regel vermöge seiner angeborenen Güte und Freundlichkeit leicht lenken.

Ende des Jahres 1890 kehrte seine Schwester nach dem Tode ihres Gatten aus Paraguay zurück. Der Kranke durfte die Anstalt in Jena verlassen und nach Naumburg übersiedeln, wo die Mutter in den ersten Jahren des öfteren größere Spaziergänge mit ihm unternahm. Seit 1894 verschlimmerte sich sein Zustand. Nach dem Ostern 1897 erfolgten Tode der Mutter bezog die Schwester mit ihm in Weimar das auf dem Silberblick gelegene Haus – das heutige Nietzsche-Archiv –, von dessen Veranda er einen schönen Blick auf die Stadt und die Berge genoß. In den Jahren 1898 und 1899 erfolgten neue Schlaganfälle. In ein langes Gewand von[237] dickem, weißem Stoff gekleidet, ruhte er meist auf dem Diwan und empfing zuweilen noch Besuche, immer von der Schwester auf das liebevollste behütet. Am 25. August des neuen Jahrhunderts starb der Seher, der einer vergangenen Zeit das Grablied gesungen und die Morgenröte einer neuen Kultur ankündigte.

Es drängt sich die Frage nach ererbter oder erworbener organischer Erkrankung in den Vordergrund. Bekanntlich glaubte der Psychiater P. J. Möbius die Hypothese aufstellen zu dürfen, daß eine frühere Luës der Grund der späteren paralytischen Erkrankung Nietzsches gewesen sei. Für den Psychiater die zunächst liegende Hypothese, aber den Beweis für seine Behauptung ist uns Möbius durchaus schuldig geblieben. Als Gegenbeweis ließe sich wohl anführen, daß die Ärzte, die Nietzsche frühzeitig zu Rate zog, doch wohl auch diesbezügliche Fragen an ihn gestellt haben dürften, und daß er, wenn er sie hätte bejahen müssen, wahrlich nicht dazu gekommen wäre, mit jener souveränen Unbefangenheit, fernab von der Berührung jeder derartigen Mutmaßung, über seine Krankheit in seinen Schriften und Briefen, sowie in seinen Gesprächen – ich erinnere an die Unterredung mit Deussen – sich zu äußern und unter die Erklärungsmöglichkeiten Hinweise aufzunehmen, die eventuell Veranlassung bieten, die Frage nach der Vererbung zu stellen.

Sein Vater ist bekanntlich ebenfalls an einem Gehirnleiden gestorben; aber da kein Anhalt sich bietet, der uns annehmen läßt, daß die Gehirnerschütterung, die er bei einem Sturz erlitt, es nur ausgelöst habe, ist es ausgeschlossen, seine Todesart zur Beweisführung heranzuziehen, und wir sind einzig auf die ganz allgemein gehaltenen Bemerkungen Nietzsches angewiesen, die zu einem endgültigen Urteil keinenfalls ausreichen.

Frau Förster-Nietzsche schreibt, ihren Bruder betreffend: »Die Ärzte nannten seine Krankheit ›eine atypische[238] Form der Paralyse‹, d. h. eine Paralyse die durchaus nicht die Kennzeichen dieser Krankheit trug – also nicht Paralyse war« und führt den Schlaganfall in Turin auf den fortgesetzten Gebrauch von Chloral und eines andern Schlafmittels zurück. Das ist jedenfalls nicht unbedingt von der Hand zu weisen; denn selbst Möbius gesteht zu, auch der Chloralismus Nietzsches könne die beobachteten Wirkungen hervorgebracht haben.

Am kläglichsten nehmen sich jedenfalls die psychiatrisch-philosophischen Untersuchungen aus, die nach der Art von Max Nordau und Hermann Türk aus Nietzsches Werken den Beweis frühzeitiger geistiger Erkrankung zu führen versuchen. Dem einen gilt dies, dem andern gilt das, je nachdem wo gerade sein Widerspruch einsetzt, als Beweis, der jedoch vor jedem einsichtigen Urteil in nichts zerfällt. Bei Wilhelm Schacht zum Beispiel lesen wir: »Wenn Nietzsche sagt: ›ein Gedanke kommt, wenn er will, nicht wenn ich will‹, so drückt sich darin schon das Gefühl aus, welches er seiner eigenen, frei und unabhängig mit ihm spielenden Phantasie gegenüber empfand, die er nicht mehr bändigen konnte, die schon Macht über ihn gewonnen hatte.« Welcher Dichter, welcher Denker ist, auf diese Weise geschaut, nicht irrsinnig zu nennen? Eben das zeichnet ja das geniale Wesen aus, daß es nichts bewußt erklügelt, sondern daß dank der unterbewußt waltenden Kräfte der Einfall dann ans Licht tritt, wenn er will. »Einfälle sind Eingebungen des Genies«, schreibt Kant.

Auch wenn wir Paralyse bei Nietzsche annehmen, ergibt sich durchaus nicht, daß sein geistiges Schaffen vor dem Zusammenbruch eine Hemmung erfuhr, viel eher sogar, daß ihm dadurch eine Steigerung zuteil wurde. Als ich durch persönlichen Verkehr mit einem anderen Genie, nämlich Hugo Wolf, der ebenfalls in Wahnsinn fiel, zu der Vermutung kam, daß die außerordentliche Steigerung seiner Produktivität gerade[239] aus seiner krankhaften Veranlagung und deren Entwicklung zu erklären sei, ging ich auf Veranlassung einer Freundin des Komponisten dieser Vermutung nach. Die von mir befragten Ärzte konnten keine bestimmte Antwort über die Möglichkeit erteilen, um so bedeutsamer erschienen mir unter diesen Umständen Ausführungen von Dr. Möbius, die meine laienhafte Ansicht vollauf bestätigten. Ich zitiere diese Ausführungen wörtlich: »Ja, es könnte einer die Meinung aufstellen, unter Umständen würden durch eine Gehirnkrankheit die Geisteskräfte gesteigert. Es sei denkbar, daß das krankhafte Feuer Leistungen hervorbringe, die ohnedem unmöglich wären, und ein solcher Fall liege in Nietzsches ›Zarathustra‹ vor.« Möbius führt zur Unterstützung dieser Meinung an, was V. Parant über Zunahme der geistigen Fähigkeiten im Beginn der progressiven Paralyse geschrieben hat, und bleibt, trotzdem die Literatur ähnliche Mitteilungen sonst nicht aufweise und befragte Fachgenossen nichts davon wissen wollten, bei der Überzeugung: »Immerhin wäre eine Steigerung der Leistungen durch die Paralyse nicht ganz undenkbar.« Er stützte sich dabei auf die Erkenntnis, die Paralyse sei eine durchaus lokalisierte Erkrankung, die sich ihre Stellen aussuche, und folgerte: »Nimmt man an, es seien im Anfange durch Erkrankung bestimmter Fasern nur die Hemmungen ausgeschaltet, deren Wegfall Fehlen des Ermüdungsgefühles und Euphorie ergibt, so ist zunächst eine gesteigerte Leistung der arbeitenden Teile zu erwarten. Manche werden auch daran denken, daß durch die von den kranken Stellen ausgehende Reizung der Blutzufluß im ganzen gesteigert werde und daß die Hyperämie die Mehrarbeit begünstige.«

Damit sei durchaus nicht gesagt, daß wir uns das geistige Schaffen Nietzsches nur aus der Einwirkung einer Paralyse zu erklären vermöchten, statt aus der bloßen Tatsache der genialen Veranlagung. Die Oberflächlichkeit[240] von einseitig gebildeten Psychiatern, wie sie der Typus Lombroso repräsentiert, hat die Frage nach der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn verwirrt. In der »Fröhlichen Wissenschaft« vergleicht Nietzsche Europa einem Kranken, welcher der ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig sei; Gefahren, Schmerzen »haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist«.

Dem Genie begegnen wir nur dort, wo die nüchterne Verstandestätigkeit die Vorherrschaft verloren hat, wo die unmittelbare schöpferische Tätigkeit nicht durch Übermacht des Bewußtseins im Bann gehalten wird, sondern sich auszuwirken vermag. Beim normalen Menschen öffnen und schließen sich gleichsam die Schleusen und Wehre des Bewußtseins automatisch und gleichen die bewußten und unterbewußten Zuflüsse aus, beim Genie dagegen ergibt sich eine Hochflut im Unterbewußtsein; aber nur dann, wenn die schützenden Dämme durchbrochen werden, dürfen wir von Irrsinn sprechen. Jedes Genie als eine pathologische Erscheinung zu werten, gilt mir daher trotz der verwandten Symptome als Mißbrauch des Wortes.

Die Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn finden wir mit Schopenhauer wohl viel richtiger in der mangelnden Erkenntnis der Relationen der Dinge. Auch das Genie, indem es in den Dingen nur die Idee sucht, verliert wohl darüber die Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge zeitweilig aus den Augen. Das Erkennen wird ihm zum Zweck des ganzen Lebens, das eigene Dasein zur Nebensache, zum bloßen Mittel. Sein Unterbewußtsein wird zur Camera obscura, in der wesenhaft sich die Ideen spiegeln, die es dank seiner Phantasie zu einem Weltbild vereinigt. Weder die unmittelbare Nützlichkeit des Zweckes, noch die kluge Ausnutzung der Mittel bestimmen sein Verhalten. Beide, das Genie[241] und der Wahnsinnige, leben in einer anderen Welt als der für alle vorhandenen. Die anatomischen und physiologischen Bedingungen mögen verwandte sein, nämlich das abnorme Überwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft. Wie man in jedem Kinde gewissermaßen ein Genie sehen darf, so umgekehrt im Genie ein großes Kind, das fremd in die Welt schaut und den lauteren und unschuldigeren Teil des Menschen in sich bewahrt, woraus sich uns auch seine gleichsam überirdische Heiterkeit erklärt, der meist eine tiefe Melancholie als Untergrund dient. Wo das Genie seine abnorm erhöhte Erkenntniskraft auf die Angelegenheiten des Willens richtet, faßt es diese leicht zu lebhaft auf, steht alles in zu grellen Farben, ins Ungeheuere vergrößert und verfällt auf Extreme, so daß man Schopenhauers Gegenüberstellung recht wohl versteht: Das Genie ist ein Monstrum per excessum, der Wahnsinnige ein Monstrum per defectum.

Während für philiströse Naturen in der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn eine Verurteilung jedes Genies liegt, empfindet der naive Mensch eher umgekehrt. Der Ausbruch des Wahnsinns bei einem geistigen Menschen bestätigt ihm gleichsam dessen Genialität und umgibt ihn mit der Aureole der Heiligkeit.

Das Volk hat ein instinktives Gefühl für den Fluch der Einsamkeit, die jedes Genie zu erleiden hat. »Der Mensch von Genie«, sagt Schopenhauer, »ist verdammt, in einer öden Welt zu leben, wo er nicht auf seinesgleichen trifft, wie auf einer Insel, die keine anderen Bewohner hat, als Affen und Papageien.« Dieses Gefühlsverständnis dafür, daß das Genie gleichsam die Leiden der Welt auf sich nimmt, daß es am Menschen selbst leidet und um des Menschen selbst willen lebt und schafft, erfüllt uns mit Ehrfurcht und einem Gebot fast immer verspätet auftretender Dankbarkeit. Geben wir dieser Ehrfurcht Raum in Hirn und Herzen, nachdem[242] unser Erkennen den Mysterienpfaden nachgegangen ist, die Nietzsche als tragischer Mensch wandelte. Er grub als Denker zu tief, er stieg als Dichter zu hoch, er schaute als Seher zu groß, er wollte als Werte bestimmender, Gesetze erlassender Prophet und Philosoph zu stark, um bei aller Wirklichkeitsfreude an der flachen Niedrigkeit und Kleinheit des Irdischen, mit der optimistische Anpassung in ihrer Nüchternheit sich zufrieden gibt, Genüge zu finden: er errichtete uns ein Ziel, das nicht als jenseitige Verheißung unsere Niedrigkeit und Ohnmacht trösten soll, sondern als Blickpunkt übermenschlicher Sehnsucht unsere Willensbejahung und Lebenssteigerung stärken muß; denn seine Liebe entzündete sich an der stummen Schönheit der Notwendigkeit. Wie symbolisch bedeutsam ist es, daß die letzten Verse, die das letzte Gedicht seiner Werke beschließen, also lauten:

Schild der Notwendigkeit!
Höchstes Gestirn des Seins!
– das kein Wunsch erreicht,
– das kein Nein befleckt,
ewiges Ja des Seins,
ewig bin ich dein Ja:
denn ich liebe dich, o Ewigkeit – –

[243]

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