3. Visiten.

So deutlich, wie mir dieser erste Morgen im Hause meiner lieben »Tante Anstand«, wie ich sie scherzend nannte, im Sinne geblieben, ist es freilich mit alle den darauf folgenden Tagen und Stunden nicht der Fall. Doch stehen mir besonders aus der ersten Zeit meines Aufenthaltes noch viele einzelne Scenen so deutlich in der Erinnerung, als hätten sie sich eben erst zugetragen, und von diesen will ich denn weiter erzählen.

»Hole dir Hut und Tuch, Gretchen, wir wollen einige Visiten machen!« sagte die Tante eines Tages, und ich eilte, ihrer Weisung zu folgen, um schnell fertig zu werden, denn sie liebte es gar nicht, auf mich zu warten. Nun war ich aber an solch' feierliches Ausgehen gar nicht gewöhnt, denn zu Haus stülpte ich schnell meinen Hut über und sprang sonst, wie ich war, hinaus in Garten und Flur; Shawl, Handschuh, Schirme, Aufschürzer und was dergleichen nöthige Gegenstände mehr waren, die zu einer Stadtpromenade gehörten, kannte ich wenig. So kam es denn regelmäßig, daß ich jetzt irgend etwas von diesen Dingen vergaß, was ich erst bemerkte, sobald wir unterwegs waren, und natürlich wurde die Tante hierüber oft recht verdrießlich.

Heute nun hatte es geregnet, und so schürzte ich mit zwei niedlichen Klammern, welche die Tante mir zu diesem Behufe geschenkt, mein Kleid sehr sorgfältig auf, denn oft hatte die Tante mich aufmerksam gemacht, wie häßlich es aussah, wenn nett gekleidete Damen entweder die guten Kleider im Schmutze nachschleppten, oder sich dieselben so ungeschickt aufnahmen, daß man alle Etagen ihrer Unterkleider verfolgen konnte, wobei sich oft nicht eben das Sauberste den Augen darbot. »Oben hui, unten pfui!« wie Tantchen sagte. Mit Shawl und Regenschirm wohl ausgerüstet folgte ich eilig meiner Führerin, welche wie gewöhnlich früher als ich fertig war. Auf der Treppe aber bemerkte ich erst, daß ich meine Handschuh vergessen, und erschrocken sprang ich zurück, dies mir recht unangenehme Kleidungsstück zu suchen. Glücklich holte ich die Tante auch bald ein, bemerkte aber in der Eile nicht, wie naß die Straße war, und daß ich dünne Zeugstiefeln an den Füßen hatte, bis die Tante plötzlich stehen blieb und auf mein Fußwerk zeigte.

»Ohne Ueberschuh in solchem Wetter, Mädchen?« rief sie unwillig. »Das geht nicht! Erstens bekommst du nasse Füße, und zweitens verdirbst du deine guten Zeugstiefeln. Kehre schnell um, hole dir Gummischuh und komm mir dann nach, du kannst mich bei Geh. Rath Delius treffen, wohin ich zuerst gehen werde.«

Auf Windesflügeln lief ich nach unsrer Wohnung zurück und holte die vergessenen Schuh aus ihrem Kasten. Aber wie ärgerlich! Sie waren von dem Schmutz des letzten Regenwetters noch völlig überdeckt, und ich mußte nun warten, bis Dore sie mir gereinigt hatte.

»Warum dachte ich auch daran nicht und setzte die dummen Dinger schmutzig in den Kasten!« brummte ich ärgerlich und trippelte vor Ungeduld mit den Füßen. »Mach doch nur rasch, Dore,« schalt ich dann heftig, »ich kann ja sonst Tantchen nicht mehr einholen, und muß dann allein bei Geh. Rath Delius in das Zimmer treten!« Mir wurde ganz heiß vor Angst bei diesem Gedanken, und so schnell ich konnte, rannte ich der Tante nach, so daß ich in tausend Pfützen patschte, alle Menschen umriß, die mir begegneten, oder denselben meinen aufgespannten Regenschirm vor den Magen stieß.

»Gott bewahre, die hat's eilig! Das fahrige, junge Ding!« hörte ich hinter mir drein rufen, aber unaufhaltsam stürzte ich vorwärts, um die Tante noch einzuholen, ehe sie an dem betreffenden Hause angelangt war. Doch vergebens, ich hatte mich zu sehr verspätet und mußte nun allein in das Zimmer treten.

Mit hoch klopfendem Herzen folgte ich dem anmeldenden Diener, und trat dann schüchtern der Dame des Hauses entgegen, welche mich freundlich bewillkommnete. Tante Ulrike saß schon neben ihr auf dem Sopha, stand jedoch bei meiner Ankunft ebenfalls auf, um mich der Geheimräthin vorzustellen. Da kam ein schrecklicher Moment: ich mußte meine Verbeugung machen! Ach das war ein großer Stein des Anstoßes, und täppisch genug mochte ich mich bewegt haben, ich fühlte es ordentlich an meinen zitternden Knieen und der brennenden Gluth, die mein Gesicht bedeckte.

»Kommen Sie näher, liebes Gretchen!« sagte die Geheimräthin herzlich und bot mir einen weichen Lehnstuhl zum Niedersitzen an.

»Erlauben Sie, liebe Freundin, daß Gretchen zuvor Ueberschuhe und Regenschirm in den Corridor trägt!« sagte die Tante jetzt, als ich mich eben ängstlich auf den Lehnstuhl setzen wollte.

Erschrocken fuhr ich schnell wieder von meinem Sitz empor und blickte an mir hernieder. Da sah ich denn, in welch' erbaulicher Verfassung ich in meiner Hast und Verlegenheit in dies elegante Zimmer eingetreten war! Nicht bloß, daß ich vergessen, mein aufgeschürztes Kleid herunter zu lassen, damit es die Röcke bedeckte, welche bei dem schnellen Sturmlauf arg besprützt worden, sondern ich hatte auch meine kothigen Ueberschuh an den Füßen behalten, welche herrliche Spuren auf dem glatten Parquetfußboden, sowie auf dem köstlichen Teppich zurück ließen. Ebenso umklammerte meine Hand noch mit krampfhafter Gewalt den Regenschirm, an dessen Spitze die Gewässer des heutigen Regenhimmels in sanften Strömen herab träufelten und sich zu einem kleinen See auf dem Fußboden vereinigten.

Eine scheue Entschuldigung stammelnd stürzte ich zum Zimmer hinaus und entledigte mich in der Vorstube dieser argen Missethäter. Dabei blickte ich in den Spiegel und sah nun, wie wenig meine Erscheinung für eine feine Morgenvisite geeignet war. Das Haar hing vom Winde gezaust nach allen Himmelsrichtungen um meine Stirn, der Hut saß schief und hatte eine arge Quetschung beim Kampf mit andrer Leute Regenschirmen erhalten, die Schleifen meines Knüpftuches hingen im Nacken, und der Kragen war eben im Begriff, auf und davon zu gehen.

»Daß auch Tantchen gerade bei solch' gräßlichem Wetter Visiten macht!« dachte ich ärgerlich und brachte meine Toilette wieder einigermaßen in Ordnung. Während ich aber hastig noch damit beschäftigt war, fiel mein Blick auf meine Handschuh, und neuer Schrecken durchfuhr mein armes Herz! Ach in der Eile und Hitze hatte ich ein Paar alte ergriffen, und erst jetzt mußte ich das bemerken! Was würde die Tante sagen, wenn sie das sah, denn sehen würde sie es, ihrem Auge entging ja nichts! Und was sollte die vornehme Geheimräthin von mir denken, vor der ich mich schon so schrecklich blamirt hatte! Anbehalten mußte ich die abscheulichen Dinger, denn ohne Handschuh, wie ich auf dem Lande ging, das wäre ja ganz unschicklich! So trat ich denn ängstlich und zaghaft wieder in das Visitenzimmer herein, meine Hände sorgfältig unter den Enden meines Shawles versteckend, was mir aber ein noch steiferes, ungelenkeres Benehmen gab.

Die liebe Dame des Hauses war taktvoll genug, meinen Wiedereintritt wenig zu beachten und sprach eifrig mit der Tante, und so setzte ich mich still auf einen einfachen Rohrstuhl, denn ohne Aufforderung wagte ich den schwellenden Polstersessel nicht wieder einzunehmen.

Da saß ich denn schweigend eine lange Zeit und hatte Muße genug mich zu sammeln. Ich zog und zerrte heimlich an den Fingerspitzen meiner unglückseligen Handschuh, von denen an einer Hand zwei, an der andern gar drei Finger aufgeplatzt waren, so daß die Fingerspitzen wie Rosenknospen aus der Blätterhülle hervorleuchteten. Es half aber nichts, davon wurden sie nicht wieder ganz.

Endlich hatte ich Verlangen, mein Taschentuch zu gebrauchen und griff darnach, aber siehe da, mein Tuch fehlte, ich mußte es in der Eile verloren oder im Vorzimmer liegen gelassen haben. Das war doch gar zu unangenehm! Wie sehnlich wünschte ich, Tantchen möchte aufbrechen, aber diese schien nicht daran zu denken und sprach lebhaft immer weiter. Da endlich stand die Geheimräthin auf, um dem Diener zu klingeln, und diesen Moment benutzte ich schnell. Mit einem flehenden Blicke neigte ich mich zu Tante Ulrike hinüber und zog das feine Taschentuch aus ihrer Hand, was sie zwar ruhig duldete, aber ein mißbilligendes Schütteln ihres Kopfes sagte mir gar wohl, was sie von ihrer ausgezeichneten Nichte dachte.

»Friedrich, sagen Sie meiner Tochter, daß Besuch bei mir ist!« rief die Geheimräthin dem eintretenden Diener entgegen! Bald öffnete sich denn auch die Thür des Nebenzimmers, und eine hohe, schlanke Dame in höchst eleganter Toilette schwebte zu uns herein. Mit ein Paar ruhigen, schmachtenden Augen blickte sie um sich, und begrüßte dann die Tante mit einer leichten Verneigung. Mich schien sie gar nicht zu sehen, obwohl ich in meiner ganzen Länge neben ihr stand, bis endlich ihre Mutter mich vorstellte. Das miserable Compliment, das ich der Dame des Hauses bei meinem Eintritt gemacht hatte, wollte ich jetzt durch ein besseres wieder gut machen, und so verneigte ich mich vor Fräulein Amanda denn höchst schulgerecht fast bis zur Erde, und ich war wirklich ganz zufrieden mit mir. Das Fräulein aber nickte kaum bemerkbar mit dem Kopfe und ließ sich dann langsam in den von mir leer gelassenen Lehnstuhl niedergleiten, in welchem sie sich nachlässig zurücklehnte. Das schien ihr aber noch nicht bequem genug zu sein, denn sie zog sich einen kleinen Fußschemel herbei, auf den sie ihre Füße stützte, und während sie den Kopf leicht auf die eine Hand lehnte, und mit der andern einen zierlichen Fächer auf und zu rollte, sah sie mich mit halb geschlossenen Augen lange schweigend an.

Mir trat bei dieser Prüfung der Angstschweiß auf die Stirn, ich rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her und blieb endlich auf der äußersten Stuhlecke hängen, dunkelroth bis zum Wirbel.

»Sie sind wohl vom Lande?« sagte die junge Dame endlich mit gezierter Stimme.

Neue Gluth färbte mein Gesicht bei dieser einfachen Frage. Bis jetzt war ich noch immer stolz auf meine Heimath gewesen, und mein Auge leuchtete, wenn ich jemand davon erzählen konnte, jetzt aber war mir, als müßte ich mich schämen, daß ich »nur vom Lande« war, denn ich fühlte recht wohl die Geringschätzung, welche für mich in dieser Frage Amanda's lag.

Die Tante, welche zwar während dieser Zeit mit der Geheimräthin gesprochen hatte, erlöste mich von meiner peinlichen Situation, indem sie an meiner Stelle antwortete. Nach einiger Zeit, in welcher ich wieder stumm dagesessen hatte, denn wie hätte ich gewagt, dieses Fräulein meinerseits anzureden, wandte sie sich abermals zu mir.

»Wie alt sind Sie denn, Liebe?« fragte sie herablassend, ungefähr so, wie eine Prinzessin ein armes Mädchen fragen würde, das eine Gnade von ihr erflehen möchte. Auch mein Alter hatte ich bis jetzt Jedermann offen und freudig genannt, Amanda Delius gegenüber aber war ich wie ausgetauscht.

»Eben 16 Jahre geworden!« lispelte ich, abermals vor Schaam erglühend, daß es nicht mehr Jahre waren.

»Also noch ein Backfischchen!« schmachtete Amanda gelangweilt, und wehte sich mit ihrem Fächer langsam frische Luft zu.

Es war durchaus nichts Neues, Unbekanntes, was das Fräulein mir da sagte, ich wußte recht gut, ich war noch ein Backfischchen, die Tante und alle Leute sagten es mir Tag für Tag, und nie war mir der Name unangenehm oder beleidigend gewesen. Aber jetzt aus dem Munde Amanda's kam er mir unerträglich vor, und ich hätte weinen können vor Aerger und Verdruß. Zum Glück stand jetzt die Tante auf und verabschiedete sich von Mutter und Tochter, und so wurde ich aus der unangenehmen Lage erlöst, in der ich mich befand, denn mit diesen wenigen Worten schien mich das Fräulein abgefertigt zu haben und sprach nun entweder gar nicht, oder gab einige Bemerkungen zu dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und Tante Ulrike.

Nun Gott sei Dank, endlich waren wir wieder auf der Straße! Ich ging ganz stumm und beschämt neben der Tante her, und diese sprach Anfangs auch kein Wörtchen. Endlich aber sagte sie: »Nun Gretchen, heut' hast du dich mit Ruhm bedeckt, das muß ich sagen!«

»Ach Tantchen, ich bin ganz außer mir über meine Dummheiten!« rief ich nun schluchzend, denn jetzt brach meine ganze Haltung zusammen, und trostlos dachte ich an alles, was so eben vorgegangen war.

»Nun nun, Kind, tröste dich nur, was sollen denn die Leute denken, wenn du großes Mädchen auf offner Straße so weinst und schluchzest!« sagte die Tante beruhigend. »Etwas Unrechtes hast du ja nicht gemacht, nur einige Versehen gegen Anstand und feine Bildung, und das wird schon besser werden!«

»O ich bin ein zu großer Tölpel, Tantchen, schilt mich nur tüchtig, ich verdiene es nicht anders!« rief ich noch immer schluchzend.

»Schelten werde ich dich wegen solcher Dinge niemals, Kind, denn du weißt es noch nicht besser!« entgegnete die Tante liebevoll. »Aber die Erlaubniß, noch länger mein armes Battisttaschentuch mit deinen Thränen zu tränken, die entziehe ich dir jetzt!«

Trotz meiner Thränen mußte ich nun lachen, und bald fand sich denn auch mein Gleichmuth wieder.

»Unsern Besuch bei diesen meinen Freunden betreffend,« fuhr die Tante freundlich fort, »will ich dir nur das noch sagen, was du dir nebst den andern Dingen, die zum Anstand gehören, merken magst: Wenn du dich hinsetzest, es sei auf einen Stuhl oder was sonst, so bleibe nicht auf dem äußersten Rande oder der einen Ecke hängen, sondern nimm ruhig und sicher den vollen Sitz ein, du erscheinst sonst linkisch und ängstlich. Ferner warte, ob man dir die Hand reicht, ehe du die deinige hinhältst, du kannst nicht wissen, ob man auch gesonnen ist, sie dir zu drücken. Endlich aber richte dich mit deinen Verbeugungen, in denen ich dich noch ein wenig zurecht stutzen werde, nach dem Alter und Stande der Personen, vor denen du sie machst. Heut' bekam die würdige Frau Geheimräthin kaum einen kleinen unbedeutenden Knix von dir, während du der prätentiösen Fräulein Tochter ein Compliment setztest, das wenigstens für eine Prinzessin feierlich und tief genug war.«

»Sie war aber auch so unnahbar wie eine Prinzessin!« seufzte ich leise für mich hin.

»Da hast du nun zwar so unrecht nicht!« sagte die Tante lachend, »aber um so weniger huldige ihr nur, die Erlaubniß gebe ich dir. Aber jetzt komm nach Haus, die andern Besuche machen wir ein andres Mal, wenn besser Wetter ist und sich ein Taschentuch in deiner Tasche und anständige Handschuh an deinen Fingern befinden!«

Dachte ich's doch, ihren Augen kann nichts entschlüpfen! Hatte sie doch richtig die Rosenknospen unter ihrer Hülle entdeckt, so sehr ich auch bemüht war, diesen Anblick ihren forschenden Augen zu ersparen. O Tante Anstand!

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