4. Freundschaft.

Zum Glück waren nicht alle Besuche, welche die Tante mit mir machte, so tragischer Natur als dieser eben beschriebene, dennoch aber bekam ich jedesmal ein kleines Visitenfieber, wenn wir uns zu dergleichen Unternehmungen rüsteten. So klopfte mir denn das Herz auch gewaltig, als ich die Tante einige Zeit nach jenem Besuche bei Geh. Rath Delius zu Professor Dunker begleiten sollte.

»Es ist ein junges Mädchen dort im Hause, mit der du Freundschaft schließen kannst!« sagte die Tante unterwegs, doch seufzte ich im Stillen bei diesem Gedanken, denn so sehr mein Herz nach befreundetem Verkehr verlangte, so schienen mir die jungen Mädchen der Residenz ein so andres Geschlecht zu sein, als ich und meine Freundinnen auf dem Lande, daß ich starke Zweifel hegte, hier jemals ein gleichgeschaffnes Wesen kennen zu lernen. Diese jungen Damen standen für mich armes, ungelenkes Dorfkind alle auf einer so unerreichbaren Höhe, daß ich mich immer am liebsten wie ein Mäuschen verkrochen hätte, wenn ich einem solch feinen Fräulein vorgestellt wurde. – So trat ich denn auch hier, von Tantchens Flügeln wie ein Küchlein gedeckt, mit schüchternen Schritten in das Zimmer von Frau Professor Dunker. Eine sehr lebendige, freundliche Dame kam uns mit herzlichen Worten entgegen, und kaum hatte sie uns begrüßt, so eilte sie nach der Thür, und rief: »Mariechen, geschwind komm herein, hier ist lieber Besuch!«

Ein junges Mädchen mit schönem, blondem Haar und freundlichen blauen Augen erschien auf diesen Ruf in der Thür und trat leicht erröthend und etwas schüchtern, aber doch frei und anmuthig zu uns herein. Tante Ulrike umarmte sie herzlich und führte sie dann zu mir, uns mit einander bekannt machend. Das schöne blaue Auge Marie's blickte freundlich in das meine, und indem sie meine Hand ergriff, sagte sie lebhaft: »O ich habe von Tante Ulrike schon so oft von Ihnen gehört, liebes Gretchen, wie freue ich mich, Sie nun kennen zu lernen!« Dabei zog sie mich auf ein kleines Sopha am Fenster, während die älteren Damen entfernt von uns Platz genommen hatten, und redete so herzlich und vertraulich, so frisch und natürlich zu mir, daß mir das Herz ganz aufging vor Freude und Entzücken. Das war freilich ein andres Wesen als Fräulein Amanda Delius, die mich kaum dreier Worte gewürdigt und wie ein Gänschen behandelt, und auch anders als die andern jungen Damen, deren ich bis jetzt einige bei der Tante kennen gelernt hatte. Neben diesem lieben, offenherzigen Naturkinde schwand meine Blödigkeit, bald schwatzten und lachten wir so vertraulich mit einander, als hätten wir uns seit Jahren schon gekannt. Als die Tante sich endlich verabschiedete, küßte mich Marie zärtlich und versprach, mich recht bald zu besuchen, denn sie habe mich so herzlich lieb gewonnen.

»Nun, sagte ich's nicht, ihr werdet gewiß gute Freundinnen!« sprach die Tante, als wir wieder unterwegs waren. »Mariechen ist ein liebes, herziges Kind, und es wird mich sehr freuen, wenn ihr Gefallen an einander findet.«

»Ach sie ist einzig lieb und nett, Tantchen!« rief ich begeistert, »und ich würde glücklich sein, wenn ich ihre Freundin werden könnte.«

»Das sollte auch mich sehr freuen,« entgegnete die Tante, »denn bei all ihrer kindlichen Natürlichkeit ist Marie ein durchaus gebildetes, kluges Mädchen, deren Erziehung sehr sorgfältig geleitet wurde, so daß du viel von ihr lernen kannst.«

Diese neue Bekanntschaft erfüllte mein Herz mit unbeschreiblicher Freude, denn was ich so sehnlich wünschte, wurde mir nun wirklich in schönerer Weise, als ich je gedacht und gehofft hatte. Je öfter ich mit der liebenswürdigen Marie Dunker zusammen traf, je enger schlossen sich unsre Herzen an einander und knüpften ein Band der Freundschaft, welches bis auf den heutigen Tag uns innig und fest umschlungen hält.

Meine Freundin war etwas älter als ich und durch ihre gute Erziehung schon über die schwierige Backfischzeit hinaus, doch hielt sie sich noch immer lieber zu jüngeren Mädchen, als zu ganz erwachsenen, denn ihrem kindlichen Sinn widerstand alles Gemachte, Gezierte, Anspruchsvolle, worin sich die jungen Mädchen hier oft sehr gefielen. Sie war eine allerliebste kleine Blondine, mit feinen, schlanken Gliedern und zierlichen Bewegungen, so daß ich hoch aufgeschossenes Ding mit meinen langen Armen und Beinen, mit denen ich höchst täppisch in der Welt umher telegraphirte, sehr wunderlich gegen sie abstach. Sie hatte ein unbeschreiblich gutes, weiches Herz, das aus ihren Vergißmeinnichtaugen so innig heraus schaute, daß man sie lieb gewinnen mußte, man mochte wollen oder nicht.

Unsre Freundschaft wurde denn auch bald feierlichst mit allen dazu gehörigen Attributen abgeschlossen. Das Erste war natürlich, daß wir uns du nannten, das verstand sich schon beim zweiten Male, wo wir uns sahen, von selbst. Dann schrieben wir uns gegenseitig den feurigsten Freundschaftsgruß in unser Album, ich wählte das Gedicht von Geibel: »O kennst du Herz die beiden Schwesterengel«, in dem Freundschaft und Liebe so schwärmerisch besungen sind; Marie wählte für mich Göthe's reizendes Gedicht: »An Lottchen«, das uns beiden wie aus der Seele gedichtet war. Natürlich trugen wir dann auch bald jede ein goldnes Herzchen, in dessen innerem Heiligthume die aufgerollte Haarlocke der Freundin ruhte, an einer Gummischnur um den Hals, und die Tante besiegelte den Bund noch durch allerliebste goldne Ringe mit blauen Steinen, welche sie uns schenkte. Daß über meinem Nähtischchen binnen Kurzem das kleine Bild meiner Freundin zwischen zarten Epheuranken schwebte, wie meines über ihrem Tische, versteht sich ebenso von selbst, wie die tausend zierlichen Billetchen, welche zwischen uns hin und her flogen. Was hatten wir uns alles zu sagen, wenn wir uns einige Tage nicht gesehen hatten, es war, als gäbe es dann kein Ende mit Erzählen und Fragen.

Von jetzt an begann mein Leben sich unendlich viel angenehmer zu gestalten, denn wenn ich mich auch immer sehr gern mit der liebenswürdigen Tante Ulrike unterhielt, und ihr Umgang für mich von unendlichem Nutzen war, so zählte sie doch so viel Jahre mehr als ich, daß unsre Empfindungen und Ansichten unmöglich ganz gleichartig sein konnten. Meine liebe Herzensfreundin aber fühlte und dachte fast ganz wie ich selbst, nur daß sie mehr erfahren und durchgebildet war und mir dadurch mit gutem Rathe zur Seite stand. Jetzt war mir nicht mehr fieberhaft ängstlich zu Muthe, wenn ich die Tante zu ihren Freunden und Bekannten begleiten sollte, wußte ich ja doch, daß ich meine liebe Marie fast überall traf und an ihr Halt und Stütze in meinen Verlegenheiten fand. Mein Auge flog suchend durch die Räume, sobald ich in den Kreis Fremder eintrat, und erst wenn ich Marie's hellblaues Kleid erblickte, wurde mir froh und sicher zu Muthe, fehlte sie, so fühlte ich mich unbeschreiblich verlassen und einsam.

Marie trug fast immer himmelblau, und diese Farbe stand dem zarten blonden Wesen auch so reizend, daß ich sie gar nicht anders gekleidet sehen mochte. Noch jetzt, wenn ich an die liebe Jugendzeit zurück denke, sehe ich meine Freundin stets in hellblauen Farben vor meinen Augen, sie war so recht mein blauer Himmel, und ihr freundliches Gesicht die goldne Sonne an demselben.

Außer unsern Plauder- und Kosestündchen verbrachten wir auch ernstere Zeiten mit einander, denn Tante Ulrike wünschte, daß ich noch einigen Unterricht in Sprachen, Musik und Zeichnen nehmen sollte, und zu meiner unaussprechlichen Freude nahm Marie an einigen dieser Stunden Antheil. So wurde ich denn auch innerlich noch gehobelt und polirt, und Geist und Körper um die Wette in die höhere Schule geschickt. Doch wie sehr man auch ein andres Geschöpfchen aus mir zu machen strebte, so sorgte die gute Tante doch dafür, daß meine gesunde Natur nicht verbildet und verschoben wurde, und so ist mir denn glücklicherweise Ziererei und Prätension bis auf den heutigen Tag ebenso unausstehlich geblieben, als sie es mir damals schon waren. So wenig als ich konnte auch Marie an unnatürlichem Wesen Gefallen finden, und daß die rechte Bildung eben nicht in jenen Dingen besteht, das sah ich ja deutlich an ihr wie an Tante Ulrike, und pries mich doppelt glücklich, im Umgang mit so trefflichen Wesen leben zu können.

Während die Tante in ihrer liebenswürdigen Weise fortfuhr, mich auf meine Fehler und Angewohnheiten aufmerksam zu machen, that es Marie ihrerseits ebenfalls. Eines Tages z. B. sah ich meine liebe Freundin mir auf der Straße entgegen kommen, und meinen Gefühlen freien Lauf lassend, wie ich es nie anders kannte, breitete ich weit die Arme aus und flog ihr jubelnd an den Hals, indem ich sie herzte und küßte. Ihr zartes Gesichtchen bedeckte sich unter meinen Liebkosungen mit dunkler Gluth, und statt wie sonst mich ebenfalls zärtlich an sich zu drücken, machte sie sich schnell und nicht eben sanft aus meinen Armen los und blickte ängstlich rings um sich her.

»Was hast du, Mariechen?« rief ich überrascht, und sah fragend in ihr sonst so ruhig mildes Gesicht. »Bist du mir nicht mehr gut?«

»O freilich Gretchen, sag' doch so etwas nicht!« entgegnete sie halblaut und zog mich schnell mit sich fort. »Aber komm, komm, ich will es dir gleich sagen.«

Abermals blickte sie ängstlich zur Seite, und jetzt erst bemerkte ich, wie ein junger, eleganter Herr dicht neben uns stand, und, das Augenglas fest eingekniffen, uns mit spöttischen Blicken betrachtete. Ich fuhr erschrocken in Marie hinein, starrte aber nichts desto weniger dem jungen Herrn dabei in das Gesicht. Dieser lächelte mich vertraulich an und schnarrte süßlich, indem er uns Kußhändchen zuwarf: »Himmlisch! Göttlich! Welch reizende Kinder!« Marie zog mich so rasch aus der Nähe dieses impertinenten Gecken, daß ich weiter nichts sehen und denken konnte, aber nach einer Weile wollte ich in meiner Angst doch wissen, ob wir verfolgt würden, und blickte mich hastig nach dem abscheulichen Menschen um. Marie's Mahnung: »Um Gottes willen, Gretchen, sieh dich nicht um!« kam zu spät, es war schon geschehen, und ich sah denn auch, daß unser Peiniger uns von Weitem noch zärtlich zunickte, ohne uns zum Glück jedoch zu folgen.

»Wie konntest du mich auch auf offener Straße so stürmisch und laut begrüßen, liebe Grete!« sagte Marie mit zärtlichem Vorwurf. »Das thue ja nicht wieder, du siehst, was es für Folgen hat!«

»Aber wir begrüßen uns doch immer so, Mariechen!« rief ich außer mir. »Was fällt denn diesem Menschen ein, uns so zu beleidigen!«

»Er meinte sich das erlauben zu dürfen, weil du dich gar zu auffallend benahmst, Herzchen!« entgegnete Marie. »Auf der Straße bewillkommnet man sich einmal nicht so wie im Hause. Küssen und umarmen ist hier nicht erlaubt, das mußt du lernen, sonst kannst du noch schlimmere Dinge erleben.«

»Das ist doch aber schrecklich, daß man unter Gottes freiem Himmel nicht einmal zeigen soll, wenn man sich lieb hat!« seufzte ich betreten und ließ den Kopf hängen.

»Ja was das Zeigen der Gefühle betrifft, das ist überhaupt ein ganz besonderes Kapitel!« sagte Marie lachend. »Man muß unter Andern nur gar zu oft seinen Gefühlen Zwang anthun und ein ruhig Gesicht machen, es mag inwendig so fröhlich oder so traurig aussehen, wie es will.«

»Das ist schwer, ich glaube, das werde ich nie lernen!« sagte ich niedergeschlagen. »Aber thu' mir die Liebe, beste Marie, und sag' mir noch einiges, was sich auf der Straße nicht schickt. Es ist alles hier so anders, bei uns brauchte ich mich in keiner Weise zu geniren, denn wenn ich im Dorfe oder auf den Wiesen umher lief, da war alles recht und gut, was ich that, und kein Mensch dachte daran, daß sich allerlei nicht schickte.«

»Nun z. B. sprich nicht so laut auf der Straße, liebes Herz, wie du soeben thust, alle Vorübergehenden sehen uns verwundert und lächelnd nach!« sagte Marie halblaut und drückte meine Hand. »Und dann thu' mir die Liebe und renne und stoße nicht an Jedermann an, der uns begegnet, sondern weiche den Leuten etwas aus!«

»Ja ja, deine chère amie ist ein wundervoller Rüpel!« seufzte ich und ging in weitem Bogen um jeden herum, der mir begegnete. Das war aber wieder nicht recht, denn dieser Circumflex, den ich um die Leute herum beschrieb, fiel ebenso sehr auf, und alles was auffällt, ist nun einmal verboten, das sah ich wohl ein. »Du bist gewiß schrecklich böse auf mich, Marie, denn du mußt dich ja meiner schämen!« erwiderte ich, ärgerlich über mich und alle Welt. »Ich blamire dich zu sehr, wenn ich noch länger mit dir gehe, es ist besser, wir trennen uns. Adieu, auf Wiedersehen, liebes Herz!«

»Aber so sei doch kein Närrchen, Grete!« sagte Marie, mich liebevoll zurück haltend. »Das wäre eine schöne Freundin, die nicht gern die Schwächen der andern ertrüge! Du hast meine Fehler ja auch zu tragen!«

»Ach du hast gar keine Fehler!« rief ich verdrießlich.

»Wie? Ich keine Fehler, Gretchen?« lachte Marie. »Da wäre ich ja ein Wunderkind, und dazu habe ich Gott sei Dank nie große Lust verspürt. Siehst du, da will ich dir gleich einen Fehler deiner allervortrefflichsten Freundin sagen,« fuhr sie lustig fort und hielt ihren Fuß in die Höhe. »Der Anstand erfordert, daß man seine Schuhbänder zu Haus hübsch fest zubindet, damit sie auf der Straße nicht aufgehen und nachschleppen, wie Figura zeigt, und man genöthigt ist in einen Hausflur zu treten, um den Schaden zu repariren.«

Während wir nach Verbesserung dieses kleinen Uebels nach Haus eilten, begegneten uns einige sehr junge fein gekleidete Mädchen, die ihren Schulmappen nach zu urtheilen aus der Stunde kamen. Sie hatten sich gegenseitig untergefaßt und nahmen mehr als die ganze Breite des Trottoirs ein. Als sie nahe zu uns heran kamen, zeigten sie wenig Lust die Kette zu lösen, um uns durchzulassen. Marie schritt jedoch so ruhig und ernst vorwärts, daß die eng Verbündeten es für besser fanden, uns Platz zu machen, wobei sie jedoch kicherten und sich gegenseitig stießen und drängten.

»So ungeschliffen hätte sich die arme dumme Grete nicht einmal benommen, wie diese jungen Kälberchen!« rief ich sehr verwundert, daß junge Residenzdämchen sich so aufführen konnten.

»Ja das ist eine der schönen Schulmädchenmanieren,« entgegnete Marie ärgerlich. »Die jungen Dinger wissen recht gut, daß es nicht passend ist, gassenbreit zu gehen, aber deshalb lassen sie es doch nicht. Wie abscheulich solcher Schulton oft unter den jungen Dämchen ist, davon kannst du dir gar keine Vorstellung machen; man muß gewaltig dagegen ankämpfen, wenn man darunter steckt. Ausnahmen giebt es darunter natürlich wie überall; aber das kann ich dir zum Troste sagen, daß solch echtes Residenzdämchen mit ihrer Ueberbildung und Eitelkeit zehnmal schlimmer dran ist als du, mein liebes Naturkind, selbst wenn du mich alle Tage auf offner Straße umarmtest, und eine ganze Legion junger Gecken herbeikäme, sich das Schauspiel mit anzusehen.«

Ich fiel Marie lachend um den Hals, denn jetzt waren wir zu Haus angekommen, und in Marie's traulichem Stübchen hatte ich keine Rücksichten mehr zu nehmen. Lange saßen wir hier noch plaudernd zusammen, bis die sinkende Sonne mich endlich an den Heimweg mahnte. Da mußte ich fort; denn es war ja auch eine der lästigen Eigenschaften der großen Stadt, daß man Abends nicht allein im Freien umher laufen konnte. Zu Haus wurde es erst recht hübsch, wenn der Abend kam. Wie lustig und harmlos trieb man sich da vor dem Hause und im Dorfe umher, da hatte man keine Anfechtungen zu befürchten, wie hier sogar am hellen Tage, nur weil man seine Gefühle der Welt zeigte. Ja zu Hause!

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