Giuditta Africana

Regungslos lag die See … Und regungslos das halbverfallene Städtchen, das hoch über ihr an der Felswand klebte, leeren Auges die Vergangenheit suchend. Unbewohnt stand die Hälfte der kastenartigen roten und weißen Häuser mit den abgeplatteten Dächern maurischer Bauart. Von der Sonne verblaßt, vom Regen zerfressen war die einst leuchtende Farbe. Die Geschlechter hatten sich nicht erneut zwischen den kahler werdenden steinernen Wänden, deren Quadern aus dem Felsenleib des einsam das Städtchen überragenden Sant’ Angelo gebrochen waren. Waren sie ausgestorben, so verfiel der Besitz. Wer wollte sich eine Last aufbürden! Sie hatten Platz genug in den eigenen Häusern, die immer weniger werdenden Einwohner von Positano.

Nur die Gärten kannten das Sterben nicht. Über saftgrün wucherndem Lorbeer und weißgesterntem wilden Myrtengebüsch hingen die Blüten des Granatbaums wie dunkelglühende Blutstropfen. Ein Zweigegewirr mischte sich träumerisch ein, niedergezogen von der Fülle reifender Zitronen, goldgelber Orangen. In schwärzlichem Grün zwischen ihnen strotzende Feigen und langgeschotet die Frucht des Brotbaums. Schon blühten die Rosen aus, aber wie grelle Teppichfetzen zogen sich Geranienbehänge über die lockeren Steine der Gartenmauern.

Tiefblau und regungslos, in gleichmütiger Schönheit, spannte sich der Sommerhimmel über Verfall und Leben, tiefblau und regungslos, in gleichmütiger Schönheit, lag die See. Nur in den verworrenen Felsschluchten des Strandes und drüben, zwischen den kleinen Inseln, die so schweigsam über das Meer lugten, seltsam grüne Flecke zeigend. Als hätte sie eine ausbrechende Unterströmung zurückgelassen.

Auf der Terrasse des Gasthauses stand ich als einziger Gast und blickte in die scheidende Sonne. Fern winkte in stolzem Linienschwung die Silhouette Capris, näher heran, in violettem Duft, das Gestade Sorrents, zu meinen Füßen, von der Abendglut purpurn geküßt, die kleinen, schweigsamen Eilande. Der Sarazenenturm auf der mittleren der Inseln schien in Flammen zu stehen.

Nicht ein Laut in der Luft. Totenstille. Aber ein Glühen in der Luft, das das Blut fieberhaft erregte und matt niedersinken ließ.

Über die Terrasse kam schlurfenden Schritts der Wirt. Lässig hob er die Arme über sich und pflückte Mispeln zur Abendmahlzeit.

»Schirokko, Herr.«

»Ich spür’ ihn. Wann wird er zu Ende sein?«

»Wenn der Regen fällt, Herr.«

»Und wann fällt der Regen?«

»In zwei, drei Monaten. Die Madonna sorgt.«

»Ihr haltet das aus?«

»O –« machte der Alte und hob die Achseln. »Man wird’s gewohnt. Und dann: es ist viel afrikanisch Blut an der Küste. Das hält’s schon aus.«

»Afrikanisch Blut? Woher?«

Der Alte trat an die Brüstung. Mit ausgestrecktem Finger wies er auf schattenhafte Punkte die felsige Küste entlang.

»Sehen Sie, Herr? Sarazenentürme! Wie der da vor uns, der in der Abendsonne loht, da – auf den Galli-Inseln.«

»Es ist lange her, daß hier die Sarazenen als Herren hausten. Wer wird davon noch wissen?«

»Was macht die Zeit! In Positano wohnen Leute, die man heute noch die ›Afrikaner‹ nennt. Blut bleibt Blut. Das verläuft sich nicht.«

Er nahm sein Körbchen mit Mispeln auf, wischte sich noch einmal die glühende Stirn und schlurfte von dannen. Plötzlich blieb er stehen. Auch ich war aufgefahren. Beide horchten wir …

Dann wandte sich der Alte um und deutete zur Höhe. Eine längst verlassene Kapelle verfiel auf einem Felsvorsprung. Die Fensterhöhlen starrten ohne Glas aufs Meer. Und durch die Fensterhöhlen drang eine Stimme, die Fistelstimme eines alten Weibes, in den langgezogenen, schluchzenden Tönen eines Kirchenliedes. Die Stimme wuchs an zu leidenschaftlichem Anruf, zu sehnsüchtigem Schrei, und wieder erstarb sie in lang ausklingendem wimmernden Laut. Totenstille wie vorher. Die Stadt ohne Leben. Felsen und Meer schweigsam.

»Die verrückte Francesca,« lachte der Wirt.

»Weshalb ist sie verrückt?«

»Ja, Herr, weshalb? Die Madonna mag’s wissen. Es sind an die zwanzig Jahr’ – heut zählt die Francesca ihrer achtzig –, da kam das alte Weib und wollt’ einen Mord auf dem Gewissen haben. Und hat keiner Fliege was zuleide tun können. Sie war die Amme der schönen Giuditta gewesen, der ›Giuditta Africana‹, die den Männern von Positano ins Gesicht lachte, wenn sie ihr von Liebe sprachen, und die eines Tages mit einem blassen Deutschen auf und davon war. Herr, ein Weib! Sarazenenblut. Das verleugnet sich nicht. Sie können’s mir glauben, Herr.«

»Und die Francesca?«

»Die Francesca, ich sagte es schon, war ihre Amme gewesen und hatte auch nachher mit der Giuditta, die eine Waise war, zusammen gehaust. Erst dort oben, in dem alten maurischen Palast. Nachher im Sarazenenturm auf der Galli-Insel, weil die Giuditta keine Menschen wollte. Es war aber der Deutsche, Herr. An einem glühenden Sommertag – der Schirokko drückte wie heute auf Mensch und Tier – kam die alte Francesca in ihrer Barke herübergerudert. Dort unten, an der ehemaligen Marine, landete sie. Wie eine Wahnsinnige raste sie zum Pfarrer. Sie habe gemordet, die Giuditta, den Deutschen, was weiß ich, und die Leichen mit Steinen beschwert ins Wasser versenkt. Einen Brief trug sie bei sich, den las der Pfarrer. Und in dem Brief schrieb die Giuditta, daß sie mit ihrem Geliebten weit, weit nach Norden sei und nie zurückkehre. Die Francesca aber schrie und tobte und klagte sich an, und da der Pfarrer der Verrückten keine Absolution zu geben vermochte, ist sie für immer aus der Kirche gelaufen. Wenn Schirokko ist, flüchtet sie sich in die baufällige Kapelle und versucht Totenmessen zu singen. Das klagt die ganze Nacht. Hören Sie! Jetzt! –«

»Und man hat nicht sofort nachgeforscht? Nicht nach Leichen gefischt?«

»Herr, die verrückte Alte! Da war doch der Brief. Und dann, Herr, es war Schirokko. Da reißt sich keiner um unnütze Arbeit. Die Giuditta hätt’ sich ins Fäustchen gelacht. Ein Weib, Herr!«

Und er schlurfte, selbstgewiß vor sich hinnickend, ins Haus.

Kreischend, wie der Schrei eines Falkenweibchens, das sein Junges sucht, zog das Totenlied der alten Francesca über die stumpf dahindämmernde Stadt, über die zerklüfteten Felsen und das schweigende blaue Meer, das seitwärts der Inseln, dort, wo der Turm in der Abendsonne zu brennen schien, in seltsamen kristallgrünen Flecken schwamm.

Und schnell wie ein Vorhang senkte sich jäh die Nacht.

Kaum, daß ich einem Menschen begegnet war den ganzen langen Tag. Auf dem Sant’ Angelo wollt’ ich die Sonne sehen, wie sie fern aus Kalabriens Gründen heraufkam, von Zacke zu Zacke sich schwang und tief unten das Meer überschwemmte. Aber es war eine Erregung in mir, der ich keinen Namen zu geben verstand. Waren es die gigantischen Formationen, die bezwingenden Farben der süditalienischen Landschaft? War’s die Schirokkoluft, oder war’s die Vergangenheit, die aus Trümmern von Menschensiedlungen, aus Schluchten und Grüften groß und bannend die Augen aufschlug?

Niederzwingen, das erregte Blut bezwingen! An den Felsen klebend, mit Händen und Füßen das bröckelnde Gestein prüfend, tastend, kriechend, kletternd geht es mit hart klopfendem Herzen und perlender Stirn von Zacken zu Zacken, von Wand zu Wand. Starr blickt das Auge vorwärts auf den Stein, steif streckt sich das Knie, kein Zittern darf hindurch. Tiefer, tiefer hinab! Schon hör’ ich durch einen Steinkrater das Gurgeln der See, die sich verfangen hat. Ein Felsblock schiebt sich weit in das Wasser hinaus. Nun hab’ ich ihn! Ausgestreckt lieg’ ich auf der durchlöcherten Platte, auf der grüne Eidechsen, hin und her huschend, mit den Sonnenkringeln um die Wette spielen. Einsamkeit! – Und in die Einsamkeit hineingesponnen, greifbar fast aus dem Wasser zu mir auftauchend, dunkel und geheimnisvoll die Galli-Inseln. Der Sarazenenturm schaut herüber. Wir starren uns an …

Aber am Abend, schrill die lastende Stille der Versunkenheit durchschneidend, wieder das sehnsüchtige Geschrei der verrückten Francesca. –

Und der nächste Tag wie dieser. – –

Da bin ich hinaufgestiegen durch den dunkelvioletten Abend zu der verlassenen Kapelle, und die Erregung lief mit. In wildem Gebüsch bluteten Granatzweige. Ich schnitt sie ab und trug sie in der Hand. Wie die kühlen Blütenblätter beruhigten …

Die Totenmesse der Alten war beim leisen Wimmern angelangt. Durch das zusammengebrochene Portal sah ich den kauernden Körper. Die vorgestreckten Arme hielten eine schwere Kerze, deren Licht grell ein Gnadenbild beschien, halb von der schmutzigen Wand heruntergeblättert.

Noch einen tiefen Atemzug, und ich schritt hinein und sah mich nicht um nach dem aufschreckenden Weib und ging geradenwegs bis zu der Stelle, an der vor dem Freskobilde der Maria der Altar gestanden haben mochte. Es war Phantasterei, ich empfand es. Und doch mußte ich sprechen, als ob ich mit den lauten Worten ihrer ledig werden würde. Und die blühenden Granatzweige auf die Altarstelle legend, sagte ich laut in der Sprache des Volkes: »Zum Gedächtnis Giudittas und meines deutschen Bruders, die auf dem Meeresgrunde schlafen.«

Die Worte liefen an den Wänden und verhallten. Und dann brach ein Schrei hinterher, wie ich ihn nie vernommen, nicht vordem und nicht nachdem: Staunen, Glückseligkeit, Erlösung. Die Achtzigjährige war an mich herangekrochen und umklammerte meinen Arm.

»Sein Bruder seid Ihr? Herr, Herr, und Ihr glaubt es?«

»Sag es mir, Francesca.«

»Daß sie auf dem Meeresgrunde liegen? Daß sie tot und nicht geflohen sind?«

»Ich glaube es, Francesca, und nun sollst du ihnen Ruhe geben.«

»Ich habe sie gemordet. Ich bin nicht verrückt, wie der Pater sagt und der Bürgermeister und die Leute. Ich habe alles gewußt und nichts verhindert. Darum habe ich sie gemordet.«

»Du warst die Dienerin. Du mußtest gehorchen.«

»Ich – war – die Dienerin. Heilige Mutter, bitte für mich und meine süße Herrin, die in die Irre ging,« murmelten die welken Lippen.

»Du brauchst nicht mehr zu singen, Francesca. Deiner Herrin ist wohl.«

Verständnislos sahen mich die müden, entzündeten Augen an.

»Kennst du die Bibel, Francesca? In ihr steht ein Wort des Heilandes: ›Wer viel geliebt, dem wird viel vergeben werden!‹ Du kannst dich darauf verlassen.«

»Wißt Ihr denn,« flüsterte die Alte mit stockendem Atem, »wie sie starben? Wißt Ihr von der Giuditta Africana?«

»Du sollst erzählen, Francesca, damit ich alles weiß.«

Die Kerze, welche die Alte an eine Stufe gelehnt hatte, knisterte. Ihr Licht spielte in den Granatblüten, die wie Blutstropfen in den Zweigen hingen. Die Greisin sah hin. Ihre Augen weiteten sich.

»Da – da – da! – Blut –«

»Sieh genauer hin, Francesca. Die Blutstropfen haben sich in Blumen verwandelt. Für jede Schuld gibt es eine Verzeihung.«

»Es sind – Blumen,« sagte die Alte.

»Nun mußt du Ruhe geben. Dir – und den Toten.«

Scheu ging der Blick der Alten zu den Granatzweigen. Dann hing er an dem abgeblätterten Madonnenbild. Und jedes Wort, stockend oft, oft jagend, sprach sie zu dem Bilde. »Gnadenmutter, sie konnte nicht mehr selber kommen. Es gebrach ihr an Zeit, Mutter Maria, so glaub es mir. Ich weiß es und ich schwör’s. Aber sie war nicht ohne Beichte! Da sie dich nicht mehr sprechen konnte, schrieb sie dir. O, sie hatte es erlernt. Neige dich zu mir, Madonna, und nimm es in Gnaden an.«

Aus einer Fuge im Stein nahm sie ein paar verknitterte Blätter und hob sie empor. Dann sanken ihre Arme müde.

»Gib sie mir, Francesca. Ich werde es der Madonna sagen.«

Und ich las. Ungeschickte Worte, die wie das Gestammel eines Kindes klangen und die verzweifelnde Leidenschaft, die grimmige Seelennot eines Weibes in sich bargen. Worte, in einer Stunde niedergeschrieben, die das erste, jähe Erwachen bedeutet haben mochte. Angstrufe, herrisches Aufbäumen – mit seltsam weichen Erinnerungen gemischt, die wie aufblitzende Sterne gegen das Dunkel der Seele anzukämpfen suchten. Der Brief eines Wildlings an die ferne Madonna …

Wo das Gewebe sich wirrte, befragte ich die murmelnde Alte. Und immer lebendiger hob sich das Bild und fügte sich in den Rahmen. Von der Kerze tropfte das Wachs. Als der Docht erlosch, schwebten durch die leeren Fensterhöhlen die ersten feinen Schleier des jungen Tages.

In dem rotgestrichenen Hause, das man Palazzo nannte, weil es aus Steinquadern errichtet war, lebte die junge Giuditta, die man die ›Afrikanerin‹ nannte, wie man Vater und Großvater, soweit das Gedächtnis der Positaner reichte, mit dem Beinamen die ›Afrikaner‹ bedacht hatte. Ob einer der Voreltern Giudittas, die von Vater auf Sohn das Mittelmeer befahren hatten, einst eine Frau der afrikanischen Küste mit heimgebracht, ob vor Jahrhunderten, als afrikanische Piraten die italienischen Gewässer beherrschten und ihre Raubnester von Sizilien bis Ligurien an die Felsen klebten, ein Sarazene das Geschlecht zurückgelassen, keiner wußte Genaues zu sagen. Nur Giuditta wußte es. Ihre Amme Francesca hatte, als die Mutter jung am Fieber zu Grunde gegangen und der Vater zwischen den Riffen bei Tetuan gescheitert und ertrunken war, das eigenwillige Kind mit alten Sagen zur Ruhe gebracht. Und die kleine Elternlose kannte ihre Macht über die Amme und Pflegerin, die mit schwärmerischer Verehrung an dem jungen, schönen Geschöpfe hing, das so schnell zu befehlen verstand.

»Erzähle mir, daß ich eine Prinzessin bin. Was in der Schule neben mir sitzt, sind Lümmel, und ich will nichts mit ihnen zu tun haben.«

»Mein Prinzeßchen hat recht. Es sind schmutzige Rangen, und es gab einmal eine Zeit, da sie flugs die Mützen herunterrissen, wenn sie nur dies Haus von weitem sahen.«

»Aber mein Vater war ein Seemann.«

»Was tut’s? Seine Vorfahren waren Könige der See. Sie kamen aus dem Lande der Mittagsonne und hatten Feuer im Blut. Herren waren sie, und die Positaner ihre Diener, die ihnen die Schuhe küßten.«

»Ich habe auch Feuer im Blut,« murmelte das Kind, und dann preßte es die Lippen aufeinander.

»Die Positaner,« fuhr die Amme fort, um dem schönen Eigensinn zu schmeicheln, »waren Sklavenseelen, die sich von Päpsten und Fürsten Gesetze geben ließen. Deine Vorfahren aber waren freie Häuptlinge und gaben sich selbst Gesetze nach ihrem Willen.«

»Das will ich auch.«

»Sie wählten sich nur Königinnen zur Frau.«

»Und ich will einen König! Hörst du, Francesca? Und wenn ich auf meinem Schlosse sitze, sollst nur du meine Hofdame sein.«

»O du süße Seele! Und was werden die Leute von Positano sagen?«

»Laß sie schimpfen.«

Und die Leute von Positano schimpften. Denn stolz und herrisch schritt die kleine Giuditta durch die Reihen ihrer Altersgenossen, ohne einen Blick nach rechts und links, und nur wenn ein alter Fischer, überrascht von der seltenen Schönheit des Kindes, unwillkürlich nach der Mütze fuhr, fand sie ein Lächeln, dessen Zauber die Menschen in Banden schlug. Zuletzt ließ man sie gewähren, da sie mit ihrer alten Dienerin wenig aus dem Hause ging, es sei denn in ihren Limonen- und Olivengarten, von dessen Ertrag sie lebten. Nur wenn die Aveglocke erklungen war und bald darauf kaum ein Mensch noch in dem stumpfen Städtchen wachte, huschten Herrin und Dienerin an den Strand der ehemaligen Hafenbucht und blickten lange hinüber nach den märchenhaften Inselgebilden mit dem trotzigen Rundturm. Und wieder, im Flüsterton, mußte die Amme erzählen, und ihr bißchen Hirn entzündete sich an den glänzenden Augen des heranwachsenden Mädchens, das, die Hände um die Knie geschlungen, in den Steinen neben ihr saß, bis sie die Wahrheit ihrer Erzählungen hätte beschwören können.

Wenn der Schirokko aus Südosten kam, saßen sie die ganze Nacht. Dann fieberte das Blut Giudittas, daß sie meinte, wilde Piratenschiffe auf der leuchtenden See zu erblicken. Todmüde kehrten sie in der Frühe heim. Und wenn der Septembersturm durch den Golf fuhr, daß die Wellen brausend über den Strand glitten und gierig in den Schluchten an der Felswand fraßen, wenn die See fernhin auf der Höhe in weißen Kappen sprang und tanzte, daß die Boote, die heimwärts arbeiteten, in tollem Wechsel aufgesogen und ausgespieen wurden, saßen sie nicht minder in Wind und Wetter, und Giudittas Mund grüßte durch Rauschen und Brausen hindurch jauchzend den Starken, der Boot und See zu zwingen verstand, und hatte ein verächtliches Zucken für den Feigen und Ungeschickten. Dann glaubten die Kühnen, es mit ihrer Liebe wagen zu können, aber wenn sie ihr unter die Augen traten und ihre wohlgesetzte Rede begannen, lachte sie ihnen ins Gesicht: »Nimm dich in acht, daß ich dich nicht verbrenne!« und wandte den Rücken.

»Sie hat im Schirokko gesessen,« sagten die Klugen Positanos bedeutungsvoll, und die noch Klügeren sagten nur: »Giuditta Africana« und machten dazu eine Gebärde.

Über zwanzig war Giuditta alt geworden, und wenn die Frauen der Südküste in diesen Jahren hastig alterten und verblühten, ihre Schönheit wurde wie zum Trotz gewaltiger und leuchtender. Groß war sie gewachsen, schlank und voll. Auf dem mattglänzenden Halse, den rote Korallen schmückten, trug sie den schmalen Kopf mit dem dunkeln, im Nacken schwer verknoteten Haar, auf beiden Seiten von einer einzelnen tiefroten Koralle gehalten. Wenn sie die langen Wimpern hob, sah man in ihren Augen ein stolzes geheimes Feuer. Aber selten nur flammte es nach außen. Es war, als ob es nach innen gerichtet sei. Längst schon wagten die Burschen Positanos nicht mehr, sie mit Liebesgedanken zu verfolgen, wenn sie, weißgekleidet, mit schnellem leichten Schritt durch die Gassen kam. Die Altersgenossen waren früh verheiratet, der Nachwuchs gestattete sich nur scheue Bewunderung. Man hielt sie für gelehrt, da sie zu Hause Bücher las und das Schreiben erlernt hatte.

Und eines Abends spät kam die große Überraschung.

An einem Septemberabend war’s. Die Aveglocke war verklungen, und die Bewohner Positanos hatten ihre Häuser geschlossen. Giuditta saß allein zwischen den Felsen am Strand, denn die Alte plagte sich daheim mit einer Erkältung. »Sturm«, sagten ihre Lippen, aber sie selbst blieb regungslos. Sie blickte auf die See, die in der Ferne zu tänzeln begann. Sie sah es deutlich an den huschenden weißen Lichtern, die immer schneller wiederkehrten. Dann kam es näher, und die erste Dünung zog, bei flauem Winde noch, über die glatte Meeresfläche der Bucht. Für Sekunden Ruhe. Dem Winde war der Atem ausgegangen. Und plötzlich – hui – pfiff es aus Nordwest, daß die Felswand Echo gab, und nur des Signals gewärtig, warf das blaue Meer Farbe und Zahmheit ab, wandelte sich zu tiefem Schwarz und giftigem Grün und erfüllte sein Becken mit heiserem Grollen.

Aus der Richtung der Galli-Inseln arbeitete sich ein Boot heran. Es mußte weiter herkommen, vielleicht von Capri, denn die kleinen Inseln waren um diese Zeit unbewohnt. Auch hätte man dort den heraufziehenden Sturm bemerken müssen. Mit ungestümer Kraft legten sich die beiden Ruderer in die Riemen. Das Segel war eingezogen, wohl zur rechten Zeit. Und aufrecht an dem dünnen Mast stand ein Mann, ein Fremder der Tracht nach. Giuditta hatte es mit scharfem Blick erkannt.

Sie war aufgesprungen und ließ ihr weißes Tuch flattern. Schon kämpfte die Dunkelheit das letzte Dämmer nieder.

»Hier – her!« schrie sie durch die hohle Hand. »Hier! – Hier! – Hier! …«

Einen Augenblick standen die vier Ruder wagrecht über dem Bootsrand. Dann schoß das Boot mit einer jähen Wendung auf den einstmaligen Hafenplatz zu. Der Fremde an der Maststange hatte wohl einen Befehl erteilt.

Giuditta kannte die seichte Stelle zum Landen. Ausladend genug, um vor den gierigen Klippen zu bewahren. Auf flüchtigen Füßen sprang sie hin. Der Wind riß ihr das Kopftuch in den Nacken. Sie ließ es. Wie aus Stein gehauen, weit vornübergebeugt, jede Sehne gespannt, stand sie und erwartete das Boot.

Da kam es heran, von wütenden Wellen verfolgt. Mit letzter Kraft hieben die Ruder, weit vorgreifend, in Ufersand und -gestein. Und Giuditta packte mit klammernden Fäusten die Spitze des Kahns.

Was war das? Fast hätte sie losgelassen, und noch war der Fremde im Boot.

Ein Lachen schlug an ihr Ohr, ein Lachen, so sündhaft übermütig, wie sie es nie für möglich gehalten. Und dann eine Stimme, in schlechtem Italienisch: »Druff, druff! Heilig Kreuz, ist die Attacke schon zu End’?« Ein Husten, und die Stimme brach ab.

Der Fremde stand neben ihr, groß, hager, mit hellem, wehendem Schnurrbart in dem eingefallenen Gesicht, in dem die jungen, blaublitzenden Augen einen seltsamen Kontrast schufen. Erst dehnte er die Arme und Beine, um die steif gewordenen Gelenke geschmeidiger zu machen, dann trat er näher und klopfte dem Mädchen unbefangen die Wange.

»Gut gemacht, gut gemacht – ah, Pardon!«

Ein flammender Blick hatte ihn getroffen. Eine Sekunde nur. Und Giuditta wandte gleichmütig den Rücken und stieg den Steinpfad hinan.

»Stillgestanden!«

Unwillkürlich hielt sie den Schritt an. Da war er bei ihr, den Hut in der Hand.

»Verzeihung, mein Fräulein,« sagte er ernsthaft. Und sie sah ihm in die Augen und sah, daß die Augen lachten. »Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie mich von der Verantwortung für diese beiden wackeren Capreser Familienväter entbunden haben. Machen Sie das Maß voll und weisen Sie uns eine Herberge. Das scheint hier ja ein gottverlassenes Nest zu sein.«

»Und für sich – danken Sie nicht?«

»Später,« sagte er kurz, »erst die Herberge.«

Die Fischer hatten ihr Boot auf den Strand gezogen, es angepflockt und traten mit dem Gepäck heran. Da ging sie stumm vorauf. Nur der Fremde blieb neben ihr und plauderte. Der Nachmittagsdampfer von Capri nach Sorrent war ihm vor der Nase auf und davon gegangen. Kein Unglück weiter. Die Capreser Barkenführer wollen auch leben. So konnte er statt Sorrent gleich Positano erreichen. Man hatte es ihm empfohlen wegen des weichen und warmen Winterklimas. »Ich seh’ danach aus, was?« Da streifte sie schnell seine elastische Figur. »Unterwegs ging der Tanz los. Ein Kontertanz. Wechselt die Damen! Herrgott, war das schön! Und lustig obenein. Das Blut wurde aufgerüttelt – es war nämlich seit einem halben Jahr eingeschlafen – und man spürte den alten Adam wieder! Gekreuzt hin und her, aus dem Kurs geschlagen, wieder hinein, das knallende Segel beigeholt und dann mit Muck und Spuck in die Ruder! Ihre Landsleute, mein Fräulein, alle Achtung, hielten sich tapfer. Nur lachen wollten die Kerle nicht, wenn’s mit Heidi nach unten und mit Hallo nach oben ging. Na ja, ist auch kein Vergleich. Mein sogenanntes Leben –«. Er pfiff durch die Zähne.

Die Herberge war dunkel und verschlossen. Kein Mensch zeigte sich auf das starke Klopfen.

»Ob es erlaubt ist, die Tür einzuschlagen? Ich bin in den Landessitten noch unbewandert.«

»Kommen Sie,« sagte Giuditta.

Sie bog von der Straße ab zu dem einsamen steinernen Haus, in dessen rotem Anstrich der Regen fahle Striemen zog. Auf der Diele entzündete sie eine bereitstehende Kerze. Dann öffnete sie eine Tür zu einem leeren Gemach.

»Hier können die beiden Männer schlafen. Decken habe ich nicht. Ihr müßt euch schon die Jacken über die Ohren ziehen.«

Bereitwillig streckten sich die beiden auf den Fußboden. Sie schliefen fast im Stehen.

Giuditta ging die Treppe hinauf, und der Fremde folgte. Vor einer Tür zögerte sie. Dann drückte sie entschlossen die Klinke nieder.

»Hier!«

Der Gast schaute sich verwundert um.

»Entschuldigung, das scheint mir – Ihr eignes Stübchen zu sein. Da muß ich protestieren.«

»Hier ist mein Haus!« sagte sie herrisch. »Gute Nacht.«

Er lachte in sich hinein. Und plötzlich, bevor sie die Tür schließen konnte, stand er neben ihr.

»Ich versprach Ihnen meinen Dank –«

Nichts hörte sie mehr. Nur seinen Mund fühlte sie auf ihren Lippen. Bevor sie schreien, bevor sie aufatmen konnte, war die Tür im Schloß. Und als sie mit wildem Herzschlag weiterschritt, krampfhaft suchend, was auf der Stelle tun, kam ihr nur immer der eine Gedanke: ›Gut, daß er nicht gemerkt hat, daß ich nur dies eine Zimmer habe. Dies und die Kammer der alten Francesca. Und daß ich nun wie eine Magd auf dem Fußboden schlafen muß …‹

Aber sie schlief nicht. Sie horchte nur immer hinüber nach ihrem Zimmer, mit finsterem Gesicht. Und dann ertappte sie sich, wie sie lachte.

»Pirat, der! – Wenn ich ein Mann wär’!« –

Die Capresen hatten schon in aller Morgenfrühe das Haus verlassen. Der Lohn war ihnen vorherbezahlt samt Trinkgeld. Da hielt sie nichts, ohne Addio heimzusegeln.

Giuditta wartete vergebens, daß ihr Gast sich erheben möchte. Sie hatte der alten Francesca Bescheid gegeben, und die Alte war spornstreichs aus den Federn geschlüpft.

»Weshalb hast du mich nicht geweckt? Madonna, welch ein ungezogener Engel! Und die eigne Kammer? Was? Mein Prinzeßchen hat im Saal geschlafen? Auf der blanken Diele? Warte, ich treibe den Unhold hinaus.«

»Höre, Francesca, ich glaube, er ist krank. Er muß sich bei dem Unwetter erkältet haben.«

»So soll er sich eine Kutsche nehmen, bis er die Eisenbahn hat, und nach Neapel reisen. Hier ist keine Herberge.«

»Nein,« sagte Giuditta, »hier ist mein Haus.«

Da duckte sich die Alte und haschte nach ihrer Herrin Händen.

»Nicht böse sein, Herzchen, nicht böse sein. Wir wissen doch, was wir Gästen schuldig sind. Wir waren Könige.«

»Siehst du nun,« sagte Giuditta, und ihre Augen gingen ins Weite.

Drüben aus der Kammer drang ein Geräusch, ein Husten. Und die beiden Frauen standen vor der Tür und horchten … Noch einmal erscholl der Husten, trockener, quälender. Da gab Giuditta der Amme ein Zeichen, und die Alte pochte leise an die Tür.

»Ruhe, Johann!« schnarrte es drinnen in deutscher Sprache.

Da nickte Giuditta zum zweiten Male mit dem Kopfe, und die alte Francesca schlüpfte lautlos in das Zimmer. Wenige Minuten, und sie kehrte zurück.

»Komm in die Küche, mein Seelchen, wir wollen Kräuter kochen.«

»Was ist es?«

»Es sitzt auf der Brust. Wenn du das Ohr auf sein Herz legst, hörst du eifernde Stimmen.«

Drinnen erschollen die fremden Laute. Kommandoworte – Lachen – ein Fluch. Giuditta beugte sich vor, mit blassem Gesicht. »Wie er befehlen kann!«

Die Alte rüttelte sie am Arm. »Was willst du noch hier?«

»Ich möchte die eifernden Stimmen hören. Wenn man das Ohr auf sein Herz legt, sagst du?«

»So verträume die Hilfe. Ich gehe jetzt.«

Da ging sie mit und war tätiger als die Alte. Aber mit halbgeschlossenen, nach innen gerichteten Augen. Das Feuer loderte auf dem Herd, das Wasser im Kupferkessel brodelte, stechend zog der Dampf der aufgebrühten Kräuter durch das Haus. Die Amme hinter sich, betrat Giuditta das Zimmer des Kranken. Der lag mit aufgerissenen, unruhig suchenden Augen, die nichts erkannten. Schweiß perlte auf seiner Stirn, noch eingefallener erschien das Gesicht.

»Guten Morgen,« sagte Giuditta, und dann nahm sie, als keine Antwort erfolgte, ihr Tüchlein aus dem Busen und wischte die Stirn des Kranken trocken. »Still,« sagte sie wieder, und legte ihm die kühlende Hand fest auf die Augen. Dann brachte sie den freien Arm unter seinen Kopf und hob ihn sacht empor. »Trinken – jetzt!« Die alte Francesca hielt ihm die Tasse an die Lippen. Er trank. Und behutsam bettete sie ihn zurück in die Kissen ihres Mädchenbettes.

Die Alte winkte ihr, und sie trat mit ihr an die Tür.

»Sein Puls fliegt, mein Täubchen. Er wird uns unter den Händen davongehen.«

»Nein! Er soll leben! Ich will es!«

»Die Madonna mög’ helfen. Ich will neue Medizinen kochen.«

Giuditta war mit ihrem fiebernden Gast allein. Sie stand aufrecht am Kopfende des Bettes und sah ihn an. Er war in Schlummer gefallen. ›Wenn ich ihn rette, gehört er mir,‹ ging es ihr durch den Kopf. Oder – ›ich kann ihn nicht sterben lassen, weil er mich geküßt hat.‹ Der Kranke lachte im Schlaf. Sie zog die Brauen zusammen. ›Was in ihm vorgehen mag …?‹ Ganz blaß wurde ihr Gesicht. Ein Beben ging durch ihre Hände. Und plötzlich beugte sie sich nieder, hob das Leintuch von der Brust des Kranken und legte ihr Ohr auf die Stelle …

Langsam richtete sie sich auf, ein wenig nur, ihr Gesicht dicht über dem Schlummernden. Dann schloß sie fest die Augen und legte, leise tastend, die Hände weich um seine Wangen. Und mit festgeschlossenen Augen beugte sie sich vor und küßte ihn.

»Gut gemacht,« lallte der Fremde, »gut gemacht.« Und er hob die Arme und streichelte schwerfällig ihr Haar.

Dieselben Worte, die er ihr zugerufen hatte, als er aus dem Kahne sprang. Dieselbe Bewegung fast. Heute ließ sie Worte und Berührung über sich ergehen. Sie lächelte.

Und eine Woche ging hin. Giuditta war nicht aus dem Zimmer gewichen. Wenn der Schlaf sie übermannte oder die alte Amme sie zur Ruhe zwang, genügte ihr ein notdürftig Lager in einer Ecke der Kammer. Beim leisesten Geräusch, das der Kranke verursachte, sprang sie auf. »Es geht nicht ohne mich.« Tag für Tag legte sie ihr Ohr auf seine Brust und ihre Hände um seine Wangen. Minutenlang. Aber geküßt hatte sie ihn nicht wieder.

Eines Morgens schlug er ruhig die Augen auf. Aufmerksam betrachtete er seine Umgebung und besonders prüfend seine Pflegerin.

»Wie heißen Sie?«

»Giuditta.«

»Was tun Sie hier?«

»Ich bin in meinem Hause.«

»Pardon. War ich krank?«

Sie nickte.

»Demnach habe ich Ihnen wohl zu danken? Na, dann komm mal her, mein Mädchen.«

Sie verschränkte die Arme über der Brust und lächelte, wie man ein Kind belächelt.

Er hielt den Blick aus, wurde rot, dehnte sich und sagte: »Donnerwetter, ist das eine gemütliche Klappe.«

Gleich darauf war er wieder eingeschlafen.

Mit über der Brust verschränkten Armen stand sie noch, als die alte Francesca eintrat.

»Ist er aufgewacht?« flüsterte sie.

»Er ist gerettet.«

Die Alte wollte verschwinden. »Ich will eine Fleischbrühe richten.«

»Höre, Francesca.« Und die dunkeln Augen groß und fest auf ihre alte Dienerin richtend, sagte sie, jedes ihrer Worte ruhig betonend: »Er – gehört – mir!«

Das hatte die Alte nie im Leben vergessen. – –

»Also meinen Namen wollen Sie wissen? Warum? Das zerstört nur das Märchen.«

»Aber ich muß Sie doch nennen, anrufen können.«

»Das leuchtet mir ein. Ich bin der arme Heinrich.«

»Hein–rich? Das ist schwer. Wie würde man bei uns sagen?«

»Enrico, meine verehrte Giuditta.«

»Weshalb nennen Sie sich den ›armen Enrico‹?«

»Weil vor fast tausend Jahren ein Namensvetter von mir, der auch in seiner Jugend so fröhlich gewesen war, daß sein leiblicher Mensch einen Knacks bekam, wie ich dieselbe Straße zog. Gen Salerno, jenseits der Bucht. Dort sprach ein berühmter Arzt zu ihm: ›Wenn sich ein reines Mägdlein dir zum Opfer bringt, wirst du ewig leben.‹ Das ist die Historie vom armen Heinrich.«

»Fand er solch ein Mädchen?«

»Mein Namensvetter war schlauer als ich. Er hatte es sich gleich mitgebracht.«

»Armer Enrico,« spöttelte sie.

»Meinen Sie – mich? Hierher! Hiergeblieben! Na, warten Sie, wenn ich erst auf die Beine komme.«

Wieder ging draußen ein Sturm. Er pfiff über das Meer und verfing sich wütend brüllend in den Felsen.

Sie saßen sich am Tisch gegenüber, die Lampe zwischen sich. Seit wenigen Tagen war er auf.

»Bei solchem Unwetter landete ich,« sagte der Genesende.

»Das taten meine Vorfahren auch, wenn sie als Sieger kamen.«

»Werd’s mir merken.« Er schaute sie unter der Lampenglocke an. »Übrigens – Ihre Vorfahren?«

»Waren die Herren Positanos. Die alte Francesca weiß es, und ich weiß es. Man nennt mich daher noch ›Giuditta Africana‹.«

»Aha – Piratenblut. Damit kann ich auch aufwarten.«

»Erzählen Sie, Herr Enrico.« Sie rückte den Stuhl näher an den Tisch und stützte das Kinn in die Hände.

»Was denn? Einen Schuß Banditenblut haben wir alle in den Adern. Das ist wie Heimweh. Na, und ich? Ich fand auf unserm Schloß –«

»Schloß –?«

»Keine Angst. Es bricht bald zusammen. Unter der Last der Hypotheken nämlich. Also auf diesem unserm Schloß an der Ostsee, hoch droben im Norden, las ich in alten Urkunden, daß meine Vorfahren gar wacker als Piraten zur See gefahren waren, wie der Blitz bald hier, bald dort einschlagend. Es war eine erlauchte Gesellschaft. Die Blüte des Adels, selbst Herzöge und Fürsten darunter. Man nannte sie die ›Vitalienbrüder‹. Nachher wurde eine Banditenbande daraus, welche die Küsten von Freund und Feind brandschatzte und nur den eigenen Magen kannte. Hoho, mein Fräulein, aufzuwarten! Ich habe die Ehre!«

Die Arme aufgestützt, den Kopf in den Händen, saß sie und sah ihm auf die Lippen.

»Das ist wie ein verwandtes Blut,« sagte sie langsam.

»Richtig. Normannen und Sarazenen, wer kennt sich da aus! Sizilien und die ganze italienische Küste – überall Spuren gemeinsamer Tätigkeit. Normannen und Sarazenen. Sarazenen und Normannen.«

»Und Sie, Herr Enrico – sind Sie ein Seeheld?«

»Ich bin der arme Heinrich, der ein Mädchen sucht.«

»Antworten Sie ernsthaft.«

Da schlug er auf den Tisch.

»Nichts bin ich, nichts, nichts!« Und seine Augen blickten grimmig auf die geballte Faust. Giuditta rührte sich nicht in ihrer Stellung. »O ja,« lachte er auf, »einst, als ich die Welt erobern wollte, da saß ich auf meinem Rotschimmel, und hinter mir zog meine Schwadron. Dragoner, Mecklenburger Jungens. Der Trompeter bläst. Das Signal: Galopp! Und heisa heidi über die Brachäcker, daß uns die Erdklumpen um die Ohren sausen! Herrgott, hab’ ich in den Sturm hineingeschrien wie so ein alter Erobererkönig. Hat sich was! Eines Tages stach es mich beim Schreien in die Brust. Zu fröhlich gelebt, sagten die Ärzte. Als ob man anders leben könnte! Resultat: Dienst quittiert, auf nach dem Süden. Schluß: der arme Heinrich.«

Er brütete finster vor sich hin. Dann hob er den Kopf und begegnete dem Blick des Mädchens.

»Was haben Sie sich da aufgelesen, Giuditta! Strandgut –«

»Der Strand gehört mir.«

»Und was Sie finden?«

»Behalt’ ich.«

»Scherze nicht. Du bist zu schön dazu.«

»Ich behalt’ es.«

Er stand auf, rasch, elastisch. Und sie wie er. Dicht voreinander standen sie und maßen sich. Blaß, mit glühenden Augen. Und langsam rötete sich bei beiden die Stirn, weil einer des andern zitterndes Lächeln sah. Da umschlangen sie sich und ließen sich nicht aus den Armen. –

Die Leute von Positano zischelten, wenn die beiden vorübergingen. Aber der deutsche Herr hatte eine so absonderliche Art, um sich zu blicken. Da ließen sie es. »Giuditta Africana,« sagten sie achselzuckend.

Aber Giuditta mochte die Menschen nicht, wenn sie sie auch übersah. So groß und gewaltig wuchs sie in ihrer Liebe, daß es in ihr nach der Einsamkeit der Großen verlangte. Und ihr Blick schweifte wieder und wieder zu den einsamen Galli-Inseln und heftete sich an den Sarazenenturm.

Es kam kein Winter in diesem Jahr. Im Dezember reiften die Orangen in den Gärten. Im Januar begann das Rosenblühen. Blau spannte sich der Himmel über das blaue Meer. Und die warme Luft war voll von Düften.

Giuditta stand in ihrem weißen Kleide, Korallen um den mattglänzenden Hals und zu beiden Seiten des schweren dunklen Haares. In ihren Augen war die Freude.

»Sag dem Haus ein Addio, Enrico. Wir beziehen unsere Sommervilla!«

»Willst du mich entführen? Gleich ist es Nacht.«

»Fürchtest du dich?«

»Mit dir in die Hölle oder ins Paradies.« Und er legte die Arme um ihren Leib und küßte sie, als sei es das erste Mal.

»Ins Paradies! Komm!« Und endlich entwand sie sich seiner Unersättlichkeit.

Er ging mit ihr, durch die menschenleeren Gassen, an den verfallenen Häusern vorbei. Immer weiter hinunter, bis sie an den verlassenen Hafen kamen. Er fragte nicht. Er hielt nur ihren Arm in den seinen gepreßt. An einer beladenen Barke trafen sie die alte Francesca. Die grüßte das schöne Paar tief wie ein Königspaar. Der Himmel war übersät mit silbernen Sternen.

Wortlos nahmen sie, ein jedes auf einer Bootsbank, Platz. Dann griffen die Ruderblätter tief ein.

Und als nach heißer Fahrt die Inselküste vor ihnen aus dem Meer sich hob und die Mauern des Sarazenenturmes aus dem Dunkel sich lösten, ließ Giuditta ihre Ruder über dem Wasser schwingen, lehnte sich zurück und begann ein Lied. Zum ersten Male, daß sie sang. Eine wilde, ergreifende Melodie. Die zog auf breiten Schwingen über das Wasser, umflatterte den harrenden Turm und legte sich über den Strand, auf den das Boot auffuhr. Es war wie ein großes, wunderbares Geheimnis.

Sie schritten über den Strand und betraten den Turm. Zwischen den Mauern, über dem Schutt, war ein Nest hergerichtet. Notdürftig zwar, aber genügend, um Schutz zu gewähren. Ein alter bunter Teppich deckte den Boden. Durch die fensterlose Turmluke, die wie der Eingang durch eine Wolldecke zu sperren war, schwebte die weiche, laue Nachtluft und der Sternenschein. Unaufhörlich sang das Meer.

»Nimm Besitz, Enrico. Das ist unser Reich. Dort in der Holzhütte schläft unser Hofstaat, Francesca. Wir brauchen das Dach nur zur Nacht. Am Tage haben wir den Sonnenhimmel zu Häupten und zu Füßen die blühende Insel. Sprich ein Wort, ob du zufrieden bist.«

»Ja, nur ein Wort: – Giuditta!«

Und sie in seinen Armen: »Mein Enrico … Mir gehörst du!«

Früh mit der Sonne durchstreiften sie ihr Reich. Oft eng aneinandergeschmiegt, oft wie ausgelassene Kinder sich jagend und haschend. Auf jedem Punkte, der neue Aussicht bot, hielten sie an und schrien auf vor Entzücken. Mit jedem Baum, jedem Strauch, mit der ganzen Blütenwildnis umher machten sie feierlich Bekanntschaft. Auf einer Steinplatte, die sich über das Meer hinausreckte, lagerten sie eng verschlungen, den Blick auf die hochgeschwungene Silhouette Capris gerichtet, oder südwärts, in der Richtung, in der sie Salerno wußten.

»Dorthin mußte der arme Heinrich, Giuditta. Ich konnte mir den Weg sparen. Hoho! Ich bin gesund!«

»Ruhig, ich bin dein Arzt!«

»Mein Mädchen bist du! Aber her nur mit deiner Medizin.« Und sie jubelten über die See.

Alle zwei, drei Tage, wenn es Abend wurde, kam ein Boot zu ihnen herüber und brachte Trinkwasser und die wenige Ware, deren sie benötigten. Die alte Francesca schwatzte mit dem Mann, nachdem sie ihm für die Fahrt eine Silberlira gezahlt. »Es ist ein ›Afrikaner‹,« sagte Giuditta, »aus der Sippe der Francesca. Er tut es gern.«

Während die Alte in den Morgenstunden das Hauswesen besorgte, sprang das junge Paar von geschützter Stelle in die See, schwamm spielerisch hinaus oder rund um die kleine Insel. Nachher lagen sie in der Sonne. Wurde es heißer, so suchten sie den Schatten der Bäume oder die runden Höhlen, die das Meer in den Fels gewaschen. Von hier aus warfen sie die Angel, meist aber träumten sie Schulter an Schulter, glücklich, daß sie ihr Beisammensein fühlten, und merkten nicht, wenn ein Fisch an den Köder ging. Und in dem seligen Nichtstun erstarkte der Mann, seine Brust war gesundet, und zuweilen schon blitzte es wie Tatendrang aus seinen Augen. Giuditta aber dachte an nichts als an die Stunde, die um sie war.

»Du gehörst mir, Enrico.«

»Du hast mir das Leben doppelt geschenkt, mit dem Glück die Gesundung.«

»Wenn ich mein Ohr auf deine Brust lege, höre ich nichts mehr von eifernden Stimmen.«

»Tust du das?«

»Jede Nacht.«

Und immer schöner wurde der Frühling, und immer stärker entfaltete sich das Leben. Wenn sie auf der überragenden Steinplatte saßen und über das Meer blickten, sahen sie die Dampfer, die den Strom der Fremden nach Messina und Palermo führten, die großen Segler, die von der afrikanischen Küste nach Neapel und Livorno strebten. Oft war die Ferne erfüllt von kleinen Booten, welche die Frühjahrsgäste Capris bis nach Sorrent spazieren fuhren. Und die Fischerflottillen aller kleinen Küstenstädte der Runde standen am Horizont wie lange schwarze Striche, umglitzert von der Sonne, die sich in den weißen und roten Segeln fing. Heimlich dehnte der Deutsche die Arme. Die Kraft wurde überschüssig. Einmal sie wieder erproben, einmal nur …

Neben ihm, die Hände unter dem Haarknoten verschränkt, lag Giuditta, mit großen Augen in die Sonne blickend. Er sah das ruhige Atmen des schlanken, frauenhaften Körpers. Er sah das stille Lächeln des Glücks um ihren Mund. Und er ließ die sich dehnenden Arme leise sinken.

»Höre, Giuditta,« begann er an einem Abend, während die alte Francesca mit dem ihr verwandten Fischer aus Positano am Landungsplatze plauderte, »wer bestreitet denn eigentlich den Haushalt?«

Sie sah ihn überrascht an.

»Das ist Frauensorge. Nimm fürlieb.«

»Oho! So schüttelst du mich nicht ab. Du willst doch nicht, daß ich mich vor dir schäme?«

Sie sah ihm noch immer in die Augen wie in einem jähen Schreck.

»Was dein ist und was mein ist, darin weiß ich keinen Unterschied. Wo bliebe da die Liebe, die eins ist? Wenn es dich jedoch beruhigt, Enrico: ich habe ein kleines Vermögen, und wir brauchen fast nichts.«

Er war nicht darauf zurückgekommen. Er wollte sie nicht kränken. Aber umso stärker spürte er die eigene, neugeborene Kraft, die sich nicht betätigen konnte. Und als der Frühling weiter und weiter schritt, dem Sommer entgegen, wurde er ganz still.

Der Schirokko meldete sich. Der legte sich ihm ins Blut wie Blei. Stundenlang konnte er, ohne zu sprechen, auf der Felsplatte liegen und nach Norden schauen.

»Was ist dir, Enrico?« fragte sie angstvoll, und doch bemüht, die Angst in der Stimme zu bändigen.

»Ich hatte ein Gesicht.«

»Erzähle doch …«

»Jetzt schneiden sie daheim das Korn. Dann folgt die Kartoffelernte. Wie schnell die Zeit da sein wird.«

»Was plagst du dich um Korn- und Kartoffelernte? Du bist doch kein Landmann.«

»Nein, aber Offizier bin ich – nein, nein: war ich. Ich seh’ die Stoppelfelder und den Brachacker. Die Schwadronen ziehen aus mit klingendem Spiel. Es geht ins Manöver. Ach was – ich bin ja doch nicht dabei.«

»Du gehörst mir, Enrico,« sagte sie mit zitternder Stimme.

Er nickte. –

Seit Wochen lag der Schirokko wie ein glühender Hauch über Land und Meer. Der Deutsche sprach nicht mehr. Er sah an Giuditta vorbei. Und sie wußte, daß er unablässig grübelte. Längst hatte sie begonnen, jeden Zug in seinem Gesicht zu belauschen. Da trat sie vor ihn hin.

»Du küssest mich nicht mehr, Enrico. Du sehnst dich heim.«

»Ich muß – fort!« stieß er hervor.

»Mit mir –?«

»Ich will wieder Dienste nehmen. Bei meinem alten Regiment. Ich bin gesund und lungere herum.«

»Willst du – mit mir – fort?«

»Giuditta – ich komme wieder.«

Sie stand blaß und aufrecht. Ihr Blick umfaßte seine ganze Gestalt. Glühend lastete der Schirokko über den beiden Menschen.

»Morgen abend,« sagte sie, »kommt der Verwandte der Francesca. Er kann dich nach Positano rudern oder nach Sorrent. Es ist besser, unser Boot bleibt hier. Bist du es zufrieden?«

»Giuditta!« schrie er. Alle Mattigkeit war von ihm abgefallen. Er schlang die Arme um die Willenlose und preßte sie an sich, als wollte er sie erdrücken. Er überschüttete sie mit Zärtlichkeiten.

»Dieser Tag und die Nacht gehören mir,« sagte sie leise.

Den Kopf in ihrem Schoß gebettet, lag er lang ausgestreckt, haschte nach ihren Händen, die er küßte, und sang deutsche Lieder über das Meer. Sie sah auf ihn hinab mit demselben steten, starren Blick. Als es Abend wurde, erhob sie sich.

»Bleibe. Ich will Francesca sagen, daß sie uns nicht umsonst erwartet. Die Nacht ist so warm. Wir wollen sie im Freien verbringen.«

Sie ging zum Turm zurück und kramte in ihren Sachen. Die alte Amme schaute ins Gelaß.

»Giuditta –!« rief sie erschreckt.

»Du schweigst! Ich bin die Herrin!«

»Giuditta –,« wimmerte die Alte und hob die Hände.

Die aber setzte sich nieder und schrieb mühsam ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, das sie verschloß.

»Morgen in der Frühe fährst du hinüber nach Positano und übergibst das dem Pfarrer. Kein Wort! Es muß sein. Enrico ist schwer krank.«

Und plötzlich nahm sie die Alte fest in die Arme und küßte sie wieder und wieder. »Schwöre mir bei allen Heiligen, schwöre mir, daß du tust, wie ich will. Du wendest dich nicht nach mir um. Und morgen in der Frühe ruderst du hinüber. Bei meiner Liebe, die ich dir entziehen würde.«

Die Alte machte das Zeichen des Kreuzes. »Ich bin deine Dienerin,« flüsterte sie stumpf. »O Madonna, Madonna …«

»Ich schrieb auch ihr. Gestern nacht. Nimm.«

Und Giuditta lag auf der die See überragenden Felsplatte neben dem Geliebten. Wie ein Sturm waren seine Zärtlichkeiten über sie dahingebraust. Nun schlief er in ihrem Arm.

Sie richtete sich auf und legte ihr Ohr auf seine Brust. Dann drückte sie die Lippen auf die Stelle.

»Was tust du?« fragte er und öffnete schlaftrunken die Augen.

»Ich küsse dein Herz.«

Und er hob die Arme zu ihrem Halse und entschlummerte aufs neue.

Giuditta saß unbeweglich. Ihr Auge grüßte den blauen, sternenbesäten Himmel und das blaue, schweigende Meer. Es grüßte die Küste und die schattenhaften Türme, die Zeichen alter Sarazenenherrlichkeit. Die Hand senkte sich in ihr Kleid und tastete nach dem Herzen des Schläfers. Dann beugte sie sich rasch vor, preßte die Lippen auf den Mund des Geliebten und stieß ihr Stilett tief in sein Herz.

Der Mann gab keinen Laut. Im Todesschlaf lächelnd lag er vor ihr.

»Giuditta Africana,« flüsterte sie. Und sie erhob sich und ging leisen, schnellen Schrittes den Felspfad zur anderen Seite hinab, wo ihre Barke auf dem Strande lag. Leise löste sie die lange Kette, legte sie, um das Klirren zu hindern, um die Schultern und stieg wieder hinan. Vor dem Toten kniete sie nieder.

»Du gehörst mir! Wir bleiben zusammen.«

Schwere Steine befestigte sie an der Kette. Sie schlang sie fest um den Toten und sich und verhakte sie. Da vernahm sie das Heranhasten der alten Francesca.

Sie umklammerte das blasse Haupt des Geliebten. »Komm,« sagte sie, »wir sind Könige –«

Mit aller Kraft hielt sie die Füße gegen die Steinplatte gestemmt. Es klirrte und klang. Dann war die Steinplatte leer. Unten seufzte das Meer auf wie unter einer allzuschweren Last, die es nicht zu halten vermochte. Die alte Dienerin, die sich mit wildverstörten Augen über den Felssturz beugte, sah nur noch die seltsam grünen Flecke des Meeres, die im Mondlicht stille, weite Ringe zogen …

Ich hatte die Achtzigjährige in der verfallenden Kapelle zurückgelassen. Als ich nach heißer Wanderung zurückkehrte, lag die Alte noch auf demselben Platz. Friedlich schlief sie. Und sie erwachte nicht mehr, als ich sie rüttelte.

Die Leute von Positano sträubten sich gegen das Begräbnis der Verrückten, die seit zwanzig Jahren wie eine Heidin gehaust hatte und nicht einmal zur Osterbeichte gekommen war. Da fragte ich nach ihrem Verwandten und fand einen alten Fischer. In der Nacht haben wir den leichten Körper ins Boot getragen.

»Schirokko,« sagte der Alte und wischte sich die glühende Stirn. Und ich dachte, als wir hinausruderten zu den Galli-Inseln, und der Sarazenenturm aus dem Dunkel stieg, an das schöne, einsame Weib, das ›Feuer im Blut‹ hatte von ihren Vorfahren her.

Dort, wo die grünen Flecke im blauen Wasser leuchten, haben wir die Leiche der alten Dienerin versenkt. Dort ruht sie auf dem Grunde zur Seite ihrer angebeteten Herrin, Giuditta Africana.

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