Auf der Fahrt nach dem Glück

Der Straße von Gibraltar zu steuerte ein Schiff. Rosenrote Streifen liefen über das Meer, leise zitternd, als ob die gewaltigen Wasser den Atem anhielten vor der Schönheit der untergehenden Sonne. Schon dunkelte es über der Küste Afrikas. Nur die weißen Häuser Tangers leuchteten aus den mit tiefen Schatten erfüllten Gebirgsfalten des kahlen Atlas. Spaniens Felsenküste rückte näher und näher. Im Norden wuchs, immer deutlicher erkennbar, das Löwenhaupt Gibraltar.

Lautlos fast durchschnitt der mächtige Schiffsrumpf die Wasser. Aus den glitzernden Wellen, die er aufwarf, hob sich ein Kopf, ein zweiter. Ein Delphinenpaar schnellte sich in graziösem Bogen von Welle zu Welle. Hinter ihm drein ein anderes. Und nun, links und rechts, vor- und rückwärts Hunderte von silbrigen Leibern, in weiten, elastischen Sprüngen sich folgend und überholend, wie eine Koppel schlanker Windhunde an den schäumenden Flanken des Jagdrosses dahinsausend. – –

Unbeachtet glitt das blitzende Spiel durch die Stille. Der Ruf der Schiffstrompete hatte eine Stunde früher als sonst zum Diner geladen. Auf dem Promenadendeck arbeiteten hastig die Elektrotechniker, überspannten den breiten Gang mit schwankem Segeldach und schufen einen Sternenhimmel aus bunten Beleuchtungskörpern. Alles klar zum Ball an Bord, waren die Säulen des Herkules passiert! Irgend einem hohen Herrn zu Ehren, dem mit der technischen Leistungsfähigkeit nicht minder die Eleganz der Lebensführung eines deutschen Ostasiendampfers verdeutlicht werden sollte.

Oben auf dem Sonnendeck lehnte ein Reisender. Sein Blick ging über das Meer und haftete an dem geheimnisvollen Gebirgszug, der fern an der marokkanischen Küste mehr und mehr zurückblieb. »Der Atlas – –« sagte er gedankenlos vor sich hin. Aber das Wort umflatterte ihn, als trüge es den Hauch einer Erinnerung in sich, so daß er, aufmerksamer werdend, die Gedanken spornte und endlich mit einer zähen Angestrengtheit, die ihm bald ein Lächeln entlockte, hinter dem Worte hersann. Und dann verflog das Lächeln, und er hatte die Erinnerung. Eine Strophe, eine Heinesche Strophe – – Fort, fort mit ihr! Er zwang den Blick, daß er sich dem buntglitzernden Wasser zukehrte. Aber das Spiel der Delphine bemerkte er nicht. Das Auge suchte aufs neue den Bann des Bergrückens auf, der nach der Sage der Alten das Himmelsgewölbe trug, und immer wieder krochen die Verse in sein Gehirn und klammerten sich darin fest:

»Ich unglücksel’ger Atlas! eine Welt,

Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,

Ich trage Unerträgliches, und brechen

Will mir das Herz im Leibe.«

Seine Augen weiteten sich, als müßten sie eine unaufhörliche Kette von Bildern ertragen. Über sein von der Seeluft gebräuntes Gesicht ging ein nervöses Zucken.

Was denn nur? Was denn nur? dachte er. Du hast es ja gewollt! – »O …« machte er ironisch, denn ihm war eingefallen, daß die Heinesche Strophe ebenso sprach.

»Du hast es ja gewollt –

Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,

Oder unendlich elend, stolzes Herz,

Und jetzo bist du elend.«

Er wandte sich kurz ab.

Über ihm war ein Rauschen und Flattern. Großbritanniens Flagge wehte vom Mast, grüßend stieg die deutsche auf und nieder, über die Toppen hißte das Schiff paradierend den Wimpelschmuck der Nationen. Und von der Reede Gibraltars erwiderten englische Kriegsschiffe die Höflichkeitsbezeigungen mit kurzem Flaggengruß.

Die Passagiere waren an Deck geeilt. Lachend und lärmend um die Schiffskapelle geschart, die mit aller Kraft »God save the king« ertönen ließ, winkten sie mit den Tüchern den drohenden Felsbatterien zu, bis der Dampfer in stolzer Fahrt einen Streifen freien Mittelmeers zwischen sich und die gewalttätige Europaspitze gebracht hatte und das Dunkel der hereinbrechenden Nacht das Land verschlang. Und plötzlich durchbrach ein Blitzen die Dunkelheit, feurige Blumen strahlten, lockten und flammten, süße Walzerklänge schmeichelten sich wiegend über Deck – »Rosen aus dem Süden« …

Eine Stunde schon jauchzte die Musik durch das Schiff. Der Mann auf dem Sonnendeck horchte. Leichte Schritte kamen die Treppe herauf, schwerere hinterdrein. Dann stand im Licht der einsamen elektrischen Lampe eine überschlanke Erscheinung in schleppender, meergrüner Seide, mit einem feinen blassen Köpfchen, das brünette Haar nach Knabenart kurz geschnitten. Neben ihr der Kapitän, mit der Zuvorkommenheit des aufmerksamen Gastgebers. Sie sprachen Englisch.

»So, Miß Turnbull, hier können Sie Luft schöpfen. Das ist ein ganzes Reservoir.«

»Danke, Kapitän. Und nun kehren Sie zu Ihren Pflichten zurück. Es war sehr schön.«

»Fallen Sie mir nicht über Bord, Miß Turnbull, und lassen Sie sich nicht vom Wassermann stehlen. Auf Wiedersehen! Hallo, ist da jemand – –?«

»Jawohl!«

»Ah, sieh da. Das trifft sich. Sie unterhalten wohl Miß Turnbull. Darf ich vorstellen? Herr Wilhelmi, Doktor oder Professor, das weiß ich wirklich nicht.«

»Nehmen Sie an: beides.«

»Auf Wiedersehen, meine Herrschaften. Versäumen Sie nicht den ganzen Ball!«

Sie lehnten schweigend an der Brüstung. Bis dem Manne das Schweigen peinlich wurde.

»Verzeihen Sie, Miß Turnbull, aber ich spreche nicht gern Englisch.«

»Und ich nicht gern Deutsch.«

Wieder eine längere Pause. Dann suchte der Mann heimlich den Gesichtsausdruck der Reisegefährtin, die bewegungslos auf ihrem Aussichtsposten verharrte.

»Mein Fräulein …«

»Mein Herr …«

»Ich hoffe, Sie haben mich vorhin nicht mißverstanden. Ich würde das sehr bedauern. Meine Worte sollten keine Unhöflichkeit enthalten.«

»Oh – ich würde das von einem Gentleman auch nicht erwartet haben.«

»Ich danke Ihnen. Aber mein Englisch ist tatsächlich derart, daß es Ihnen keine Freude bereiten würde.«

»Mein Deutsch ist von gleicher Beschaffenheit.«

»Nicht doch! Ich verstehe Sie ohne Mühe.«

»Aber wir brauchen ja gar nicht zu sprechen. Das Meer besorgt die Konversation für uns.«

»Schön. Da naht eine Welle. Ein bißchen demütig. Sehen Sie sie? Das ist meine Frage.«

»Und dort eine andere. Sie macht einen Knix. Sehen Sie? – Das ist meine Antwort.«

»Aha, ich verstehe. Das soll heißen: In Gnaden aufgenommen.«

Sie lachte und schüttelte den Kopf.

»O nein. Das soll heißen: Bemühen Sie sich nicht.«

»Zur Strafe wird die kokette Welle von der eben noch demütigen plötzlich verschlungen.«

»Möglich. Aber ich bin nicht kokett. Ich habe durchaus keinen Grund dazu.«

»Mit anderen Worten: Ich komme nicht in Betracht. Ob ich anwesend bin oder nicht.«

»Sie sind böse über den Scherz, Herr Wilhelmi …«

»Gewiß nicht. Ich finde mich eben mit meinem Schicksal ab.«

»Nun kokettieren Sie. Nun wollen Sie eine Schmeichelei hören.«

»Ich …? Ach du lieber Gott! Mache ich wirklich einen so schlechten Eindruck?«

»Sie sind bitter, Herr Wilhelmi. Das paßt nicht zu der schönen Nacht.«

»Die schönen Nächte sind für die glücklichen Träumer. Sie haben das Leben vor sich.«

»Und Sie? Machen Sie sich nicht älter, als Sie sind.«

»Ich habe es hinter mir. Es kommt nicht auf die Jahre, nur auf die Erlebnisse an.«

»Erlebnisse bleiben keinem erspart. Damit müssen wir uns abfinden.«

»Ja, mit den ehrenhaften.«

Sie sah ihn erschrocken an. Dann sagte sie, während ihre feinen Nasenflügel bebten: »Kann man denn anders handeln?«

»Nein. Aber man kann passiv in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum Beispiel: wenn man Schmutz anfaßt.«

Sie richtete ihren Blick fest auf ihn.

»Dafür gibt es Wasser.«

»Wasser allein tut’s nicht immer.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe,« murmelte sie, und eine rasche Blutwelle ging ihr durch die Wangen. »Ich wollte keine häßlichen Erinnerungen in Ihnen erwecken. Verzeihen Sie.«

»Gute Nacht!« sagte er freundlich und verbeugte sich.

»Gute Nacht!« Einer schnellen, weiblichen Empfindung folgend, streckte sie ihm die Hand hin. »Morgen wollen wir heiterer plaudern.«

Er drückte seine Lippen auf ihre Hand …

Vom Promenadendeck tönte die Musik. Dazwischen das Scharren und Schleifen tanzender Füße. Champagnerpfropfen knallten, ein ungestümes Lachen scholl herauf. Und wieder Musik …

Die beiden standen und sahen sich an. Um sie her das dunkle Meer, vom Mond mit glitzernden Maschen überspannt. Zur Linken tauchte geheimnisvoll die schneebedeckte Kette der Sierra Nevada auf. Ein Signalfeuer blitzte auf und verschwand.

Da nickten sie sich zu wie alte Bekannte und gingen. –

In der Frühe des Morgens saß Wilhelmi an seinem Lieblingsplatz auf Sonnendeck. Er sah nach der spanischen Küste hinüber und den Schneebergen. Aber er sah nicht ihre gigantische Schönheit, er wollte nur einen Ruhepunkt für seinen Blick. Der trug an einem Bilde, und er dachte nicht daran, es zu tauschen. Eine knabenhaft schlanke Gestalt mit einem ernsten, blassen Köpfchen stand vor ihm und reichte ihm die Hand. Das ist eine feste, treue Hand, dachte er. Eine Frauenhand ist nicht wie die andere. Manche kühlen wie ein Segen, andere brennen wie ein Fluch …

Da floh die Heiterkeit der Morgenstimmung von seinen Zügen. Er starrte auf die himmelanragende Küste, und er fand sie abwehrend, unwirtlich und öde.

»Guten Morgen,« hört er eine Stimme neben sich. Er wandte hastig den Kopf.

»Was ist das für ein bitterböses Gesicht! Ich dachte, heute wollten Sie heiter sein?«

»Nun bin ich es.«

»Das ist gut. Also bin ich noch etwas nütze auf der Erde.«

Er war aufgesprungen und hielt ihre Hand. Das einfache weiße Leinenkleid ließ die Gestalt elastisch wie eine junge Birke erscheinen. Auf dem kurzen brünetten Haar trug sie ein weißes Jockeimützchen.

»Sie sind wie ein frischer Morgengruß,« sagte er.

»Aber ein Gruß erfordert eine Antwort.«

»Die habe ich Ihnen schon gegeben. Mit meiner Freude.«

»Dann beanspruche ich den Gruß den ganzen Tag.«

Er nötigte sie in den langgestreckten Stuhl und wollte einen zweiten herbeiholen.

»Wissen Sie was, Herr Wilhelmi? Unsere Mitpassagiere schlafen ihren Tanzrausch aus. Wollen wir hier oben frühstücken?«

»Ah – ich besorge den Tee.«

»Nein, das ist Frauengeschäft.«

»Sie sollen sich nicht von der Stelle rühren.«

»Und Sie noch weniger! Ein Mann mit einem Präsentierbrett!«

»Es wäre nicht das erstemal.«

»Dann muß es das letzte – gewesen sein.«

»Sonderbar,« sagte er, »ich hatte mir die englischen Damen ganz anders vorgestellt.«

»Ach, das kommt nicht auf die Nation an. Und im übrigen – ich glaube, ich habe gar keine Nation.«

»Sie sind doch Engländerin?«

»Von den Eltern her. In England selbst war ich immer nur wenige Monate. Mein Vater wurde als Diplomat bald hierin, bald dorthin versetzt. Augenblicklich lebt er in Japan. Dort war ich auch zuletzt.«

»Aber Sie sind in Southampton an Bord gekommen. Sie befinden sich also auf der Rückreise?«

»Nein,« sagte sie, »ich bin überflüssig geworden. Mein Vater hat sich zum zweitenmal vermählt. Eine Dame meines Alters. Da habe ich stillschweigend das Feld geräumt.«

»O – war das notwendig …«

»Ich muß immer etwas zu sorgen haben,« gab sie mit einem leisen Lächeln zurück.

»Und auch in England fanden Sie nicht den richtigen Boden?«

»Man lebt nicht ungestraft sein ganzes Leben im Süden. Ich konnte das heimatliche Klima nicht mehr vertragen und wurde krank. Wie Sie mich hier sehen, bin ich eine Rekonvaleszentin.«

»So,« sagte er, »dann werden Sie sich von nun an auch als solche behandeln lassen. Trotz Ihrer Antipathie gegen Männer mit Präsentierbrettern. Keine Widerrede!«

»Rufen Sie doch den Steward,« bat ihre Stimme hinter ihm her, und er hörte ein stilles, wohliges Lachen aus dem Klang. –

Den ganzen Vormittag saßen sie beieinander. Oft rann eine halbe Stunde hin, ohne daß sie sprachen. Nur das Meer rauschte leise zu ihnen empor. Dann beugten sie sich über die Brüstung und lauschten. Wenn sie sprachen, geschah es, daß einer die Sprache des anderen versuchte. Wie in zarter Rücksichtnahme.

»Sie behandeln mich wie eine Kranke. Ich bin ganz gesund.«

»Sie sollen es werden. Und deshalb sollen Sie sich nicht anstrengen.«

»Weil ich Deutsch spreche? Macht es Ihnen keine Freude?«

»Halten Sie mich nicht für undankbar. Ich bin im Leben nie verwöhnt worden. Daran liegt es.«

»Wollen Sie mir nicht erzählen? Ich möchte Ihnen helfen.«

»Nein,« sagte er, »ich kann mir nur allein helfen. Ich hätte es schon früher tun sollen.«

Dann verstummten sie. –

Nach dem Diner trafen sie sich wie auf Verabredung am alten Platze.

»Sie sehen müde aus, Miß Turnbull. Still! Sie sollen mich gar nicht bemerken.«

»Die Menschen waren so laut heute abend,« gab sie wie zur Entschuldigung zurück. »Kann man sich nicht verstehen ohne vieles Sprechen?«

»Ja, das kann man. Und wir werden auf der Stelle den Beweis antreten. So, nun strecken Sie sich gemütlich in Ihrem Tropenstuhl aus. Ich werde eine Decke um Ihre Füße hüllen. Und jetzt: kein Wort!«

»Nur eins … Sie sagten vorhin, Sie seien nie im Leben verwöhnt worden. Ich bin’s! Heute!«

Sie schloß schnell die Augen und rührte sich nicht. Wenige Minuten darauf war sie eingeschlummert.

Er saß aufgerichtet neben ihr. Wie eine Schildwache. Seine Augen wurden nicht müde, sie anzusehen. Als müßte er hinter den geschlossenen Lidern die offenen Augen ihrer Seele erblicken. Und er sah sie, und es begann eine stille Zwiesprache.

»O du, wie kann ich dich verwöhnt haben … Das sagtest du nur, um mir wohlzutun.«

»Ja, ich möchte dir wohltun.«

»Und bist selbst der Erholung bedürftig.«

»O – ich! Mich macht die Sonne gesund. Du aber hast eine arme, kranke Seele.«

»Eine Frau hat sie krank gemacht.«

»Nein, das war keine Frau. Frauen sind Heilbringerinnen.«

»Es gibt Frauen, die uns vergiften, gleichgültige, untreue …«

»Nenne sie nicht mit dem Ehrennamen ›Frau‹. Du mußt uns keinen Schimpf antun.«

»Weshalb – weshalb bist du so gütig zu mir – –«

»Das kannst du keine Frau fragen. Sie weiß keine Antwort.« –

Er beugte sich über sie mit angehaltenem Atem. Wie friedlich sie lag, den schlanken Körper gestreckt, den brünetten Knabenkopf ein wenig zur Seite geneigt, und in dem stillen Gesicht feine Zeichen … War es wirklich erst seit gestern, daß er diese Frau kannte? Erst seit heute, daß er diese Zeichen zu deuten wußte? – –

Der Matrose hoch oben im Ausguck gab das Stundenzeichen. Da erwachte Miß Turnbull. Sie regte sich nicht. Nur die Augen schlug sie auf. Verloren hing ihr Blick an seiner Hand, mit der er die Lehne ihres Stuhles umspannt hielt.

»Haben Sie Schönes geträumt?« fragte er.

»Geträumt – –? Haben wir uns denn nicht unterhalten?«

»Ja – im Traum.«

»Das ist seltsam. Mir war, als erzählten Sie mir. Aus Ihrem Leben. Und dann brach es ab.«

Ihr Blick war noch immer auf seine Hand geheftet, die am Ringfinger einen schmalen, goldenen Reifen trug. Sein Blick folgte dem ihren. Und tief atmend, ohne sich Rechenschaft zu geben, sagte er: »Ich will weiter erzählen.«

Es war ganz still an Deck. Die Passagiere, ermüdet von den Strapazen der Ballnacht, hatten frühzeitig ihre Kabinen aufgesucht. Nur der Schritt des diensttuenden Offiziers scholl in schwerem Gleichmaß von der Kommandobrücke. In der Ferne signalisierte ein Schiff und verschwand in der Nacht.

»… Ich war gewarnt. Aber was wußte ich von der Frau! Nicht mehr als von meiner Mutter. Und das genügte mir. Denn ich war stolz auf meine Mutter. Als ich Hanna zum erstenmal sah, nahm sie keine Notiz von mir. Ich war noch Student, im letzten Semester, und sie hatte ohne mich Tänzer genug. Damals hieß es, sie würde einen Hauptmann heiraten, und ich beneidete den Mann, denn sie hatte etwas an sich, das verwirrte und fesselte. Zwei Jahre später – ich war Dozent geworden – verlautete, ihre Hochzeit mit einem Diplomaten stünde bevor. Ich weiß, daß ich damals einen heftigen Schmerz verspürte und eine ebenso heftige Freude, als ich wenige Wochen darauf vernahm, die Verlobung sei in letzter Minute zurückgegangen. Und wieder hörte ich lange Zeit nichts von ihr. Bis mein erstes Geschichtswerk herauskam, das meinen Namen bekannt machte und mir die Professur eintrug. Ich war der jüngste Professor. Da öffneten sich manche Türen, an denen ich früher nur scheu vorübergegangen war. Und bei einer Abendgesellschaft traf ich Hanna – –

Sie begrüßte mich, als ob sie sich meiner noch entsinne. Das schmeichelte mir, obwohl ich genau wußte, daß ich ihr persönlich nie vorgestellt worden war. Sie begann sofort über mein Buch zu sprechen und die glänzende Laufbahn, die sich mir damit eröffnet hätte. Bei Tisch war sie meine Dame. Sie hatte ihren besonderen Tag. Obwohl sie mit mir gleichaltrig war, überstrahlte sie die jüngste der Damen. Oder mir war nur so, und meine Augen sahen alles nur in dem Lichte, in dem sie es gesehen haben wollte. Nie habe ich solchen Bann gespürt. Das tat, sie behandelte mich wie einen Vertrauten. Wenn sie mich etwas fragte, geschah es schnell und leise, als wäre ihr Wort nur für mich berechnet. Wollte sie mich auf etwas aufmerksam machen, so winkte sie mir mit den Augen und dirigierte lächelnd meinen Blick. Dazu der Ton der vornehmen Welt, die schillernde Art, mit Gedanken zu spielen oder an sich gleichgültige Dinge wie Gedanken einzukleiden. Ich hatte nie Frauen dieser Sphäre gekannt. Ich war wie berauscht.

Anderen Tags erhielt ich den Besuch eines älteren Kollegen, den ich hochschätzte. Er sagte mir, daß er wegen eines selten gewordenen Buches käme, und sprach – von Hanna. Ich ging mit Freuden auf die Unterhaltung ein und dann mit Zorn. Wie konnte ein Mensch wagen, diese Frau zu verdächtigen? Wo waren die Beweise? Daß sie zweimal verlobt gewesen sei? Das sprach nur gegen die Männer. Daß sie kokettiere? Ach Gott, das sagt man den Frauen nach, die beweglicheren Geistes sind als andere. Wir aber sollten uns schämen, derartig müßiges Gerede weiterzugeben.

›Die Scham,‹ sagte der alte Kollege, ›äußert sich bei manchem Manne früher, bei manchem Manne später. Bei mancher Frau gar nicht.‹ Damit ging er und grüßte mich ernst.

Ich blieb in wildester Erregung zurück. Das Blut brauste mir bis in die Ohren. Und dann nahm ich meinen Hut und rannte durch die Straßen und ohne weiteres zu ihr, zu Hanna. Sie stand vor mir, mit der leichten Röte der Spannung auf den Wangen. Und ich sprudelte heraus, was ich gehört, was man mir zugetragen hatte, und ich sah das Rot auf ihren Wangen aufsteigen und hielt es für das Rot der Scham und forderte, als sei ich an ihrer Statt der Beleidigte gewesen, Antwort. Ganz fest sah sie mich an, und sie las in meinen Augen die Antwort, die ich hören wollte …«

Der Erzähler machte eine Pause.

»Eine halbe Stunde darauf waren wir verlobt.«

Die Zuhörerin fuhr auf. Dann ließ sie sich leise in ihre alte Stellung zurücksinken.

Er aber sah an ihrem blassen Gesicht vorbei auf das nachtdunkle Meer, das das Schiff in unaufhaltsamer Eile lautlos fast durchschnitt.

»Wenige Monate darauf waren wir verheiratet. Kaum einen anderen Menschen habe ich in dieser Zeit zu Gesicht bekommen als Hanna. Sie behauptete, auf jeden eifersüchtig zu sein, der sich mir nahen wollte. Und diese Eifersucht machte mich glücklich. Wo wir Männer mit dem Herzen lieben, sind wir Kinder.

Jetzt sind es drei Jahre, daß ich verheiratet bin, fuhr Professor Wilhelmi fort. Die fürchterlichsten Jahre meines Lebens. Nein, nein, lassen Sie mich zu Ende erzählen. Es ist gleich so weit, und es hätte schon eher so weit sein können. Aber ich war eben ein Kind. Aus dem Kind wurde ein Diener. Diese Art Avancement befremdete mich zunächst in keiner Weise. Dann erst fiel mir auf, daß sie einseitig war. Aus meinem Elternhause wußte ich, daß sich zwischen Vater und Mutter ein Sport entwickelt hatte, sich gegenseitig zu bedienen. Bei uns blieb die Beschäftigung mir allein zugedacht. Aus der ernstesten Arbeit wurde ich herausgerissen, um Aufträge zu empfangen, und alle zielten auf Geselligkeit und den Aufwand hierzu. Das Interesse an meinen historischen Forschungen, das sie mir in den Tagen unserer Brautzeit so sehr entgegengetragen, daß ich leicht auf alle Kollegen Verzicht leisten konnte, war mit dem Tage der Hochzeit verschwunden. Und doch sollte ich arbeiten, mußte ich arbeiten, um die immer höher steigenden Ausgaben zu decken. Da war es kein Wunder, daß ich ihr nicht in alle Gesellschaften, zu Waldpartien, zu Eisfesten und was weiß ich, folgen konnte. ›Wir haben einen berühmten Namen‹, pflegte Hanna zu sagen. ›Ich sorge dafür, daß er nicht in Vergessenheit gerät, während du in deinem Gelehrtenstübchen über deinen unsterblichen Werken hockst.‹ Ich ließ sie gehen, wohin sie wollte, denn ich gewann dadurch die Ruhe, die ich brauchte, um durch Arbeit Geld zu schaffen. In diesen Tagen aber packte mich ein neuer Neid. Der Neid auf den Schuster unten im Hof, der nach Feierabend sein lachend sich sträubendes Weib auf den Schoß nahm.

Und dann – nach drei Jahren fast – erhielt ich zum zweiten Male den Besuch meines alten Kollegen, zu dem ich die Hochschätzung wiedergefunden hatte. Er nannte mir einen Namen. Und dann nahm er mich fest in den Arm. ›Sie haben Hoffnungen zu erfüllen,‹ sagte er, ›wissenschaftliche Hoffnungen. Sie sind mir zu schade, daß Sie so untergehen. Sonst wäre ich wahrhaftig nicht wiedergekommen.‹ Da habe ich mich zusammengerissen.

Als Hanna von einer Ausfahrt heimkam, ging ich ruhig und gefaßt in ihr Zimmer. Ihre glitzernden Augen sahen mich an, während ich sprach. Aber sie lasen nicht mehr die Antwort aus meinen Augen, die Antwort, die ihr am bequemsten gewesen wäre, wie damals bei unserer Verlobung. Und plötzlich waren die Rollen gegen damals vertauscht. Die Worte überstürzten sich auf ihren Lippen, sie leugnete, sie schwor, sie fand Worte voll Schimpf und Hohn. Nie sah ich je einen Menschen in solcher Ekstase des Häßlichen. Da wußte ich: wahr oder unwahr! – dies Bild wirst du nie im Leben mehr vergessen.

In der Nacht kam sie zu mir, kalt und überlegen. ›Du quälst dich umsonst, mein Lieber, aus einem unschuldigen Flirt eine Haupt- und Staatsaktion zu konstruieren. Ich könnte deinen verehrten Herrn Kollegen vor Gericht fordern, wenn mir an einem Skandal läge. Ich habe Zeugen, er nicht.‹

›Ich werde deinen Hauptzeugen morgen von Angesicht zu Angesicht sehen.‹

›Ach – du denkst wohl gar an eine Herausforderung? Du wirst gegen Windmühlen fechten.‹

›Das wird sich finden. Hast du sonst noch einen Wunsch?‹

›Den, mich nicht lächerlich gemacht zu sehen. Der Assessor, dessen Namen du vorhin genannt hast, wird dir sein Ehrenwort geben, daß er mich nicht mit der Spitze des Fingers berührt hat.‹

›Woher weißt du das?‹

›Weil es die Wahrheit ist! Nur, weil du mich stets allein in die Gesellschaften entließest, durfte sich der Klatsch an mich wagen. Du trägst die Schuld, du allein!‹

Alles in mir schrie auf gegen diese gehässige Umkehrung der Dinge. Es zuckte mir wie ein Krampf in den Fingern. – Aber da sah ich eine Frau vor mir. Die anerzogene Ritterlichkeit siegte.

›Reise,‹ sagte ich, ›so können wir nicht mehr miteinander leben. Zeige mir, daß ich im Unrecht bin. Ich will es uns beiden wünschen.‹

›Du kommst mir zuvor,‹ entgegnete sie. ›Ich werde morgen abreisen und irgendwo an der Riviera diese Attacke auf meine Nerven kurieren. Bis du selber zu mir kommst.‹«

Er stand auf und blickte in die Stille der Nacht. Kein Laut um sie her. Nur der schwere Schritt des diensttuenden Offiziers über ihnen.

»Nun bin ich auf dem Wege,« sagte er dann …

Ein Schatten fiel über ihn hin. Jetzt wird sie sich still entfernen, dachte er. Aber er spürte eine Hand in der seinen.

»Ich wünsche Ihnen – von Herzen – Glück auf den Weg …«

»Was für ein Glück? Sie wissen ja nicht, um was es sich für mich handelt. Ich bin auf dem Wege, mir meine Ruhe wiederzuholen. Mehr habe ich nicht zu verlangen.«

»Sie wollen Ihre Ruhe – von der Frau verlangen, von der Sie mir sprachen?«

»Ja, das will ich. Ich will wieder arbeiten können, wieder Hoffnungen haben dürfen. Denn das ist alles hin. Alle Frische, alle Zuversicht. Meine Gedanken laufen im Kreis, und sie ist der Mittelpunkt. O, staunen Sie nicht. So jämmerlich bin ich, bei aller meiner Naivität den Frauen gegenüber, doch nicht geworden, daß ich mich mit aller Gewalt an das Schürzenband anklammere, das einmal mein war. Nein, ich will nur wissen, daß es nicht mehr mein ist! Ich will das ehrliche Bewußtsein haben, mich keiner unritterlichen Handlung schuldig bekennen zu müssen, vor allem nicht der gegenüber, die dieses Bewußtsein, das unter Gleichwertigen als Stärke gilt, als meine Schwäche auffaßt und damit rechnet. Und dann – dann will ich wieder frei aufatmen und von neuem beginnen.«

»Wie wollen Sie das von der Frau verlangen …«

»Es sind jetzt drei Monate,« sagte er leise, »daß sie an der Riviera weilt. Zweimal erhielt ich eine Korrespondenzkarte als Quittung für die übersandten Monatsbeträge. Das drittemal nicht. Ich hätte sofort durch Deutschland und die Schweiz reisen können und wäre schneller am Platz gewesen. Aber die Meerfahrt klärt uns ab und vertieft unsere Gedanken. Darum gab ich mir selbst, als letzte Frist, diese Bedenkzeit auf, diese Zeit des Bedenkens. Mehr kann ein Mensch nicht an sich selber tun.«

»Nein, mein Freund.«

»Ich werde kommen und sehen. Finde ich, was ich erwarte, daß sie mit der Elastizität ihrer Natur in diesen Dingen über das Vergangene zur Tagesordnung übergegangen ist und unbekümmert um den schwerfälligen Narren im Norden die schöne, leichtlebige Dame weiterspielt, so werde ich ihr, selbst gegen ihren Willen, die Freiheit zu allen ihren Abenteuern verschaffen. – Miß Turnbull, das ist ein altes Lied. Nur für den, der plötzlich zum Mitsingen kommandiert wurde, erhält es mit einem Mal den Reiz der Neuheit. Als ob es nie im Leben zuvor erklungen wäre. Verzeihen Sie, aber die alltäglichsten Schmerzen kommen dem Betroffenen immer als unerhörte und nie dagewesene vor. Menschliche Eitelkeit, Miß Turnbull. Als Historiker sollte ich eine größere Weltanschauung haben – ich habe auch bei der Philosophie eine Anleihe zu machen versucht –; aber wir setzen uns schneller über ein ganzes Schlachtfeld voll Leichen hinweg als über einen einzigen Mord.«

Sie faßte seine Hand. »Ich sage nur nochmals: Glück auf den Weg! Jedes weitere Wort wäre leer. Glück auf den Weg!«

Er spürte den festen Druck ihrer Hand, und es tat ihm wohl, daß sie keine mitleidsvollen Worte suchte. Da stand ein Mensch, der hatte den Glauben an seinen Weg.

»Liebe Freundin …«, sagte er, als sie schieden.

Das Schiff fuhr dicht unter Land, die französische Riviera entlang, und weiter, immer weiter an der in goldener Morgensonne erstrahlenden italienischen Schwesterriviera vorbei. Staunend und stumm standen die Passagiere vor der Gottesherrlichkeit der Natur. Dort, nur dort konnte das Menschenglück zu Hause sein …

Um zehn Uhr tauchten die Bergterrassen Genuas auf, wie ein schneeweißer Traum aus blauem Meer. Der Lotsendampfer brauste heran. Eine alte verwitterte Gestalt übernahm neben dem Kapitän das Kommando. Langsam und majestätisch fuhr das Schiff in den Hafen Frederico Guilelmo.

»Leben Sie wohl, Miß Turnbull. Ich sagte am liebsten: Auf Wiedersehen.«

»So sagen Sie es.«

»Wohin werden Sie sich wenden?«

»Zum Lago di Como. Ich werde auf Wochen in Bellagio Quartier nehmen, in der Villa Serbelloni.«

»Gott mit Ihnen!«

»Und mit Ihnen.«

Sie waren auf das Gespräch der Nacht nicht mehr zurückgekommen.

Es war eine Woche später, als Wilhelmi mit dem Dampfer von Como in Bellagio landete. Er hatte von der Herrlichkeit des Sees nichts bemerkt. Er war erschöpft von Seefahrten.

Er ließ sein Gepäck ins Hotel Genazzini bringen und stieg den Treppenweg hinauf, der zur Villa Serbelloni führt. In der kleinen Holzschnitzerei am Wege erstand er seine Einlaßkarte. Diese vornehmen Parks schützten sich gegen unberufene Fremde. Sie wollten abgeschiedene Stätten der Ruhe bleiben.

Beim Pförtner erkundigte er sich nach Miß Turnbull und ließ sich hoch hinauf in den dichten Park weisen, der in Duft und Blüten schwamm. Die einsame Bank, hoch oben über dem Felssturz zum See, sei ihr Lieblingsplätzchen. Dort traf er sie. Er dachte an Feuerbachs Bild der Iphigenie, die, weißgewandet, vom Felsen aus sehnsüchtig über die Wasser blickt …

»Da bin ich wieder, liebe Freundin.«

Sie machte eine jähe Bewegung. Dann sah sie die tiefen Schatten unter seinen Augen und hielt ihre Freude zurück.

»Ich habe Sie erwartet. Jetzt müssen Sie ruhen. Blicken Sie um sich. Ist das nicht alles die Ruhe?«

Er ließ sich neben ihr auf die Bank nieder, nahm seinen Hut ab und strich sich mechanisch über die Stirn. Da berührte sie leise seine Hand. »Lieber Freund …«

»Ja, ja, ja – hier ist die Ruhe.«

»Wissen Sie noch, was ich Ihnen einstmals erzählte? Daß ich in die Welt gegangen sei, weil ich daheim nichts mehr zu sorgen fand? Ich muß immer eine liebe Sorge haben, lieber Freund.«

Er blickte sie an, unbeweglich, ohne ein Wort zu erwidern.

»Ich glaube – ich habe sie gefunden.«

Wie wohl das tat – diese Ruhe … Als Knabe war er einmal aufgewacht, nach langem, schwerem Fieber. Da saß die Mutter an seinem Bett, und ihre kühle Hand lag auf seiner Stirn. Es war so still um ihn her, daß er die Fliegen summen hörte, die sich im weit geöffneten Fenster in der Sonne badeten. Aus dem Garten zog der Duft einer Sommerrose herein. Und durch sein Blut zog die Gesundung … Damals hatte er der Mutter seine wilden Fieberträume erzählt. Und ihre kühle Hand hatte sie alle von seiner Stirn weggenommen. Daran dachte er jetzt, und er begann zu sprechen.

»Ich war in Nizza – und man wies mich nach Mentone. Ich war in Mentone – und man wies mich nach Nervi. Und von dort nach Como. So bin ich zu Ihnen gekommen. Auf der Fahrt nach dem Glück.«

»Die Ruhe – –« sagte sie, und ihr Blick ging über den See zu den stillen Bergen.

»Ja, die Ruhe! Jetzt will ich sie haben! Weshalb ich allein nicht? Nur, weil diese Frau es nicht will? Mag sie ihre Marionetten am Drahte ziehen. Ich scheide aus dem Spiel aus.«

»Sie sollten jetzt hier bleiben.«

»Ja, das will ich.«

»Wir werden den Lario befahren und durch die stillen Gärten wandern. Die Azalien sind wie eine rote und weiße Flut, und die Blüten der Magnolienbäume brechen auf. Oft ist es, als ob die Berge ringsum ein Zaubereiland behüteten. Man möchte wie Kinder sein und sich Märchen erzählen. Man kann ja gar nicht anders.«

»Das können …«

»Sie müssen nicht zweifeln. Wenn Sie es wieder gelernt haben, werden Sie nicht wissen, daß Sie es je verlernt hatten. Das ist das Schönste im Leben. Es gibt Wunden – und es gibt Heilkräuter. Kommen Sie!«

Er bot ihr den Arm, und sie gingen durch den waldigen Park, der wie ein stillatmendes Schweigen war. Und am Nachmittag, als die Sonne im Westen stand, nahmen sie ein Boot und fuhren in den Leccoarm und zum Park der Villa Giulia, dessen schwere Blütentrauben über die Mauer bis ins Wasser hingen, als könnten sie sich nicht satt sehen an der eigenen Schönheit. Und am nächsten Vormittag trug sie das Boot hinüber nach Cadenabbia, und sie besuchten den Wunderpark der Villa Carlotta, die die Königin des Lario heißt und in köstlich kühler Kamelienpracht schwelgt. Und wieder am Nachmittag wanderten sie die schattenspendende Platanenallee entlang, die von Bellagio aus in den Zedern- und Agavenpark der Villa Melzi führt. Gärten um sie her. Und jeder Schritt war ein Ausruhen.

Sie sah, wie er auflebte in diesem Gottesfrieden. Und sie sprach mit ihm von den Blumen, Sträuchern und Bäumen, die sie in Urwaldspracht kannte von ihren Reisen im Süden und im fernen Osten. Indien grüßte herüber und das märchenhafte Japan. Und dann begann er von der Geschichte der Länder zu reden, die sich aus ihrem Boden entwickelt.

»In acht Tagen,« sagte er, »geht mein Urlaub zu Ende. Aber ich komme wieder, zum Herbst. Werde ich Sie dann noch finden?«

»Ich werde Sie hier begrüßen.«

Als die Woche zu Ende war, bat er sie, in der Frühe mit ihm hinüberzufahren nach Varenna. Dort, im Rücken des Städtchens, das seine ragenden Zypressen bis hart an den See vorschiebt, hebt sich eine steile Bergkuppe. Auf ihr ein trotziger Turm, von zersplittertem Mauerwerk umkränzt.

»Soll ich den Namen des Kastells erfragen?«

»Nein, es ist so geheimnisvoller. Man kann alte Sagen hineindichten, aus grauen Zeiten, da noch die große Sonne auf große Menschen schien und ein Graf hier hauste wie ein König des Sees.«

»Die Schulkinder werden uns Lügen strafen.«

»Ich aber behaupte es. Es wird ein Heckenritter gewesen sein. Denn wie ein Wall, wie eine Hochwacht ist der Berg, und von der festen Burg war ein beherrschender Blick über den Como- und den Leccoarm und über die vereinigten Wasser des Lario, von den Dörfern und Städten, von den Weingärten und Olivenhügeln bis zu der drohenden Kette der Schneeberge. Nichts auf dem See konnte geschehen, ohne daß der Graf es wußte und wollte. Und er nahm von den Tonnen Weins, die auf dem See verladen wurden, die besten und trank sie aus und von den Frauen des Sees die schönsten. Und auch sie sprachen, wenn er sie heimwärts ließ: Du hast mich ausgetrunken wie einen Becher Weins. – Es war einmal. Die Zeiten und ihre Sitten haben sich gewandelt …«

Sie drangen in den letzten Hohlweg, der zum Gipfel führte, und sie lächelten über ein Liebespaar, das, wie eine Illustration ihres Gesprächs, eng umschlungen ihnen entgegenkam.

»Ein italienischer Offizier. Wohl aus Como –«

Und ein Ruf hüben – ein Schrei drüben!

Vor dem Paare stand Wilhelmi. Der Offizier verstand seine Bewegung falsch und riß an seinem Säbel. Da beugte sich Wilhelmi weit vor, und mit furchtbarem Hieb seines Stockes schlug er über die bewaffnete Hand, daß der Säbel auf die Steine klirrte.

Wie eine Wildkatze hatte sich die Frau an die Brust des Verwundeten geworfen und deckte ihn.

Und noch immer weit vornübergebeugt und auf die Gruppe starrend, sagte Wilhelmi: »Frei!«

Dann wandte er sich nach seiner totblassen Begleiterin um und bot ihr den Arm.

»Ich habe um Entschuldigung zu bitten, Miß Turnbull. Kehren wir nach Bellagio zurück.«

Sie gingen. Und er spürte die Schläge ihres Herzens gegen seinen Arm stürmen. Dann hatten sie die Wegbiegung hinter sich.

»Ich muß Sie schwer geängstigt haben, liebe Freundin. Verzeihen Sie mir. Ich glaube, der genius loci, der Geist des Heckenritters mußte in mich gefahren sein.«

Er versuchte zu scherzen.

Da löste sie sich von seinem Arm, hob ihre Hände und zog seinen Kopf zu sich. Hastig, fiebernd.

– – – Und ihre Tränen strömten über sein Gesicht … – – –

Am anderen Morgen wartete sie hoch oben im Park der Villa Serbelloni vergebens auf ihn, daß er käme. Als es Mittag wurde, eilte sie hinunter ins Hotel Genazzini. »Der Herr,« beschied sie der Torhüter, »habe noch gestern abend spät Besuch erhalten. Heute morgen in der Frühe sei er mit den Herren fortgegangen. Die Rechnung sei bezahlt. Aber wegen seines Gepäcks habe der Herr noch nichts bestimmt. Er müsse also noch einmal zurückkommen.«

Und er kam.

Als die brennende Mittagsglut die Menschen in den Häusern hielt, hinter geschlossenen Läden die heißen Stunden zu verschlafen, kam er auf einem Maultierkarren. Durch die Brust geschossen. Ein Karabiniere trug ihn mit Hilfe des Friedhofwärters in die kleine Totenkapelle. Kein Neugieriger war zugegen. Nur die englische Dame, die seit Mittag in brennender Glut den Weg auf und ab gegangen war.

An sie auch lautete der Brief des Toten.

»Wenn ich falle, so sollst Du wissen, daß ich auf der Fahrt nach dem Glück gefallen bin. Ich liebe Dich.«

Sommer und Winter wechseln, Sonne und Sturm. Die Blumen in dem ruhevollen Park und die Scharen der Menschen, die die Gestade des Lario besuchen. Nur eine englische Dame bleibt Sommer und Winter, jahraus, jahrein. Der mädchenhaft schlanke Wuchs ist ihr geblieben und das junge Gesicht mit den feinen Zeichen. Durch das kurze brünette Haar ziehen sich Silberfädchen.

»Die Natur hat es ihr angetan,« sagen mit Stolz die Barkenführer, und die Fremden nicken, überwältigt von dem Zauber der Landschaft.

Und wissen nicht, daß sie den stillen Schläfer, der am Berge ruht, zu trösten hat, jahraus, jahrein … –

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