IX. Briefwechsel aus der Fremde. (1867-1871.)

Blättern wir nun in den Briefen des Dichters aus dieser Zeit der Selbstverbannung, so finden wir darin die Bestätigung alles dessen, was Strachow darüber berichtet und Anna Grigorjewna selbst erzählt, alles was wir durch sie über äussere Ereignisse, Verhältnisse und Stimmungen erfuhren. Diese Briefe in extenso zu bringen, müssen wir aus zwei Gründen verzichten. Einmal weil die Zahl der uns vorliegenden, 42, einen Umfang von etwa zehn Druckbogen grossen Formats einnimmt, die Länge einzelner oft sehr beträchtlich ist, ohne dass uns daraus neues Material für die Erkenntnis des Dichters erwüchse. Dann aber, und dies ist wichtiger, weil seine Richtung durch alles Vorangegangene und namentlich durch das Tagebuch besser gekennzeichnet ist als durch diese Briefe, deren Wiederholungen mit ihrem Nachdruck auf gewisse rein persönliche geschäftliche Beziehungen und Kontroversen von einem deutschen Publikum gleichgiltig, ja wohl missverständlich müsste aufgenommen werden. Auch jenen Briefen, welche hier angefügt werden, müssen wir eine Bemerkung voransetzen, welche der Leser dieser Aufzeichnungen wohl selbst gemacht hat, die aber als Merkmal von Dostojewskys Wesen hervorgehoben zu werden verdient. Des Dichters Briefe sind alles andere eher als „geistreiche Briefe“; sie sind in noch viel höherem Grade als seine künstlerischen und publizistischen Schriften nicht litteraturmässig. In seiner Grossartigkeit und Unmittelbarkeit (bei allem Raffinement des Künstlers) hier wie überall um die Form unbekümmert, sorglos um die tausend Sachen und Sächelchen, die er da oder dorthin in das rechte Licht stellen könnte, ist Dostojewsky in seinen Briefen einfach wie die Alltäglichkeit, ja durchaus Alltagsmensch, und wir glauben ihm aufs Wort, was er noch im Jahre 1856 aus Sibirien an Apollon Maikow schrieb: „— — Verzeihen Sie die Zerfahrenheit meines Briefes. In einem Briefe kann man niemals etwas Ordentliches schreiben. Darum eben kann ich die Mme. de Sévigné nicht leiden. Sie hat allzu gute Briefe geschrieben.“ Dostojewskys Stil ist sowohl in seinen Werken, als in seinen Briefen so, wie ihn Nietzsche fordert (ohne ihn selbst zu haben): „nicht der kunterbunt superlativistische, sondern der einer zu vornehmer Einfachheit geadelten Alltäglichkeit“.

Der erste Brief, in den wir nach seiner Abreise Einblick haben, ist vom 28. August 1867 aus Genf datiert, an Maikow gerichtet. Nach einer einleitenden Entschuldigung, dass er so lange geschwiegen habe, und einem jener Vertrauensanfalle, die uns bei Dostojewsky immer wie die Reversseite des Misstrauens erscheinen, bei dem wir ihn den besten Freunden gegenüber manchmal ertappen, beginnt er die zusammenfassende Erzählung seines Reiselebens wie folgt:

„Sie wissen, wie ich abgereist bin und aus welchen Gründen. Der Hauptgründe waren zwei: 1. Nicht nur die Gesundheit, nein, das Leben zu retten. Die Anfälle wiederholten sich schon in jeder Woche; diese Nerven- und Gehirnzerrüttung aber zu empfinden und klar zu erkennen, das war unerträglich. Der Geist begann thatsächlich sich zu zerrütten. Das ist thatsächlich wahr. Die Nervenstörungen aber brachten mich manchmal zu Wutausbrüchen. Die zweite Ursache, oder Situation, war diese: die Gläubiger konnten nicht mehr länger warten, und zur Zeit meiner Abreise war schon durch Latkin und später durch Petschatkin die Klage gegen mich eingereicht. Noch ein Kleines und sie nahmen mich fest. Nehmen wir an — ich will keine schönen Worte machen und mich aufschmücken — nehmen wir an, das Schuldgefängnis wäre mir in einer Hinsicht auch sehr nützlich: Aktualität, Material, ein zweites „Totenhaus“; mit einem Wort, es gäbe Material mindestens für 4-5000 Rubel, aber ich habe eben erst geheiratet und, ausserdem, würde ich den heissen Sommer im Tarassowschen Hause aushalten? Das war eine unlösbare Frage. Wäre es mir aber unmöglich geworden im Tarassowschen Hause, bei zunehmenden Anfällen, litterarisch thätig zu sein — wie hätte ich dann die Schulden bezahlt? Und die Verpflichtungen waren schrecklich angewachsen.

Ich ging also fort, allein den Tod in der Seele. Ans Ausland habe ich nicht geglaubt, d. h. ich war überzeugt, der geistige Einfluss des Auslandes werde ein sehr schädlicher sein. Allein, ohne Material, mit einem jungen Geschöpf, das sich mit naiver Freude anschickte, mein Wanderleben zu teilen — ich aber sah in dieser naiven Freude viel Unerfahrenheit und erste Glut, und das bedrückte und quälte mich sehr. Ich fürchtete, Anna Grigorjewna werde sich in dieser Zweisamkeit mit mir langweilen; auch sind wir ja bis heute mitsammen ganz allein. In mich aber setzte ich keine Hoffnungen: mein Wesen ist krankhaft, und ich sah voraus, dass sie sich mit mir abquälen werde. (NB. Allerdings hat sich Anna Grigorjewna als stärker und tiefer erwiesen, als ich sie gekannt und vermutet hatte, und in vielen Fällen war sie mir geradezu ein Schutzengel; dabei war aber auch viel Kindliches, Zwanzigjähriges, das wunderschön und natürlich unvermeidlich ist, dem zu entsprechen ich aber kaum die Kraft und Fähigkeit habe. Alles dieses hat mir bei der Abreise vorgeschwebt, und obwohl, ich wiederhole es, Anna Grigorjewna sich kräftiger und trefflicher erwies, als ich gedacht hatte, so bin ich dennoch, auch heute, nicht beruhigt.) Endlich bedrückte mich die Kargheit unserer Mittel. Wir reisten mit einer durchaus nicht grossen Barschaft und mit einer Vorschuss-Schuld von 3000 Rubel an Katkow ab. Ich rechnete allerdings damit, dass ich im Auslande sofort zu arbeiten beginnen würde. Was aber kam heraus? Ich habe bis jetzt nichts oder nahezu nichts geleistet und mache mich erst jetzt ernstlich und endgiltig an die Arbeit. Freilich, darüber, ob ich gar nichts gethan habe, bin ich noch im Zweifel; dafür hat man viel durchempfunden und manches ersonnen; aber Niedergeschriebenes, Schwarz auf Weiss ist noch wenig da, dieses Schwarz auf Weiss aber ist ja das Endgiltige, das allein wird bezahlt. Nachdem wir das langweilige Berlin so schnell als möglich hinter uns gelassen — wo ich mich einen Tag aufhielt, wo die langweiligen Deutschen es zuwege brachten, meine Nerven bis zur Bosheit zu reizen, und wo ich das russische Bad besuchte — gingen wir nach Dresden, mieteten eine Wohnung und setzten uns auf einige Zeit fest.

Die Wirkung davon war für mich eine sehr seltsame: sofort warf sich mir die Frage auf: wozu bin ich in Dresden, gerade in Dresden und nicht anderswo, und was zwang mich gerade dazu, alles an einem Orte zu verlassen und nach einem anderen zu fahren? Die Antwort war ja klar (Gesundheit, Schulden usw.); allein das Erbärmliche war auch das, dass ich es zu deutlich empfand, dass es für mich jetzt, wo immer ich auch leben mochte, ganz gleich sei — ob in Dresden oder anderswo. Überall war ich in der Fremde, überall ein abgerissenes Bruchstück. Ich wollte mich sofort an die Arbeit machen und fühlte, dass es damit durchaus nicht gehe, dass der Eindruck durchaus nicht der richtige sei. Ich las, ich schrieb einiges, war von Sehnsucht, dann von Hitze gequält — die Tage vergingen einförmig. Wir gingen regelmässig nach Tische im Grossen Garten spazieren, hörten billige Musik, dann lasen wir, dann gingen wir schlafen. In Anna Grigorjewna’s Charakter kam ein entschieden antiquarischer Zug zum Vorschein (das freut mich und unterhält mich sehr). Es ist z. B. ihre Hauptbeschäftigung, irgend welche dumme Rathäuser zu besichtigen, sie zu verzeichnen, zu beschreiben, was sie mit ihren stenographischen Zeichen ausführt und womit sie schon sieben Büchlein vollgeschrieben hat. Aber mehr als alles hat sie die Galerie eingenommen und aufgeregt, und ich war sehr erfreut darüber, weil dadurch in ihrer Seele zu viele Eindrücke entstanden sind, um Langweile aufkommen zu lassen. Sie hat die Galerie täglich besucht.

Soviel wir aber auch über alle die Unseren, über die Petersburger und die Moskauer gesprochen und debattiert haben, über Sie und Anna Iwanowna — es war teilweise doch recht trübselig. Meine Gedanken will ich Ihnen nicht beschreiben. Viele Eindrücke haben sich aufgespeichert. Ich habe russische Zeitungen gelesen und mir damit das Herz erleichtert. Da habe ich’s endlich empfunden, dass sich in mir genug Material angesammelt hatte für einen ganzen Artikel über das Verhalten Russlands Europa gegenüber und über die oberste Schichte der russischen Gesellschaft. Aber, was soll man davon reden! Die Deutschen haben mich nervös gemacht, unser russisches Leben der höheren Kreise aber mit ihrem Glauben an Europa und die Zivilisation — ebenfalls. Die Vorgänge in Paris waren ein Schlag für mich. Auch die guten Pariser Advokaten schrieen: Vive la Pologne! Puh! wie abscheulich, namentlich wie dumm und wie wohldienerisch! Ich habe mich in meiner früheren Idee nur noch bestärkt, dass es für uns teilweise sogar vorteilhaft ist, dass uns Europa nicht kennt und so schlecht kennt. Die Details aber des Prozesses Berezowski! Wie viel fauler Schleppträgerei! Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist — wie wenig sind sie mit ihren Reden noch weiter gekommen, wie ist alles noch auf demselben Fleck, alles auf demselben Fleck!

Auch Russland erscheint unsereinem von hier aus plastischer, das ungewöhnliche Faktum der Mündigkeit und unerwarteten Reife des russischen Volkes angesichts all unserer Reformen (sei es auch nur die der Gerichtsbarkeit), und gleichzeitig die Kunde von dem durch den Kreisrichter des Orenburger Gouvernements durchgeprügelten Kaufmann erster Gilde! Eines fühlt man: dass das russische Volk dank seinem Wohlthäter und dessen Reformen nach und nach in eine solche Lage gekommen ist, dass es unwillkürlich Thatkraft, selbständiges Sehen erlernt, und darin liegt die ganze Kunst. Bei Gott, die heutige Zeit ist, was den Durchbruch und die Reformen anlangt, fast wichtiger als die Zeiten Peters. Und die Eisenbahnen? So schnell als möglich nach dem Süden, so schnell als möglich[25]; darauf kommt alles an. Bis dahin überall die rechte Gerichtsbarkeit, und dann, was für eine grosse Wiedergeburt! (Über all dieses denkt man hier nach, träumt man, über all dieses schlägt einem das Herz.) Obwohl ich hier fast mit niemand verkehre, kann man doch nicht umhin, manchmal unversehens auf jemand zu stossen.

In Deutschland begegnete mir ein Russe, der ständig im Auslande lebt, alljährlich auf drei Wochen nach Russland reist, seine Einkünfte einstreicht und wieder nach Deutschland zurückkehrt, wo er Frau und Kinder hat, die alle germanisiert sind. Ich fragte ihn unter anderem: warum er sich eigentlich expatriiert habe? Er antwortete wörtlich (mit gereizter Heftigkeit): „hier ist Zivilisation, bei uns aber Barbarei. Ausserdem giebt es hier keine Nationalitäten. Ich sass gestern im Coupé und konnte den Franzosen nicht vom Engländer oder vom Deutschen unterscheiden.“

„Das ist also, nach Ihrer Meinung, Fortschritt?“

„Wie denn nicht, natürlich!“

„Ja wissen Sie, dass das vollkommen unrichtig ist? Der Franzose ist vor allem Franzose, der Engländer — Engländer, nur sie selbst zu sein ist ihr höchstes Ziel, ja noch mehr, es ist das eben ihre Kraft.“

„Durchaus nicht. Die Zivilisation muss alles ausgleichen, und wir werden erst dann glücklich sein, wenn wir vergessen werden, dass wir Russen sind und jeder allen ähnlich sein wird. Man darf nicht auf Katkow hören!“

„Sie also lieben Katkow nicht?“

„Er ist ein Nichtswürdiger!“

„Warum?“

„Weil er die Polen nicht liebt.“

„Lesen Sie sein Journal?“

„Nein, ich lese es niemals.“

Dieses Gespräch gebe ich buchstäblich wieder, dieser Mensch gehört zu den jungen Progressisten, hält sich aber übrigens, wie es scheint, abseits von allen anderen. In was für knurrigen und verachtenden Spitzigkeiten bewegen sie sich doch im Auslande!

Er teilte mir mit, dass er ein endgiltiger Atheist sei. Aber du mein Gott: der Deismus hat uns Christum geschenkt, d. h. eine so erhabene Vorstellung des Menschen, dass man ihn nicht ohne Andacht begreifen kann, und dass man nicht anders kann, als glauben, dies sei das Ideal der Menschheit für alle Ewigkeit. Sie aber — —[26] haben sie uns hingestellt? Anstatt der höchsten göttlichen Schönheit, auf welche sie spucken, sind sie alle so niedrig, selbstsüchtig, so schamlos aufreizend, so leichtfertig, hochmütig, dass es unverständlich ist, was sie erhoffen und was ihnen nachfolgen wird. Russland und die Russen hat er abscheulich, unanständig geschmäht. Was ich aber beobachtet habe ist dies: alle diese Liberälchen und Progressisten, namentlich jene, die noch aus der Schule Belinskys sind, halten es für ihr vornehmstes Vergnügen und ihre grösste Befriedigung, über Russland loszuziehen. Der Unterschied liegt darin, dass die Nachfolger ......s einfach Russland schmähen und ihm offen den Zusammenbruch wünschen (vor allem den Zusammenbruch!) Diese Ableger aber fügen hinzu, dass sie Russland lieben. Dabei aber ist ihnen nicht nur alles, was nur in Russland halbwegs selbständig ist, verhasst, so dass sie es ablehnen und mit Lust in Karikatur verwandeln, vielmehr, wenn man ihnen thatsächlich ein Faktum vorlegte, das man auf keine Weise leugnen oder in eine Karikatur verstümmeln könnte, sondern mit dem man unbedingt einverstanden sein müsste, so würden sie, meine ich, bis zum Schmerz, zur Qual, bis zur Verzweiflung unglücklich sein. Zweitens habe ich bemerkt, dass sie (wie alle, welche lange Zeit nicht in Russland gewesen sind) entschieden die Thatsachen nicht kennen (obwohl sie Zeitungen lesen) und so gröblich jedes Empfinden Russlands verloren haben, dass sie ganz gewöhnliche Fakten nicht begreifen, die unser russischer Nihilist nicht einmal leugnet, sondern nur in seinem Sinne karikiert. Unter anderem hat er gesagt, dass wir vor den Deutschen kriechen sollten, dass es nur einen allen gemeinsamen und unausweichbaren Weg gebe: die Zivilisation, und dass alle Anläufe zum Russismus und zur Selbständigkeit — Schweinerei und Dummheit sind ....

Endlich plagte sowohl mich als Anna Grigorjewna die Unruhe und Beklemmung in Dresden allzusehr. Dazu kamen hauptsächlich zwei Fakten: 1. Nach Briefen, welche mir Pascha einsandte (er hatte mir nur einmal geschrieben), zeigte es sich, dass die Gläubiger die Klage eingereicht hatten; folglich war an eine Rückkehr vor der Tilgung nicht zu denken. 2. Fühlte meine Gattin sich in gesegneten Umständen (dies bitte ich, unter uns, die neun Monate werden im Februar voll, folglich kann man umsoweniger zurückkehren). 3. Was geschieht aber mit meinen Petersburgern, mit Emilie Fjodorowna (der Schwägerin), mit Pascha und einigen anderen? Geld. Geld! und es ist keines da. 4. Sollen wir irgendwo überwintern, so sei es im Süden. Dabei möchte man Anna Grigorjewna doch irgend was zeigen, sie zerstreuen, mit ihr ein wenig reisen. Wir haben beschlossen, irgendwo in der Schweiz oder in Italien den Winter zuzubringen. Dabei kein Geld! Das Vorausgenommene ist schon sehr stark geschmolzen. Ich habe an Katkow geschrieben, ihm die ganze Lage auseinandergesetzt und ihn abermals um 500 Rubel Vorschuss gebeten. Wie denken Sie? er hat’s geschickt! Was ist das für ein vortrefflicher Mensch! Ein Mann von Herz! Wir sind in die Schweiz aufgebrochen. Aber hier muss ich meine Niedrigkeiten und Laster erzählen.

Apollon Nikolaewitsch, mein Täubchen, ich fühle, dass ich Sie als meinen Richter ansehen kann. Sie sind ein Mann von Herz, wovon ich mich schon lange überzeugt habe; und endlich habe ich Ihr Urteil immer hochgeschätzt. Es ist mir nicht schmerzlich, mich vor Ihnen schuldig zu bekennen. Aber ich schreibe dies nur an Sie allein. Geben Sie mich dem Urteil der Menschen nicht preis! An Baden-Baden vorüberkommend fiel es mir ein, mich dahin zu wenden. Es verfolgte mich der lockende Gedanke, 10 Louisd’ors zu wagen, um vielleicht 2000 Frcs. als Zugabe zu gewinnen, das wäre ja dann genug auf vier Monate, um mit allem und allen Petersburgern zu leben; das schlimmste war, dass ich auch früher schon manchmal gewonnen hatte, und das allerschlimmste, dass meine Natur niedrig und allzu leidenschaftlich ist. Überall und in allem gehe ich bis an die äusserste Grenze, mein ganzes Leben habe ich das Mass überschritten. Der Teufel hat dann auch sofort ein Stückchen mit mir aufgeführt: In drei Tagen gewann ich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit 4000 Frcs. Jetzt will ich Ihnen erklären, wie sich mir nun alles darstellte. Von der einen Seite dieser leichte Gewinnst — von 100 Frcs, in drei Tagen 4000 —, von der anderen Seite — Schulden, Klageschriften, seelische Unruhe, die Unmöglichkeit nach Russland zurückzukehren. Endlich drittens, die Hauptsache — das Spiel selbst. Wissen Sie, wie Einen das hineinzieht? Nein, ich schwöre es Ihnen, da ist nicht Habgier im Spiele, obwohl mir vor allem Geld um Geldeswillen nötig war. Anna Grigorjewna beschwor mich, ich solle mich mit den 4000 Frcs. zufrieden geben und sofort abreisen. Aber eine so leichte und mögliche Möglichkeit, alles zu reparieren! Und welche Beispiele! Ausser dem eigenen Gewinnst siehst Du täglich, wie andere zu 20 und 30000 Frcs, einziehen. (Die Verlierenden siehst Du ja nicht.) Wodurch haben sie’s verdient? Mir ist das Geld nötiger als ihnen. Ich riskierte also weiter und verlor. Ich fing an mein Letztes zu verlieren, wurde aufgeregt bis zum Fieber — und verlor. Ich fing an die Kleider zu versetzen: Anna Grigorjewna versetzte all ihre Habe, die letzten Sächelchen (welch ein Engel! wie tröstete sie mich, wie quälte sie sich in dem verfluchten Baden in den zwei Stübchen über der Schmiede, wohin wir übersiedelt waren!). Endlich war’s genug — alles war verloren. Endlich musste man sich retten und von Baden fortkommen. Ich schrieb abermals an Katkow, bat abermals um 500 Rubel (ohne der Umstände zu erwähnen; allein der Brief war aus Baden datiert, und so ahnte er wohl etwas). Nun, und er hat’s ja geschickt! Hat’s geschickt! So sind also jetzt 4000 vom „Russkij Wjestnik“ vorausgenommen!“

Im weiteren Verlauf des Briefes rechnet Dostojewsky dem Freunde die Auslagen vor und kommt zur Schlussmitteilung, dass sie in Genf angekommen seien, bei zwei alten Frauen Quartier genommen haben und nun am vierten Tage ihres Aufenthalts 18 Francs in der Tasche und weitere 50 Rubel für die zwei nächsten Monate in Aussicht haben. Nun folgt einer jener bekannten kindlich schlauen Feldzugspläne, die wir in seinen ausführlichen Briefen immer schon kommen sehen, die uns Rührung und Lächeln zugleich abgewinnen über des Dichters Menschliches und Allzumenschliches! In einem Briefe vom 15. September an denselben Freund erwähnt er, dass dessen 125 Rubel sie gerettet haben.

Doch beklagt sich Theodor Michailowitsch sehr über seine Gesundheit, welcher das Klima schade, da er jeden zehnten Tag ungefähr einen Anfall habe, nach welchem er sich fünf Tage nicht erholen könne. Schliesslich folgende Stelle: „Habe ich Ihnen schon über den hiesigen Friedenskongress geschrieben? Ich habe in meinem Leben nicht nur keinen solchen Unsinn gesehen oder gehört, sondern nicht einmal angenommen, dass die Menschen solcher Dummheit fähig wären. Alles war dumm: wie sie sich vereinigten, wie sie die Sache durchführten und wie sie die Entscheidung trafen. Natürlich hatte ich schon früher keinen Zweifel darüber, dass ihr erstes Wort Zank sein werde. So geschah es auch. Sie fingen mit dem Antrag an, man möge votieren, dass grosse Monarchieen überflüssig seien und dass man lauter kleine daraus machen solle; dann: dass es keinen Glauben zu geben brauche usw. Es gab vier Tage Geschrei und Geschimpfe: Wir aber, bei uns zu Hause, wenn wir die Erzählungen davon lesen und hören, sehen wahrlich alles verkehrt. Nein mit eigenen Augen solltet Ihr schauen, mit eigenen Ohren hören.“ Über Genf, seine ungünstigen klimatischen Verhältnisse und deren Rückschlag auf seine Gesundheit drückt sich Theodor Michailowitsch in einem Briefe vom 21. Oktober geradezu verzweifelt aus. Im Zornausbruch sagt er: „Und was sind das für selbstzufriedene Prahlhänse! Das ist ja ein Zeichen besonderer Dummheit, mit allem so zufrieden zu sein! Alles ist hier hässlich, faul, teuer, Alles ist hier betrunken! So viele Renommisten und so viele betrunkene Schreiliesen giebt es sogar in London nicht. Und alles bei ihnen, jeder Pfosten — ist herrlich und grossartig. „Wo ist die Rue N. N.?“ — „Voyez monsieur, vous irez tout droit, et quand vous passerez près de cette majestueuse et élégante fontaine en bronze, vous prendrez etc.“ — Diese majestueuse élégante fontaine — ist der allerhinfälligste, geschmackloseste Rococo-Quark; aber man kann nicht anders, als sich brüsten, wenn Einer nur um die Strasse fragt usw.“

Nun finden wir eine grosse Lücke in der Korrespondenz. Der nächste Brief an Maikow ist nach einem Zeitraum von sechs Monaten geschrieben. In diese Zeit fällt die Geburt Sonjas, des Kindes, welches das Ehepaar so sehr beglückt haben muss, wie wir aus dem tiefen Schmerz über ihren drei Monate später erfolgten Tod ersehen. Eine Reihe intimer Briefe aus jener Zeit ist teilweise in Verlust geraten, zum Teil nicht aus der Hand gegeben worden. In dem rein geschäftlichen Briefe vom 21. April 1868 wird nur an einer Stelle des Kindes erwähnt: „Einzig und allein das Kind zerstreut uns beide, — aber es ist eine quälende Freude — wenn Du in die Zukunft blickst — ach!“

Am 18. Mai aber beherrscht der eben erlittene Verlust des Kindes schon den ganzen Brief. „Meine Sonja ist gestorben, vor drei Tagen haben wir sie begraben. Zwei Stunden vor ihrem Tode habe ich es nicht gewusst, dass sie sterben wird; der Arzt hatte drei Stunden vor der Katastrophe gesagt, dass ihr besser sei und dass sie leben werde. Sie war im ganzen eine Woche krank — eine Lungenentzündung war’s. Ach, Apollon Nikolaewitsch! mag doch meine Liebe zu meinem ersten Kindchen lächerlich gewesen sein, mag ich mich doch lächerlich in meinen vielen Antwortschreiben auf die Glückwünsche darüber ausgedrückt haben! Es war ja nur ich, der für sie lächerlich war, aber Ihnen, Ihnen zu schreiben fürchte ich mich nicht. Dieses winzige, drei Monate alte Wesen, so armselig, so klein — für mich war es schon eine Persönlichkeit und ein Charakter. Sie fing schon an, mich zu erkennen, lieb zu haben, sie lächelte, wenn ich auf sie zukam. Wenn ich ihr mit meiner komischen Stimme Lieder sang, so liebte sie ihnen zu lauschen. Sie hat nie geweint oder das Gesichtchen verzogen, wenn ich sie küsste; sie hat zu weinen aufgehört, wenn ich zu ihr trat. Und nun sagen sie mir zum Troste, ich würde noch andere Kinder haben. Wo aber ist Sonja? Wo ist diese winzige Persönlichkeit, um derentwillen ich, offen spreche ich’s aus, die Kreuzmarter auf mich nähme, wenn sie nur leben würde? Nun — lassen wir das, meine Frau weint. Übermorgen werden wir uns endlich von unserem kleinen Grabhügel trennen und irgend wohin fortfahren. Anna Nikolajewna (Anna Grigorjewnas Mutter) ist mit uns. Sie ist eine Woche vor des Kindes Tode gekommen.“

„Die letzten vierzehn Tage, seit dem Beginn von Sonjas Krankheit, habe ich gar nicht arbeiten können. Abermals habe ich eine Entschuldigung an Katkow geschrieben, und im Maiheft des „Russkij Wjestnik“ werden abermals nur drei Kapitel erscheinen. Allein, ich hoffe jetzt Tag und Nacht ununterbrochen arbeiten zu können, und vom Juniheft angefangen wird der Roman wenigstens anständig erscheinen.“ (Es handelt sich um den „Idiot“.)

Im nächsten Brief, der vom 22. Juni aus Vevey an Maikow gerichtet ist, entschuldigt sich der Dichter über sein langes Schweigen damit, dass er trotz vieler Anfälle und grosser Erschöpfung thatsächlich Tag und Nacht gearbeitet habe. Wieder auf seinen Verlust zurückkommend sagt er noch einmal: „Niemals bin ich unglücklicher gewesen, als in dieser ganzen letzten Zeit. Ich will Ihnen nichts beschreiben, aber je mehr die Zeit vorschreitet, umso brennender ist die Erinnerung, und desto lebendiger stellt sich mir das Bild der verstorbenen Sonja vor die Augen. Es giebt Minuten, die ich nicht ertragen kann. Sie hat mich schon gekannt, sie hat mich an ihrem Todestage — als ich aus dem Hause ging, um die Zeitungen zu lesen, ohne zu ahnen, dass sie in zwei Stunden sterben würde — da hat sie mir so mit ihren Äuglein nachgeschaut, dass ich es bis jetzt, und immer deutlicher und deutlicher sehe. Nie werde ich das vergessen und niemals werde ich aufhören, mich darüber zu quälen! Wenn auch ein anderes Kind da sein wird, so begreife ich nicht, wie ich es lieben werde, wo ich Liebe dafür aufbringe, ich brauche Sonja! Ich kann nicht begreifen, dass sie nicht da ist und ich sie niemals mehr sehen werde.“

In einem Anfalle seines alten Zweifels, ob man auf ihn „nicht böse sei“, schreibt er am 19. August nach einer Klage darüber, dass er keine Antwort erhalten habe: „Dafür giebt es wohl zwei Gründe: 1. Sie sind auf mich über etwas böse geworden, 2. es ist entweder mein Brief oder der Ihre in Verlust geraten.“

„Ich glaube um keinen Preis an die erste Ursache: Ihr Brief (der letzte, vom Mai) war so, dass ich nicht begreifen kann, dass es möglich wäre, nach so herzlichen Gefühlen gegen mich, plötzlich wieder böse auf mich zu werden, und darum glaube ich blind, dass mein Brief in Verlust geraten ist. Die Petersburger Polizei öffnet und liest alle meine Briefe, und da der Genfer .... allen gegebenen Daten nach (bemerken Sie wohl, nicht Annahme, sondern Daten) bei der geheimen Polizei Dienste leistet, so sind auch im hiesigen (Genfer) Postamte, mit welchem er in geheimer Verbindung steht — wie ich sicher weiss — einige meiner Briefe zurückgehalten worden. Schliesslich habe ich ein anonymes Schreiben erhalten, das mir mitteilt, ich werde verdächtigt (weiss der Teufel wessen verdächtigt), und dass befohlen worden sei, meine Briefe zu eröffnen und mich an der Grenze zu erwarten, wenn ich sie passiere, um mich unvermutet und strengstens zu visitieren. Darum glaube ich fest, dass Ihnen entweder mein Brief nicht zukam oder der Ihrige verloren ist. (NB. Aber wie soll ein reiner Mensch, ein Patriot, der sich ihnen bis zur Abwendung von seinen früheren Überzeugungen hingegeben hat, der den Kaiser vergöttert — wie soll er Verdächtigungen etwa einer Beziehung zu irgend welchen Polaken oder dem Kolokol[27] ertragen ...! Unwillkürlich sinken einem da die Hände, die ihnen dienen wollten. Wen haben sie nicht alles von den Schuldigen bei uns übersehen, und den Dostojewsky verdächtigen sie!)“

An einer anderen Stelle dringt es doch hervor, dass Dostojewsky dieses „Nichtglauben an das böse sein“ mehr als Festigung für sich gesagt habe, denn als einen Ausfluss wirklichen Vertrauens. Er sagt: „Apollon Nikolajewitsch, mein Freund (Sie selbst haben mich Ihren Freund genannt), wie schwer war es mir manchmal in jener Zeit, bei dem Gedanken, dass Sie böse auf mich sind!

Schreiben Sie also, schreiben Sie in beiden Fällen: sind Sie böse, so erklären Sie die Ursachen, und sind Sie es nicht, so schreiben Sie, dass Sie mich lieben.“

Diese Stelle bedarf wohl keines Kommentars, sie ist Kommentar für vieles im Leben und in den Werken des Dichters.

„Mit dem Roman“, fährt er fort, „bin ich unzufrieden bis zum Ekel. Ich habe mich furchtbar zur Arbeit angespannt, konnte aber nichts machen: Die Seele ist krank. Jetzt will ich die letzten Anstrengungen für den dritten Teil machen. Verbessere ich den Roman — erhole ich mich selbst; wenn nicht, bin ich verloren. Ich bin diese ganze Zeit unglücklich gewesen. Sonjas Tod hat mich sowohl als meine Frau heruntergebracht. Meine Gesundheit ist nicht gut: Anfälle, das Klima von Vevey verstimmt die Nerven“, hiess es an anderer Stelle. —

Der nächste Brief, ebenfalls an Maikow gerichtet, ist schon vom 7. Oktober aus Mailand datiert. Nach einigen Entschuldigungen über sein längeres Schweigen kommt Theodor Michailowitsch auf seine Furcht eines Missverständnisses zu sprechen, die übrigens auch Maikow seinerseits zu teilen scheint. Dies redet er jenem aus: „Nein, mein Herz ist anders geartet, und sehen Sie, wir haben einander vor 22 Jahren kennen gelernt (zuerst bei Belinsky, erinnern Sie sich?). Seit jener Zeit hat mich das Leben viele Male hierhin und dorthin geschleudert und mich mit seinen Variationen manchmal verblüfft, zuletzt aber, jetzt in diesem Augenblick — sind ja nur Sie da, d. h. der einzige Mensch, an dessen Herz und Seele ich glaube, den ich liebe und mit dessen Ideen und Überzeugungen die meinigen in eins verschmolzen sind. Kann es denn anders sein, als dass Sie mir fast so teuer sind, als mein verstorbener Bruder? Ihre Briefe haben mich erfreut und ermutigt; denn mein Seelenzustand ist ein sehr trauriger. Auch hat mich vor allem die Arbeit gequält und erschöpft. Es ist schon fast ein Jahr, dass ich 3½ Druckbogen im Monat schreibe. Das ist schwer. Dabei nichts von russischem Leben, nichts von russischen Eindrücken ringsherum; für meine Arbeit war das aber von jeher unentbehrlich. Endlich, wenn Sie auch die Idee meines Romans loben, seine Ausführung war bis jetzt nicht eine glänzende. Es quält mich der Gedanke sehr, dass, könnte ich einen Roman voraus, etwa ein Jahr voraus schreiben, und hätte dann zwei bis drei Monate zu Reinschrift und Korrekturen vor mir, ganz etwas anderes herauskäme — dafür stehe ich gut. Jetzt, da mir das alles klar geworden ist, sehe ich es deutlich.“

Weiter heisst es dann: „Mein hiesiges Leben wird mir schon allzu schwer. Gar nichts Russisches, nicht ein Buch, nicht eine Zeitung habe ich nun schon volle sechs Monate zu Gesicht bekommen; dazu völlige Vereinsamung. Im Frühling, als wir Sonja verloren hatten, übersiedelten wir nach Vevey, dorthin kam auch Anna Grigorjewnas Mutter zu uns. Allein Vevey reizt die Nerven. Gegen das Ende unseres dortigen Aufenthalts erkrankte sowohl meine Frau als auch ich selbst. Und nun sind wir vor zwei Monaten über den Simplon nach Mailand gekommen. Hier ist das Klima besser, aber das Leben ist teurer, es regnet viel und ausserdem — tötliche Langweile. Anna Grigorjewna ist geduldig, doch sehnt sie sich nach Russland, und wir beide weinen um Sonja. Wir leben trübselig und klösterlich. Anna Grigorjewnas Charakter ist empfänglich, thätig; hier kann sie sich mit nichts beschäftigen. Ich sehe, dass sie sich grämt, und obwohl wir einander fast noch mehr lieben, als vor 1½ Jahren, so drückt es mich doch, dass sie mit mir in einer so traurigen Abgeschiedenheit lebt. Das ist sehr schwer zu tragen. In der Perspektive steht weiss Gott was. Wenn wenigstens der Roman vollendet wäre, so wäre ich freier. Nach Russland zurückkehren, daran ist schwer zu denken — keinerlei Mittel. Das heisst soviel als: hinkommen und in den Schuldenarrest hineinfallen. Aber dort bin ich ja nicht mehr ein Arbeitsmensch. Gefängnis ertrage ich infolge meiner Epilepsie nicht, folglich werde ich im Gefängnis auch nicht arbeiten. Womit werde ich dann anfangen die Schulden zu tilgen, und wovon werde ich leben? Wenn mir die Gläubiger ein Jahr Ruhe liessen — sie haben mir aber durch drei Jahre keinen ruhigen Moment gelassen —, so würde ich dazu kommen, ihnen nach einem Jahre durch meine Arbeit die Schuld abzutragen. Wie bedeutend auch meine Schulden sind, so sind sie doch nur ein Fünftel dessen, was ich schon mit meiner Arbeit abgezahlt habe. Ich bin ja auch fortgefahren, um zu arbeiten. Und nun hat die Idee des „Idioten“ Sprünge bekommen. Wenn er auch einen gewissen Wert hat oder haben wird, so ist wenig Effekt darin; Effekt aber ist für die zweite Auflage unumgänglich notwendig, auf die ich noch vor wenigen Monaten blind rechnete und die etwas Geld eintragen könnte. Jetzt, da der Roman noch nicht einmal vollendet ist, ist an eine zweite Auflage gar nicht zu denken. Käme ich nach Russland, wüsste ich, woran ich arbeiten und Geld verdienen sollte; hab’ ich doch seinerzeit genug verdient! Hier aber werde ich stumpf, begrenzt, entferne mich im Geiste von Russland; keine russische Luft, keine Menschen! Die russischen Emigranten endlich, die kann ich schon gar nicht begreifen, das sind — Wahnsinnige.

Das ist also die Lage, in der wir uns befinden. In Mailand aber zu bleiben ist auch unmöglich. Wir wollen in einem Monat nach Florenz übersiedeln, dort werde ich auch den Roman beendigen. Geld bekomme ich immer noch von Katkow. Es ist schrecklich, was wir en tout verbrauchen, obwohl wir uns furchtbar einschränken. Bald, mit der Vollendung des Romans, endet auch, das versteht sich, die Geldeinnahme von Katkow. Dann: abermals Plackerei und Sorge. Indessen ist doch meine Schuld an Katkow, wenn man sie mit dem zusammenrechnet, was ich zuerst vorausgenommen, jetzt bedeutend verringert.

Ihrem Leben bin ich ganz entfremdet, obwohl mein ganzes Herz bei Ihnen weilt und Ihre Briefe mir wahre Himmelsmanna sind. Ich habe mich über die Nachricht von einem neuen Journal überaus gefreut. Ich habe niemals etwas von Kaschpirew gehört, bin aber sehr froh, dass Nikolai Nikolajewitsch (Strachow) endlich eine seiner würdige Beschäftigung findet. Gerade er muss Redakteur sein und darf sich nicht auf irgend ein Ressort in der neuen Zeitschrift beschränken, sondern soll die Seele des Ganzen sein. In diesem Falle wird die Sache Zukunft haben. Jetzt also, was kann es jetzt besseres für Nikolai Nikolajewitsch geben? Die Hauptsache ist, dass er an seinem Ort frei schalten kann.

Es wäre sehr wünschenswert, dass die Zeitschrift unbedingt im russischen Geiste gehalten sei — so wie Sie und ich das verstehen —, wenn auch, sagen wir, nicht im rein slavophilen Geiste. Nach meiner Meinung, lieber Freund, brauchen wir den Slaven nicht allzuviel nachzulaufen, eben nicht allzu sehr. Sie müssen zu uns kommen. Nach dem Panslavisten-Kongress in Moskau haben nämlich viele von ihnen, als sie nach Hause kamen, über die Russen von oben herab darüber gewitzelt, dass sie sich daran gemacht haben, andere zu führen und gleichsam den Slaven zu imponieren; dabei sei bei ihnen selbst wenig zu finden und welch ein Mangel an Selbsterkenntnis usw. Und glauben Sie mir, dass viele von den Slaven, in Prag z. B., uns vollständig vom westlichen, vom deutschen, vom französischen Standpunkt aus beurteilen und sich vielleicht sogar darüber verwundern, dass sich bei uns die Slavophilen wenig um die allgemein angenommenen Formen der abendländischen Civilisation bekümmern. Was sollen wir also hinter den Slaven her sein? Sie studieren — das ist eine andere Sache; auch ihnen helfen. Aber sich zur Verbrüderung hinzwängen, ist nicht nötig; ich meine nur: sich hinzwängen; denn: sie als Brüder betrachten und an ihnen brüderlich handeln, das sollen wir unbedingt.

Auch hoffe ich sehr, dass Nikolai Nikolajewitsch der Zeitschrift auch eine politische Schattierung verleihen wird — von Selbsterkenntnis gar nicht zu reden. Selbsterkenntnis — das ist unsere lahme Stelle, die brauchen wir. In jedem Falle wird es Nikolai Nikolajewitsch glänzend machen, und ich bereite mich mit unersättlicher Lust darauf vor, seine Artikel zu lesen, die ich so lange, seit der „Epocha“ nicht gelesen habe. Es wäre gut, wenn sich das Blatt von vorn herein so unabhängig als möglich machte, besonders in der Litteratur, so dass es z. B. 2000 Rubel für Sachen im Genre „Minin“ oder anderer historischer Dramen von Ostrowskij zahlte; wenn er nun gar Kaufmanns-Komödien hergiebt, so kann man sie auch bezahlen. Mit einem Wort: die Litteratur müsste man, nach meiner Meinung endlich in die Hand nehmen und nicht nur den Namen bezahlen, sondern lediglich das Werk — was bis heute noch keine Zeitschrift zu thun gewagt hat, „Wremja“ und „Epocha“ nicht ausgenommen. Ohne vortreffliche Arbeit aber in den ersten zwei Nummern einer Zeitschrift darf man sie gar nicht herausgeben; das heisst gleich anfangs tausend Abonnenten fallen lassen.“

Der nächste Brief ist aus Florenz vom 11. Dezember 1868 datiert und sehr eilig und geschäftsmässig geschrieben. Über den „Idiot“ finden sich folgende Stellen darin: „Ich habe mich entschlossen, für das Dezemberheft alles fertig zu machen, sowohl den vierten Teil als den Schluss; mit dem Vorbehalt jedoch, dass das Heft etwas später erscheine. Aber ich werde von heute an sieben Druckbogen in vier Wochen schreiben müssen. Ich habe plötzlich erkannt, dass ich imstande bin, das zu thun, ohne den Roman sehr zu verderben. Dazu kommt, dass alles, alles übrige schon mehr oder weniger aufgezeichnet ist und ich jedes Wort auswendig weiss. Wenn der „Idiot“ Leser hat, so werden diese vielleicht durch das Unerwartete des Schlusses ein wenig betroffen sein. Allein nach einigem Nachdenken werden sie zugeben, dass ich es so ausgehen lassen musste. Überhaupt ist dieser Schluss einer der gelungenen, d. h. als Schluss betrachtet. Ich spreche nicht über den Wert des Romans im besonderen; aber wenn ich damit fertig sein werde, schreibe ich Ihnen als Freund eines oder das andere darüber, was ich selbst davon denke.“

In demselben Briefe finden wir weiter unten die Darlegung neuer Roman-Entwürfe, zu deren Ausarbeitung in der gedachten Form es nie gekommen ist. Da heisst es: „Die verfluchten Gläubiger werden mich endgiltig umbringen — dumm hab ich’s gemacht, dass ich ins Ausland ging; wahrlich, besser wäre es gewesen, im Schuldenarrest eine Weile zu sitzen. Könnte ich mich nur mit ihnen einigen! Aber auch das kann ich nicht, weil ich persönlich nicht dort bin. Ich sage das hauptsächlich darum, weil ich zwei, sogar drei Werke im Kopfe habe, welche weiter nichts als einer ochsenhaften, mechanischen Arbeit bedürften und dabei unbestreitbar Geld einbringen würden. Es ist mir solches ja schon manchmal gelungen.

Ich habe also jetzt im Kopf: Erstlich einen grossen Roman; sein Name ist „Atheismus“. Ehe ich mich aber an ihn machen kann, muss ich fast die ganze Bibliothek der Atheïsten, der Katholiken und der Orthodoxen durchlesen. Er wird auch bei voller Arbeitsruhe nicht vor zwei Jahren fertig werden. Die Hauptperson habe ich: ein Russe unserer Gesellschaft, schon bei Jahren, nicht sonderlich gebildet, aber auch nicht ungebildet, und nicht ohne Ehren und Würden. Plötzlich, da er schon bei Jahren ist, verliert er den Glauben an Gott. Sein ganzes Leben hat er nur mit seinem Dienst zu thun gehabt, ist niemals aus dem Geleise getreten und hat sich bis zu seinem 45. Lebensjahre durch nichts ausgezeichnet. (Psychologisches Problem: tiefes Gefühl, Mensch und Russe.) Der Verlust des Glaubens wirkt auf ihn kolossal (besonders sind im Roman Wirkung und Umstände — sehr bedeutend). Er huscht herum bei den Jungen, bei den Atheisten, bei Slavophilen und Europäern, bei Fanatikern, Einsiedlern und Priestern. Unter anderem fällt er sehr stark einem agitatorischen Jesuiten ins Garn, einem Polen; er sinkt von da in die Tiefe der Flagellanten und — am Ende findet er Christum und die russische Erde, den russischen Christus und den russischen Gott (um Himmelswillen, sagen Sie es niemand, aber bei mir ist es so: diesen letzten Roman schreibe ich — ja sterben will ich meinetwegen daran, aber — ich spreche mich ganz aus).

Ach! mein Freund! Ich habe ganz andere Begriffe von der Wirklichkeit und dem Realismus als unsere Realisten und Kritiker. Mein Realismus ist realer als der ihrige. Herrgott! Wenn man nur erzählte, was wir, wir Russen in den zehn letzten Jahren unserer geistigen Entwickelung durchlebt haben — würden da die Realisten nicht schreien, dass dies Phantasie ist? Indessen aber ist es wirklicher Ur-Realismus! Das ist ja eigentlich Realismus, nur tiefer, während er bei ihnen seicht einherfliesst. Mit ihrem Realismus wirst du nicht den hundertsten Teil der thatsächlichen Geschehnisse erklären. Wir aber mit unserem Idealismus haben sogar Fakten vorhergesagt. Es ist vorgekommen. Mein Täubchen, lachen Sie nicht über mein Selbstgefühl, aber ich bin wie — —: „lobt man mich nicht, so werde ich selbst mich loben“.

Indessen aber muss man leben. Den „Atheismus“ schleppe ich nicht zum Verkauf (über den Katholicismus und die Jesuiten im Verhältnis zur Orthodoxie habe ich aber manches zu sagen). Dann habe ich die Idee zu einer ziemlich grossen Erzählung, etwa zwölf Druckbogen, die mich sehr anzieht. Noch eine Idee hab’ ich. Zu was soll ich mich entschliessen und wem die Arbeiten anbieten?“

Wer erkennt nicht in diesen Andeutungen jene Urelemente Dostojewskyscher Aussprache, die wir zerstreut und anders verteilt in den Brüdern Karamasow wiederfinden, dem Roman, der thatsächlich das letzte Wort zu sagen anhebt, dabei der Dichter „meinetwegen sterben“ will. Eine sehr bemerkenswerte, hierauf bezügliche Stelle finden wir in des Dichters Tagebuch-Notizen aus dem Jahre 1880. Da heisst es: „Die Nichtswürdigen haben mich höhnend eines ungebildeten und rückschrittlichen Gottesglaubens geziehen. Diesen Tölpeln hat eine solche Kraft der Gottesleugnung gar nicht geträumt, wie sie in dem „Inquisitor“ und dem vorangehenden Kapitel niedergelegt ist und welchen der ganze Roman als Antwort dient. Nicht wie ein Dummkopf (ein Fanatiker) also glaube ich an Gott. Und diese Leute wollen mich belehren und lachen über meine mangelhafte Entwickelung! Ja, ihrer dummen Art hat auch nicht eine solche Kraft der Verneinung geträumt, wie ich sie durchgemacht habe. An ihnen ist’s, mich zu lehren!“

Zum Schluss des Briefes die kurze Stelle über Florenz. „Florenz ist schön, aber schon gar zu nass. Die Rosen im Garten „Boboli“ blühen bis heute im Freien. Und was für Schätze in den Galerien! Mein Gott, ich habe im Jahre 1863 die „Madonna della Sedia“ übersehen! Nun besehe ich mir alles seit einer Woche und habe sie erst jetzt erblickt. Aber ausser ihr, wie viel Göttliches! Allein ich habe alles bis zur Vollendung des Romans stehen gelassen.“

Wenn irgend etwas, so sind diese Briefe aus Italien Belege dafür, dass Dostojewsky, der grosse Dichter und Schöpfer ein Apostel war, aber kein „Kunstliebhaber“ und noch viel weniger ein Dilettant. Den europäischen Leser, den Wanderer durch Italiens Natur und seine Kunstschätze muss es merkwürdig berühren, in diesen Briefen nur kurze Andeutungen all des Herrlichen zu finden, das Dichter, Künstler und Liebhaber aller Länder der Erde begeistert, zu neuen Werken anspornt, ja ihnen neue Lebenswenden und Lebensrichtungen aufnötigt. Nichts von alledem bei Dostojewsky; ja, die ewige Klage: „fern von Russland keine Anregung, keine Arbeit möglich, entsetzliche Vereinsamung, Langweile, Heimweh“, sein Urthema findet hier keinen Resonanzboden, es sind nicht russische Menschen da, an welchen er es im Geiste zu variieren vermöchte. So sehen wir ihn kämpfen, leiden, schimpfen, inmitten einer Welt, die tausenden Geistern europäischer Kultur und Kunsttendenz Anregung zur Bethätigung in Ernst und Spiel verleiht. Ja, wer den Werken des Dichters kritisch nachspürt, wird darin neben dem Nichtlitteraturmässigen, das darin zu Tage tritt und dem Überreichtum an ethischen Inhalt entspringt, geradezu ein Ablehnen des Künstlerischen finden. Die Ursache beruht wohl vornehmlich in der Konzentration seines Wesens, das ihn wohl schöpferisch, aber nicht künstlerisch zu seinen Werken veranlasst; so ist denn auch seine Wirkung auf uns viel mehr eine menschliche Erschütterung, als eine ästhetische Anregung.

Ja, es ist, als schlösse die ganz eigenartige Entwickelung russischen Schriftwesens — heute wenigstens, da diese noch im Kampfe steht — das künstlerische Moment geradezu aus, so dass von den zwei grössten Künstlern der russischen Litteratur, Turgenjew und Tolstoj, der erste von seinen Landsleuten nicht eigentlich zu Russland gerechnet wird, der letztere sich selbst erst seit jener Epoche dazu rechnet, da er der künstlerischen Auffassung des Lebens den Rücken gekehrt hat. Wenn uns aber Dostojewsky oft und oft wiederholt, wie ganz anders er seine Werke ausarbeiten würde, wenn ihm des Lebens schwere Not Zeit und Ruhe dazu liesse, so müssen wir dies so verstehen, dass alle innere Realität noch feiner herausgearbeitet wäre, alle tiefen, geheimnisvollen Beziehungen der Menschenseele zu sich selbst und ihrer Wahrheit noch urgründlicher uns aufgeschlossen würden. Allein die Gegenständlichkeit der äusseren Welt und ihre Anordnung um die inneren Geschehnisse, das Bildliche der Umgebung, die physische Zeit, kurz alles Sinnliche, das zur Kunst gehört, würde sicher nicht anders uns entgegentreten, als es heute in den Gestaltungen des Dichters der Fall ist, wo die Scenerie, in welcher die Handlung vorgeht, nicht sowohl diese beleuchtet und erklärt, als vielmehr im engsten Umkreis vom seelischen Vorgang und dessen Träger aus, wie von einer Blendlaterne in dunkler Nacht, erhellt wird; ein dem modernen französischen Impressionismus diametral entgegengesetzter Vorgang.

Wir glauben diese Beobachtung an keiner anderen Stelle so deutlich, so schlagend mit Thatsachen belegen zu können, als dies während des Aufenthalts in Italien durch des Dichters Briefe an seine Freunde sich uns darbietet. Der nächste Brief, dem wir einige Stellen entlehnen, ist ein an Strachow gerichtetes Schreiben aus Florenz vom 12. Dezember 1868. Nach einigen Erinnerungen an ihren gemeinsamen Aufenthalt in Florenz und nach Vergleichen mit dem gegenwärtigen Leben der Stadt fährt der Dichter mit Bezug auf eine Stelle aus Strachows letztem Briefe fort: „Dass die Litteratur bald schon ganz aufgehört hätte, das ist vollkommen richtig. Ja, eigentlich hat sie schon aufgehört, wenn man’s so nehmen will. Und das schon lange. Sehen Sie, mein Lieber, von diesem Gesichtspunkt aus muss man es ja ansehen: meiner Meinung nach, wenn das eigene, echt russische und originale Wort versiegt ist, so hat sie auch aufgehört; ist kein Genius in Sicht — so hat sie aufgehört. Seit Gogols Tode hat sie aufgehört. Ich wünschte so schnell als möglich etwas vom Unserigen. Sie schätzen Leo Tolstoj sehr hoch, wie ich sehe. Ich gebe zu, dass hier auch vom Unserigen vorhanden ist, aber wenig. Übrigens aber ist es ihm nach meiner Meinung gelungen, mehr als wir alle Eigenes auszusprechen, und darum ist er wert, dass man von ihm spreche. Aber lassen wir das. — Was sagen Sie aber da über sich? „Nein, hoffen Sie nicht auf mich!“ Diese Worte können doch keine ernste Grundlage haben, Nikolai Nikolajewitsch? Wenn es Ihnen endlich widerwärtig geworden ist, immerfort für bestimmte Fristen bestellte Artikel zu schreiben, so geht es uns allen ja genau ebenso. Diese Fristen und Bestellungen erdrücken zuletzt jede Stimmung, jedes Feuer, besonders mit den Jahren. Allein beruhigen Sie sich: das innerste Mark Ihrer Begeisterung werden Sie niemals verlieren. Was weiter? Schreiben Sie nicht zwölf Artikel im Jahre, schreiben Sie drei. Diese werden Sie mit Befriedigung schreiben, namentlich wenn Sie in die Wärme kommen. Aber es ist ja genug nicht nur an dreien, sondern an zweien, ja an einem vortrefflichen Artikel, um einer Zeitschrift einen Ton zu verleihen und die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Aber die Hauptsache ist — die Redaktion. Die Redaktion ist die allerwichtigste Sache: unser Auge, unsere Hand und unsere immerwährende Richtung. Jetzt aber, besonders jetzt ist das die Hauptsache.“

Im nächsten, vom 10. März 1869 aus Florenz datierten Briefe an Strachow feuert der Dichter den Freund wieder an, bei der Gründung des neuen Blattes auszuharren, gegen die Opposition der Mehrheit, die jedes neue Blatt angreift, Stand zu halten. „Sie wissen ja die Antwort: Sie sollen nur schmähen, d. h. nicht schweigen, sondern reden. Sie aber sind ohne Zweifel (so wie auch ich) davon überzeugt, dass der Erfolg eines Blattes von der Minderheit abhängt. Diese Minorität wird unausbleiblich für Euch sein (sogar ungeachtet aller „Plutzer“ und Irrtümer des Blattes, welche es, wie es scheint, machen wird). Diese Minderheit wird gegen Ende des Jahres sicherlich erstarken und sich festigen. Warum ich so überzeugend spreche? Weil in diesem Blatte ein Gedanke steckt, derselbe, der jetzt unvermeidlich, unentrinnbar ist und dem allein es beschieden ist, zu wachsen, während alle anderen „klein werden“ müssen.

Allein dieser Gedanke ist eine schwierige und heikle Sache, Sie wissen das selbst. Um dieses Gedankens willen, besonders, wenn man anfangen wird, ihn zu begreifen, d. h. wenn Ihr ihn noch breiter auseinander setzen werdet, wird man Euch Reaktionäre, Kamtschadalen, wohl gar Korrumpierte nennen, während er für uns der einzige, fortschrittliche und liberale Gedanke in unserer Zeit ist. Wenn Ihr das aber endgiltig werdet auseinandergesetzt haben, dann werden alle mit Euch gehen. Indessen aber sieht die Routine den Liberalismus und den neuen Gedanken immer im Veralteten und Abgestandenen. Die „Vaterländischen Annalen“, das „Djelo“ rechnen sich sicherlich zu den Vorgeschrittensten.

Alles dieses wissen Sie selbst vollkommen gut, vor allem das, dass Euch die Zukunft gehört. Nun aber wissen Sie, was ich fürchte? Dass Sie (und viele der Eurigen) vor der ungeheuren Mühe erschrecken und die grosse Arbeit aufgeben werden. Diese Mühen sind so gross und erfordern so viel Vertrauen und Zähigkeit, dass Sie das erst nach langer Zeit voll erkennen werden. So scheint es mir. Ich selbst kenne sie nur von einem Zipfelchen aus, seit der Zeit, als ich dem Bruder bei der Redaktion half. Aber die „Wremja“ und die „Epocha“ haben sich, wie Sie selbst wissen, zu einer solchen Offenheit und Nacktheit im Aussprechen ihres Gedankens niemals verstiegen und haben sich meist an die Mittelstrasse gehalten, namentlich anfangs. Ihr aber habt direkt mit der Hauptsache begonnen; für Euch ist es schwerer; folglich heisst es: feststehen.“

Uns Europäern ist es wohl nicht leicht, dieser Verschränkung der Begriffe „liberal“ und „abgestanden“ zu folgen oder ihr gerecht zu werden. Es ist das eine der Grundursachen der Missverständnisse, die zwischen den Anhängern abendländischer Kultur und jenen einer langsamen und organischen Entwickelung des Ostens auf eigener Grundlage obwalten. Nur ein langer Aufenthalt in Russland und ein vorurteilsloses Eindringen in die Bedingungen dieser Entwickelung, sowie in den Nutzen oder Schaden hinzutretender „europäischer“ Elemente vermöchte uns darüber zu belehren, in welchem der beiden Axiome mehr Menschenvernunft liegt.

In demselben Briefe heisst es an anderer Stelle: „Sie haben eine unendliche, unmittelbare Sympathie für Leo Tolstoj, schon seit der ganzen Zeit, da ich Sie kenne. Allerdings, als ich Ihren Aufsatz in der „Zarja“ [dem neuen Journal] durchgelesen hatte, empfand ich als ersten Eindruck sofort, dass er unvermeidlich sei und dass Sie, wollten Sie sich nach Möglichkeit aussprechen, nicht anders anfangen konnten, als mit L. Tolstoj, d. h. seinem letzten Werke [„Krieg und Frieden“]. Im „Golos“ hat ein Feuilletonist gesagt, dass Sie L. Tolstojs historischen Fatalismus teilen. Natürlich kann man auf das alberne Wort speien, aber daran liegt es nicht; es handelt sich darum: Woher nehmen die Leute, sagen Sie mir, so wunderliche Einfälle und Ausdrücke? Was heisst „historischer Fatalismus“? Warum verdunkeln und vertiefen gerade jene Routinierten und albernen Leute, die nichts bemerken, was weiter reicht, als ihre Nase, ihre eigenen Gedanken, dass man daraus nicht klug werden kann? Er will ja offenbar etwas sagen; dass er Ihren Aufsatz gelesen, daran ist kein Zweifel. Gerade das, was Sie an jener Stelle sagen, wo Sie von der Schlacht bei Borodino sprechen, drückt das Wesentliche von Tolstojs Gedanken sowohl als auch Ihrer Gedanken über Tolstoj aus. Man könnte sich nicht klarer ausdrücken, der nationale russische Gedanke ist da nahezu ganz nackt dargelegt. Und das gerade haben sie nicht verstanden und haben es in Fatalismus umgedeutet. Was die übrigen Einzelheiten Ihres Artikels anlangt, erwarte ich die Fortsetzung. Der Gedanke ist klar, logisch, fest entworfen, im höchsten Grade vollendet niedergeschrieben. Aber mit einem und dem anderen Detail bin ich nicht einverstanden. Natürlich würden wir persönlich anders miteinander sprechen können, als es schriftlich geschieht.

Schliesslich und endlich halte ich Sie für den einzigen Repräsentanten unserer heutigen Kritik, dem die Zukunft gehört. Aber wissen Sie was? Ihren Brief habe ich mit Unruhe durchgelesen. Ich sehe an seinem Tone, dass Sie aufgeregt und beunruhigt sind, dass Sie sich in grosser Gemütsbewegung befinden. Ich fürchte für Sie auch Ihre Ungewohnheit, zu bestimmter Frist und ausdauernd zu arbeiten. Sie müssen unbedingt drei grosse Artikel im Jahre schreiben. Sie haben noch vieles zu sagen, glauben Sie mir. Indessen aber sinkt Ihr Mut, ganz ohne Mass; eine geringe Sache bringt Sie ins Schwanken wie eine grosse. Dabei sind Sie offenbar die unentbehrlichste Person der Redaktion in Bezug auf die klare Darlegung des Grundgedankens der Zeitschrift. Ohne Sie wird sie nicht in Gang kommen. Also heisst es, sich fest zur That entschliessen, Nikolai Nikolajewitsch, zu einer schweren und andauernden Wirksamkeit, und auf keinerlei Unannehmlichkeiten achten. Jede Unannehmlichkeit steht unvergleichlich tiefer als Ihr Ziel, und darum heisst es ertragen lernen und überhaupt sich festigen. Aber die Sache fallen zu lassen, dazu haben Sie nicht einmal das Recht; ich würde dann der Erste sein, Sie zu verfluchen.“

In demselben Briefe heisst es an anderer Stelle: „Ich danke Ihnen sehr, dass Sie Anteil an mir nehmen. Ich befinde mich immer gleich, das heisst meine Anfälle sind sogar schwächer, als in Petersburg. In der letzten Zeit, vor 1½ Monaten, war ich mit der Beendigung des „Idioten“ sehr beschäftigt. Schreiben Sie mir, wie Sie es versprachen, Ihre Meinung darüber; ich erwarte sie mit Begierde. Ich habe meine eigene Anschauung über das Schöpferische in der Kunst; und das, was die Mehrheit fast phantastisch und excentrisch nennt, das bildet für mich manchmal das eigentlichste Wesen der Wirklichkeit. Die Alltäglichkeit der Erscheinungen und eine offizielle Art sie zu betrachten, das ist meiner Meinung nach noch kein Realismus, im Gegenteil! In jedem Zeitungsblatte begegnen Sie Berichten über die wirklichsten und die absonderlichsten Geschehnisse. Für unsere Schriftsteller sind sie phantastisch: ja sie befassen sich gar nicht mit ihnen; indessen sind sie doch Wirklichkeit, weil sie Fakten sind. Wer wird sie denn bemerken, beleuchten und beschreiben? sie sind alltäglich, allstündlich, aber gar nicht Ausnahmen — — ‚ein pseudo-russischer Zug, dass der Mensch alles anfange, sich mit Grossem zu schaffen mache und das Kleine nicht einmal fertig bringe.‘ Was für abgestandenes Zeug! Was für ein armseliger, leerer Gedanke, noch dazu ein ganz unrichtiger! Ein Klatsch über den russischen Charakter, noch aus Belinskys Zeiten. Und was für eine Enge und Kleinlichkeit im Betrachten und Durchdringen der Wirklichkeit! Und immer dasselbe und dasselbe! Auf diese Weise lassen wir die ganze Wirklichkeit uns vor der Nase vorüber gehen. Wer wird denn die Begebenheiten beachten und sich in sie vertiefen? Von Turgenjews Erzählung will ich gar nicht reden — der Teufel weiss, was die sein soll! Ist dann nicht mein phantastischer „Idiot“ Wirklichkeit, ja die alltäglichste Wirklichkeit? Ja, eben jetzt muss es solche Charaktere in unseren, vom heimatlichen Boden losgerissenen Gesellschaftsschichten geben, den Schichten, die in der That phantastisch erscheinen. Allein da ist nichts zu sagen! Vieles im Roman ist eilig hingeschrieben, vieles zu breit und misslungen. Manches aber ist auch gelungen: Ich stehe nicht für den Roman, sondern für meine Idee ein.“

Zum Schluss abermals ein Anfall von Misstrauen, das, wie immer, auf ein Gefühl von Schuld zurückzuführen ist: „Jetzt will ich Ihnen, als einem alten Freund und Mitarbeiter, im Vertrauen noch eines verraten, was mich ausserordentlich beunruhigt. Jene 200 Rubel, welche ich seit mehr als Jahresfrist Apollon Nikolajewitsch schulde, scheinen Ursache seines jetzigen Schweigens zu sein; er hat plötzlich den Briefwechsel mit mir abgebrochen. Ich habe im Dezember Katkow gebeten, 100 Rubel an Emilie Fjodorowna [des Bruders Witwe] und Pascha auf den Namen Apollon Nikolajewitsch zu schicken (wie das immer in diesen Fällen geschah), und ihn habe ich in meinem letzten Briefe gebeten, diese 100 Rubel Emilie zu übergeben. Er hat wahrscheinlich gedacht, dass ich eine bedeutende Summe bekommen hätte, dass ich in Gold bade, ihm aber sein Geld nicht abgebe. „Anderen zu helfen, dazu hat er Geld, aber eine Schuld abzutragen, dazu hat er keines“ — das hat er sicherlich gedacht. Wenn er nur wüsste, in welche Lage ich mich selbst gebracht habe! Nachdem ich Erhebliches aus dem „Russkij Wjestnik“ entnommen hatte, sind wir das letzte Halbjahr so schlecht daran gewesen, dass jetzt unsere letzte Wäsche im Leihhaus ist. (Sagen Sie das niemand.) In der Redaktion des „Russkij Wjestnik“ aber wollte ich vor Beendigung des Romans nichts mehr verlangen. Nun aber stellen sie dort die Rechnungen zusammen und haben mir bis heute nicht geantwortet. Gewiss, ich habe gefehlt, dass ich ein ganzes Jahr nicht zahlte, und ich habe schon allzu viel bei dem Gedanken gelitten; allein ich habe während der zwei in der Fremde zugebrachten Jahre im ganzen 3500 Rubel verbraucht, wobei die Umsiedelungen, einige Sendungen nach Petersburg und meine Sonja mitgerechnet sind; da war nichts da, wovon ich hätte noch schicken sollen. Er aber hat mich indessen niemals gemahnt; so habe ich auch gedacht, er könne noch warten, und jeden Monat gehofft, ihm etwas schicken zu können. Diese 100 R. an Emilie F. müssen ihn beleidigt haben. Aber Emilie F. stirbt ja fast vor Hunger, wie sollte man da nicht helfen! Bei meiner traurigen Lage ist mir der Gedanke, dass da wieder ein mir treu ergebener Mensch mich verlässt, höchst peinvoll. Hat er Ihnen nicht irgend was gesagt, oder wissen Sie etwas darüber? Wenn Sie etwas wissen, teilen Sie mir’s mit, mein Täubchen! Andererseits ist es mir seltsam, dass sich eine sonst freundschaftliche Verbindung, welche seit dem Jahre 1846 zwischen uns besteht, um 200 R. willen auflösen sollte, zudem bin ich ohnedies von allen vergessen.“

Schon am 30. März (desselben Jahres) ist der Dichter über das „Missverständnis“ ganz beruhigt; er schreibt an Strachow: „Ich danke Ihnen ... drittens für die gute Nachricht über Apollon Nikolajewitsch. Ich werde seinen Brief in den nächsten Tagen selbst beantworten .... Ich habe in dieser letzten Zeit des „Missverständnisses“, welches durch meine Zweifelsucht entstanden war, auch nicht einen Tropfen meiner herzlichen Beziehung zu ihm eingebüsst. Darüber aber, dass er ein guter und reiner Mensch ist, hege ich schon allzulange nicht den geringsten Zweifel und bin selbst sehr froh, dass Sie sich mit einander so gut verständigt haben.“

Über die neue Zeitschrift, welcher Dostojewsky so viele Hoffnungen entgegen bringt, finden wir folgende, für des Dichters Ernst und seine fast kindliche Herzensgüte bezeichnende Stelle: „Die zweite Nummer hat mir einen ausserordentlich günstigen Eindruck gemacht. Über Ihren Artikel rede ich nicht einmal, ausser dass dies wirkliche Kritik ist, gerade das Wort, welches jetzt unentbehrlicher ist, als alles andere, und am besten die Sache beleuchtet. Der Artikel Danilewskys aber stellt sich in meinen Augen immer wichtiger und durchschlagender dar. Das ist ja — das künftige Nachschlagebuch aller Russen auf lange Zeit hinaus. Und wie viel trägt seine Sprache und Klarheit, seine populäre Form, ungeachtet seines streng wissenschaftlichen Stils, dazu bei. Diese Arbeit stimmt so sehr mit meinen eigenen Schlüssen und Überzeugungen überein, dass ich an mancher Stelle geradezu verblüfft bin über die Ähnlichkeit der Schlussfolgerungen mit den meinigen. Viele meiner Gedanken notiere ich mir schon seit langem, schon seit zwei Jahren, eben darum, weil ich einen Aufsatz, ja fast unter dem gleichen Titel, vorbereite, in ganz demselben Gedankengange und mit denselben Folgerungen. Wie freudig ist also meine Überraschung, da ich jetzt den Gedanken, die ich künftig einmal zu gestalten so sehr gedürstet habe, schon in lebender Form begegne, und zwar mit Wohllaut, harmonisch, mit einer ungewöhnlichen Kraft der Logik und auf einer solchen Stufe wissenschaftlicher Behandlung, welche ich natürlich, ungeachtet aller meiner Anstrengungen, niemals erreichen könnte.

Ich lechze so sehr nach der Fortsetzung dieses Artikels, dass ich täglich auf die Post laufe und mir alle Möglichkeiten eines schnelleren Eintreffens ausrechne. Auch darum lechze ich, diesen Artikel auszulesen, weil ich ein wenig, und das mit Schrecken, über die endgiltige Beweisführung im Zweifel bin. Ich glaube noch immer nicht, dass Danilewsky mit voller Kraft das letzte Wesen der russischen Sendung darlegen wird, welches darin besteht, den russischen Christus vor der Welt zu entschleiern, den der Welt unbekannten Christus, dessen Grund-Elemente in unserem volkstümlichen Rechtglauben enthalten sind. [Dostojewsky gebraucht das Wort „Christus“ nicht als Personennamen, sondern stets als Personifikation, wie das für einen aufmerksamen Leser in seinen Werken mehr oder weniger deutlich hervortritt.] Nach meiner Meinung liegt hier die ganze wesentliche Kraft unseres mächtigen, künftigen Zivilisations- und Erweckungswerkes, sogar in ganz Europa, und die ganze Wesenheit unseres kraftvollen, zukünftigen Seins. Aber mit einem Worte spricht man das nicht aus, und ich habe auch vergeblich zu reden angefangen.“

Weiter heisst es: „Aber was Sie da, und das mit solcher Trauer und solchem offenbaren Kummer sagen: dass Ihr Aufsatz keinen Erfolg hat, dass man ihn nicht verstehe, nicht interessant finde! Ja, waren Sie denn wirklich überzeugt, dass ihn alle sofort verstehen würden? Das wäre nach meiner Meinung eine schlechte Empfehlung der Arbeit. Was man allzu schnell und leicht versteht, das hat nicht viel Zukunft. Belinsky hat erst am Ende seiner Laufbahn die gewünschte Berühmtheit erlangt, und Grigorjew ist gestorben, fast ohne im Leben irgend etwas zu erreichen. Ich bin gewohnt, Sie so zu schätzen, dass ich Sie auch einem solchen Vorkommnis gegenüber für weise hielt. Die Wesenheit einer Sache ist so fein, dass sie immer der Mehrheit entgeht. Sie verstehen erst, wenn man ihnen den Brei schon ganz auseinander rührt; und noch dazu erscheint ihnen jeder neue Gedanke nicht besonders interessant. Und je einfacher, je klarer, d. h. je talentvoller er dargelegt ist, umsomehr erscheint er ihnen allzu einfach und ordinär. Das ist ja die Regel! Verzeihen Sie, aber ich habe sogar lächeln müssen bei Ihrem sehr naiven Ausspruch, dass ‚sogar sehr spitzfindige Leute Sie nicht verstehen‘. Ja, diese noch mehr als andere, verstehen niemals, hindern sogar die anderen zu verstehen, und das hat seine nur allzuklaren Ursachen und ist natürlich auch ein Gesetz. Aber Sie sagen ja selbst, dass sowohl Gradowsky als Danilewsky begeistert zu Ihnen stehen, dass Aksakow zu Ihnen gekommen ist usw. Ist Ihnen das zu wenig? Aber ich bin trotzdem fest überzeugt, dass so viel Selbsterkenntnis in Ihnen ist, so viel innere Nötigung nach vorwärts zu streben, dass Sie die Schätzung Ihrer Thätigkeit nicht verlieren und die Sache nicht im Stiche lassen werden! Also schrecken Sie uns nicht, bitte. Gehen Sie — so ist’s mit der Zarjá aus. Und nun von Geschäften.“

Dostojewsky schlägt nun der Redaktion der neuen Zeitschrift, als Antwort auf ihr Anerbieten der Mitarbeiterschaft, eine kleine Erzählung von etwa 3 Druckbogen vor. „Diese Erzählung“, sagt er, „habe ich schon vor vier Jahren, im Todesjahre meines Bruders, als Antwort auf die Worte Apollon Grigorjews schreiben wollen, der mein „Zapiski iz Podpolja“ sehr gelobt und gesagt hatte: ‚In diesem Genre sollst du weiter schreiben‘.“

Die „Memoiren aus einem Keller“, wie wir jene Erzählung nennen möchten, welche unter dem Titel „Aus dem dunkelsten Winkel einer Grossstadt“ in deutscher Übersetzung erschienen ist, drücken das als Axiom aus, was wir im Lebenswerk Dostojewskys als stärkste Triebkraft an der Arbeit finden: die Einsicht von der durch kein Wissen und keine Kultur auszugleichenden Irrationalität der Menschenseele und als Folge davon die Einsetzung dieses Mensch-Komplexes als eine absolute Werteinheit in das Weltganze. Daher als letzte Konsequenz die Liebe zum Bruder, die wir irrtümlicher Weise Erbarmen nennen. Was Dostojewsky in allen seinen Werken mehr oder weniger künstlerisch, immer aber subjektiv darstellt, das ist der Mensch mit allen seinen Brüchen, mit allen seinen Möglichkeiten, welche das Sitten-, ja das Naturgesetz durchbrechen. Hier, in diesem galligen Monolog eines Misslungenen, formuliert er diese Einsichten philosophisch, analytisch.

W. Rósanow, einer der tiefsten Kenner Dostojewskys, hat in einem bemerkenswerten „kritischen Kommentar“ zur „Legende vom Grossinquisitor“ auch über diese Memoiren als über das philosophische Credo des Dichters das Vortrefflichste gesagt. Nur wollen uns Ursache und Wirkung hier in umgekehrtem Verhältnis erscheinen, als Rósanow sie darstellt. Uns kann nicht scheinen, dass Dostojewsky durch die Analyse zur Mystik gelangt; wir meinen, dass man weder auf analytischen noch auf anderen Erfahrungswegen zur Mystik kommt, sondern dass man sie in sich trägt und die Analyse als Werkzeug zur Hand nimmt, um andere zu diesem, seinem innersten Lebenskern zu führen. Dostojewsky, so hat sich sein Menschheitsbild uns gewiesen, hat immer aus der Synthese heraus zur Analyse gegriffen, um sich verständlich zu machen.

Die Erzählung zerfällt in zwei, der Form nach vollständig getrennte Teile, was die Absichtlichkeit, die in dieselbe gelegt ist, in’s rechte Licht setzt. Der erste Teil, jener philosophierende Monolog des unterirdischen Weltbürgers, führt den Gedanken durch, dass nur Menschen ohne Erkenntnis zum Handeln kommen und handeln, die Erkenntnis aber unbedingt zur Unthätigkeit (inertia) führe. Es werde dahin kommen, dass der immer „logischer“ entwickelte Erkenntnismensch sich endlich als den Stift einer grossen Musikwalze fühlen werde. Nun sei es aber merkwürdig, dass man bei der Aufzählung der Naturgesetze, welche dieses vollkommene Funktionieren des Menschen herbeizuführen berufen sind, auf seinen Willen wirken und sein Handeln vorausbestimmend anordnen, dass man da immer ein Gesetz aus dem Spiel lasse, nämlich jenes, wonach der Mensch gerade immer das Gesetzmässige umwerfe und bewusst gegen seinen Vorteil, seine Vervollkommnung und sein Glück handle. Die Auslegung, dass dies eben sein persönliches Glück ausmache, verweist er mit Recht unter die Sophismen, welche aufgewendet werden, um zu beweisen, dass 2×2=4 sind. „Die Gesetze der Logik,“ sagt er, „sind eines, die des Menschseins ein anderes.“ Das grösste und einzige Gesetz, das jeder Mensch geltend mache, sei nicht sein Recht auf Vorteil, Tugend, Vernunft, Harmonie, sondern das Recht auf persönliche Unabhängigkeit und Freiheit — womit er immer wieder alle jene schönen Dinge umwirft. Der Mensch — so lautet das Resumé — wird also nicht besser, nicht glücklicher, nicht wertvoller werden durch den „Ameisenhaufen“ des Wissens und der Erkenntnisse, sondern — ein Musikstift; doch er wird dies eben nie werden, sondern ein Irrationales und als solches etwas Absolutes innerhalb der Schöpfung bleiben, ein Absolutes, das man so wie es ist annehmen muss, das so wie es ist den Gattungsnamen ‚Mensch‘ trägt.

Der zweite Teil der Erzählung führt uns die Geschichte des Menschen vor, dessen unterirdische Philosophie uns der erste Teil in vortrefflicher Einhaltung des galligen Sonderlingshumors gebracht hat. Dies ist ein Mensch, der gerade immer, wenn er sich am klarsten die Herrlichkeit alles „Hohen und Schönen“ vorgestellt hat, am tiefsten in den Schlamm von „allerlei grossen und kleinen Lastern“ versinkt, der durch seine Gewohnheit alles bis auf die „letzte und allerletzte Ursache“ durchzudenken, nie mehr eine unbefangene Handlung zu begehen imstande ist, dessen Reflexion immer sein Thun zerstört oder im entscheidenden Augenblick von diesem umgeworfen wird. So ärgert er sich geraume Zeit über einen Offizier, der ihm oft auf dem Bürgersteig des Newsky Prospekt begegnet und dem er, da er sehr ärmlich gekleidet ist, ganz selbstverständlich ausweicht. Nun will er das nicht; er will einmal zeigen, dass er so unbefangen wie jener vor sich hingehen, meinetwegen an ihn anstossen könne. So oft es aber zur That kommt, drückt er sich doch auf die Seite; ja er weiss es endlich, dass es wieder so kommen werde.

In einem anderen Handel mit alten Schulgenossen, die er trifft und die zur Abschiedsfeier eines unter ihnen ein Mittagessen veranstalten, geht es ihm nicht besser. Er drängt sich ihnen, die ihn nicht mögen und verachten, auf, trinkt sich Mut an, insultiert sie, bittet sie um Verzeihung, fühlt dabei, dass alles dies unglaublich niedrig ist, empfindet ein Rasen von Zorn und Scham und treibt dies, durch allerlei überkluge Erwägungen gestossen, gegen seine Einsicht, ja gegen seine Natur immer weiter. Diesem Treiben setzt er die Krone auf, da er, noch betrunken, nach jenem Gelage den anderen in ein verrufenes Haus nachfährt, dort als der Letzte ankommt und nimmt was übrig bleibt: ein noch sehr junges Mädchen, das noch ein Neuling im Gewerbe ist. Wie nun der Morgen graut und er von seiner Trunkenheit erwacht, ergreift ihn die Lust Moral zu predigen. Er steigert sich in immer grössere Hitze, schildert das Glück eines tugendhaften Lebenswandels, bespricht ihren eigenen Wandel und seine letzten Folgen, kurz er jagt dieses Wesen in einen Anfall von Schmerz und Verzweiflung hinein — „nicht ohne selbst bewegt zu sein“, wie er sagt, aber doch „buchmässig, litteraturmässig“; er endet damit, dass er ihr seine Adresse giebt, damit sie ihn aufsuchen könne, wenn sie sich retten wolle.

Nun erwartet er mit Angst und Unbehagen ihr Kommen, denn er weiss, er fühlt es, dass er sie wieder fortschicken werde. Täglich atmet er auf, da sie nicht kommt. Ja, es wird ihm nach 9 Uhr abends so wohl zumute, dass er „ziemlich süss“ zu träumen beginnt: ... „ich bilde sie, trage zu ihrer Entwickelung bei. Endlich bemerke ich, dass sie mich leidenschaftlich liebt. Ich stelle mich an, als verstünde ich es nicht (ich weiss nicht warum; wahrscheinlich der Ausschmückung wegen). Endlich wirft sie sich schluchzend, errötend, bebend mir zu Füssen und sagt, dass ich ihr Retter sei, dass sie mich mehr, als alles in der Welt liebe. Ich erstaune, aber ... „— Lisa, sage ich, glaubst du denn, ich hätte deine Liebe nicht bemerkt? Ich habe alles gesehen, alles erraten; allein ich wagte es nicht, der Erste zu sein, wagte nicht, Anspruch auf dein Herz zu erheben, weil ich ja Einfluss auf dich hatte und fürchtete, du würdest aus Dankbarkeit dich zwingen, meine Liebe zu erwidern, du würdest selbst ein Gefühl in dir erzwingen, das vielleicht gar nicht vorhanden ist; ich aber wollte das nicht, weil das Despotismus, weil das undelikat ist ... (kurz, ich vergaloppierte mich da in so eine europäische, George-Sand’sche, unerklärbar edle Feinheit hinein). Jetzt aber bist du mein, mein Geschöpf, bist rein, herrlich, bist — mein herrliches Weib!“

Eines Abends aber erscheint Lisa wirklich, da er gerade mit seinem Diener, den er hasst und fürchtet, eine sehr unangenehme Scene gehabt hat. Er schämt sich auch seines schlechten Schlafrocks, seines zerrissenen Wachstuchdivans und lässt sie hart an. Er fragt sie, warum sie zu ihm gekommen sei, schreit und poltert. Das eingeschüchterte Mädchen sieht in diesem ganzen Gebahren nur das eine: dass er leidet, und — bleibt. Ihre Güte erweicht ihn, und aus seinem Wutanfall wird Selbstanklage und endlich hysterisches Schluchzen. Auch dieses versetzt er mit Selbstbespiegelung, bis zur Übertreibung, schämt sich darauf dessen sehr und rächt diese Beschämung wieder an ihr, die Zeugin derselben gewesen ist. Er fühlt seine Gewalt über sie und nutzt sie aus. — — —

Am frühen Morgen mahnt er sie ans Fortgehen. Als sie eilig ihre Siebensachen zusammennimmt und sich zur Thüre wendend ihm einfach ‚Lebt wohl‘ sagt, läuft er auf sie zu und drückt ihr einen Fünfrubelschein in die Hand — „aus Zorn“, wie er sagt, „hineingehetzt“, „buchmässig“ that er das. Nun eilt er zur Treppe, lauscht, ruft, sie ist fort. Als er in seine Stube zurückkehrt, erblickt er den zerknitterten Schein auf dem Tische vor sich liegen. Wie toll läuft er nun Lisa auf die Strasse nach. Er sieht sie nicht mehr; sie muss in eine Seitengasse verschwunden sein — — Er bleibt stehen und fragt sich: „Wohin ist sie denn gegangen? und — warum laufe ich ihr denn nach?“ „Wird es nicht besser für sie sein“, phantasiert er weiter, „wenn sie diese Demütigung für ewige Zeiten mit sich nimmt? Demütigung — das ist ja Reinigung!“ Weiter sagt er: „Was ist besser, ein billiges Glück oder ein erhabener Schmerz?“

„So flog es mir durch den Kopf, als ich an jenem Abend zu Hause sass, halbtot von seelischen Schmerzen. Noch niemals hatte ich soviel Leid und Reue empfunden. Und dennoch — konnte denn irgend ein Zweifel darüber bestehen, dass ich vom halben Wege zurückkehren würde? Ich habe Lisa nie wieder getroffen, nie wieder etwas von ihr gehört. Ich füge noch hinzu, dass ich mich lange Zeit mit der Phrase vom Nutzen der Demütigung und des Hasses beruhigte, ungeachtet dessen, dass ich damals aus Kummer fast krank wurde.“

Das Schlusswort des unterirdischen Philosophen spricht im Sinne des Ganzen die Erkenntnis von der ewigen Fehlbarkeit der Menschennatur, von ihrer Freiheit, zu fehlen, aus. Er fragt sich, ob er diese Memoiren fortsetzen solle. Aber — „zum Beispiel lange Geschichten davon zu erzählen, wie ich mein Leben in einem finstern Winkel durch sittliche Zersetzung, durch den Mangel eines Milieu, Entwöhnung vom Lebendigen, durch die im Kellerloch immer genährte Bosheit verfehlt habe — das ist bei Gott nicht interessant. In einem Roman braucht man einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Züge für einen Anti-Helden zusammengetragen. Die Hauptsache aber ist, dass dies alles einen sehr unangenehmen Eindruck hervorrufen wird, weil wir alle vom Leben entwöhnt sind, alle hinken, der eine mehr, der andere weniger. So sehr sind wir vom Leben abgewöhnt, dass wir das wirkliche ‚lebendige Leben‘ fast als eine Arbeit ansehen, fast wie einen Dienst; und wir stimmen alle darin überein, dass es nach dem Buch zu leben besser ist. Und warum treiben wir’s manchmal so, warum beunruhigen wir uns, was verlangen wir? Wir wissen es selbst nicht. Es wird uns aber schlechter gehen, wenn man unsere heftigen Wünsche erfüllt. Versucht es einmal, nun, gebt uns zum Beispiel etwas mehr Selbständigkeit, macht irgend einem von uns die Hände frei, erweitert unseren Wirkungskreis, verringert die Obhut und wir — ich versichere Euch — wir werden uns sofort wieder die Obhut ausbitten. Ich weiss, dass Ihr wahrscheinlich auf mich böse sein, mich anschreien, mit den Füssen treten werdet: Redet von Euch allein und von Euren Miseren in der Kellerwohnung, wagt es aber nicht, von ‚uns allen‘ zu sprechen. Erlaubt meine Herren, ich reinige mich ja nicht durch dieses ‚wir alle‘. Was aber mich im besonderen betrifft, so habe ich in meinem Leben das bis aufs Äusserste getrieben, was Ihr nicht wagtet bis zur Hälfte zu bringen. Ja, Ihr habt noch Eure Feigheit für Einsicht gehalten und habt Euch damit, Euch selbst betrügend, etwas zu gut gehalten, sodass ich jetzt förmlich lebendiger herauskomme, als Ihr. Ja, seht nur genauer zu. Wir wissen ja gar nicht, wo das Lebendige jetzt lebt, was es denn ist und wie es heisst. Lasst uns allein, ohne Buch — sofort verwirren und verlieren wir uns; wir wissen nicht, an was uns halten, wo uns anlehnen, was wir lieben, was wir hassen, was wir achten, was wir verachten sollen. Sogar das ‚Mensch sein‘ wird uns beschwerlich fallen, Mensch mit wirklichem, eigenem Fleisch und Blut. Wir schämen uns das zu sein und bestreben uns, irgend eine Art von nie dagewesenen Allgemein-Menschen zu sein. Wir sind Totgeborene, ja wir werden schon lange nicht von lebendigen Vätern geboren, und das gefällt uns immer mehr und mehr. Wir kommen auf den Geschmack. Wir werden bald darauf kommen, aus irgend einer Idee geboren zu werden. Aber genug“ usw.

Des Dichters Meinung liegt hier klar zu Tage. Das Buch, die Idee, die Logik, das Gesetz — das alles macht keine Menschen. Blut, Leidenschaften, der inkommensurable und irreguläre Reichtum des Lebens in seinen erstaunlichsten harmonischen, aber noch mehr unharmonischen Mischungen und Möglichkeiten — das ist für Dostojewsky der Mensch. Aber nicht jenseits, vielmehr diesseits von Gut und Böse, mit aller Freiheit, eines oder das andere zu thun oder zu lassen; erlöst aber durch die Liebe derer, die auch nicht besser sein wollen, dessen, der sich auch da hinein begab. Aus dem ‚Labyrinth der Brust‘, aus den eigenen tausendfältigen Möglichkeiten der ‚Sünde‘ wie der höchsten Entzückung heraus ist sie ihm ja geworden, diese Fähigkeit: verstehend in jede Seele einzudringen und die Kraft, mit welcher er unablässig nach Reinigung rang, mächtig, gewaltsam auch auf andere wirken zu lassen.

„Nun sind das keine Memoiren aus einem Keller,“ fährt Dostojewsky in dem Briefe fort; „es ist etwas der Form nach ganz anderes, obwohl dessen Wesen mein immer gleiches Wesen ist, wenn nur Sie, Nikolai Nikolajewitsch, auch mir als einem Schriftsteller einige mir gehörige, besondere Eigenart zugestehen. Diese Erzählung kann ich sehr schnell niederschreiben, da auch nicht ein Zeichen, nicht ein Wort darin mir unklar ist. Dabei ist schon vieles notiert, wenn auch nicht aufgeschrieben. Ich kann diese Erzählung vollenden und in die Redaktion schicken, lange vor dem ersten September. Kurz, ich kann sie sogar in zwei Monaten abschicken. Das ist aber alles, womit ich mich gegenwärtig an der „Zarjá“ beteiligen kann, trotz allen Wunsches, für ein Blatt zu schreiben, an dem Sie, Danilewsky, Gradowsky und Maikow arbeiten.“ Nun folgen die bekannten, immer wieder variierten Honorar- und Elends-Berichte, denen wir in jedem Briefe begegnen müssen.

Im nächsten Briefe an Strachow vom 18. April 1869 sind einige Stellen litterarischer Kritik bemerkenswert. Da heisst es: „Ein für allemal — schweigen Sie doch und reden Sie nicht von Ihrem „Unvermögen“ und den „zusammengefegten Entwurf-Abschnitzeln“. Es wird einem übel, das zu hören. Man kommt auf den Gedanken, dass Sie sich verstellen. Noch niemals haben Sie so viel Klarheit, Logik, so viel Scharfblick und überzeugte Beweisführung gehabt. Allerdings, Ihre „Armut der russischen Litteratur“ hat mir besser gefallen als der Artikel über „Tolstoj“. Jene wird breiter sein; dafür aber ist die erste Hälfte des Artikels über Tolstoj mit gar nichts zu vergleichen: das ist das Ideal einer kritischen Ausführung. Nach meiner Ansicht befindet sich auch ein Fehler in dem Aufsatze, doch ist das nur meine Ansicht, und dann sind solche Fehler auch gut. Dieser Fehler heisst: allzu grosser Idealismus; dieses aber schadet einer Arbeit nicht, sondern fördert sie. Alles in allem habe ich in der russischen Kritik noch nie etwas ähnliches gelesen.

Ich weiss nicht, was aus Awerkiew noch werden wird, aber nach der „Kapitänstochter“ (Puschkins) habe ich nichts ähnliches gelesen. [Dies bezieht sich auf eine im neuen Blatt „Zarjá“ publizierte Komödie Awerkiews: „Frol Skobjejew“, die Dramatisierung des altrussischen Romans gleichen Namens.] Ostrowsky ist ein Stutzer und blickt auf seine Krämer sehr von oben herab. Wenn er schon einen Kaufmann in Menschengestalt darstellt, so ist es gerade, als sagte er dabei zum Leser oder Zuschauer: Nun, siehst du, auch der ist ein Mensch. Wissen Sie, ich glaube, Dobroljubows Urteil über Ostrowsky ist richtiger, als das Grigorjews. Es kann sein, dass Ostrowsky thatsächlich die ganze Idee seines „Dunkeln Königreichs“ nicht in den Sinn gekommen ist, aber Dobroljubow hat sie gut ausgedeutet und ist damit auf den rechten Weg verfallen. Ich weiss nicht, ob sich so viel Glanz der Phantasie und des Talents in Awerkiew zeigen wird, wie bei Ostrowsky; allein seine Darstellung und der Geist dieser Darstellung ist ohne Widerrede höher. Keinerlei vorgefasste Absicht. Annuschka ist unbedingt prächtig, der Vater ebenfalls. Frol aber würde ich ein wenig begabter hingestellt haben. Wissen Sie, der Grossbojar, Naschtschokin, Lycikow — das sind ja unsere ehemaligen Gentlemen (von anderen gar nicht zu sprechen), das ist ja bojarische Grandezza ohne jede Karikatur. Über diese kann man nicht nur keine Karikatur-Lächerlichkeit werfen à la Ostrowsky, sondern im Gegenteil, man muss sich über ihre Vornehmheit, ihr russisches Bojarentum verwundern. Das ist grand-monde jener Zeit, auf der höchsten Stufe der Wahrheit; sodass, wenn irgend wer lächeln wollte, er es höchstens darüber kann, dass der Kaftan einen anderen Schnitt hat. Vor allem und hauptsächlich fühlt man, dass das eine Darstellung der Wirklichkeit ist, dessen, was auch thatsächlich vorhanden war. Das ist ein grosses neues Talent, vielleicht höher als vieles Gegenwärtige. Es wäre ein Elend, wenn es nur für eine Komödie ausreichte.“

Am 11. Mai schreibt Dostojewsky in grosser Aufregung einige Zeilen. Er will Florenz verlassen, da die Hitze sehr gross ist, und möchte einem neuen Familienereignis lieber in Deutschland entgegensehen, wo man sich mit Arzt und Wärterin besser verständigen kann. Nur erwartet er Geld und kann nicht fort, fragt, ob Strachow krank oder etwas in der Redaktion vorgefallen sei. Bezeichnend für Strachow ist die Notiz, die er diesem Briefe anfügt: „Die Sache ist die, dass ich am 27. März jene 125 Rubel (Dostojewskys Verlangen gemäss) an Marja Grigorjewna [D.s Schwägerin] abgeliefert hatte. Obwohl ich nun am selben Tage an Theodor Michailowitsch geschrieben hatte, dass man ihm Mitte April 175 Rubel schicken werde, ihm auch später am 12. April dieses Versprechen erneuerte, wurde das Geld zu meinem grossen Verdruss doch nicht abgeschickt. So verschob sich der Empfang von einem Tag auf den andern, ich wusste nicht was thun und schämte mich so sehr vor Theodor, dass ich dann auch meinen Briefwechsel mit ihm abbrach.“

Ein Brief, den Strachow erst am 17. August desselben Jahres aus Dresden erhielt, beginnt: „Klagen Sie sich um Ihres Schweigens willen vor mir nicht an, Nikolai Nikolajewitsch. Es geht nun einmal so im Leben und dann: Wie kommt ein Redakteur zu einem Briefwechsel mit Freunden, geschweige denn mit Mitarbeitern! Aber, aus Ihrem Zusatz an den Brief unseres teuern Apollon Nikolajewitsch sehe und schliesse ich, dass Sie mir wie früher gut sind. Das ist sehr erfreulich für mich, weil der Leute, die mir zugethan sind, mit der Zeit immer weniger werden. Ich bin selbst schuld daran, habe mich im Auslande allzu festgerannt und bringe mich nicht genug in Erinnerung; folglich habe ich kein Recht, Ansprüche zu machen. In Dresden befinde ich mich thatsächlich erst seit zehn Tagen — ja ich bin im ganzen erst drei Wochen von Florenz fort! Ich habe den ganzen Juli dort zugebracht und bin auch noch in den August hineingekommen. Sie können mit Sicherheit sagen, dass niemals jemand eine solche Hitze erlitten hat. Ein russisches Schwitzbad — nur damit kann man das vergleichen, noch dazu Tag und Nacht. Die Luft ist rein, das ist wahr, der Himmel klar, furchtbar viel Sonne; aber dennoch ist’s unerträglich. Ich habe gesehen, dass es im Schatten (in grossem, gedeckten Schatten) 35° Reaumur waren. Und stellen Sie sich vor, obwohl alle Ausländer entweder in deutsche Bäder oder ans Meer gefahren sind, so sind doch eine Masse Menschen in Florenz geblieben, sogar wirkliche, sozusagen Mylords. Sie haben ihre Kostüme zur Schau getragen, sind herumstolziert usw. Mit einem Wort, wenn Sie wüssten, bis zu welchem Grade ich mich hier als ein ganz überflüssiger und fremder Mensch fühle! — Und so sind wir in Dresden. In drei Wochen werde ich ein Kind haben, ich erwarte es mit Aufregung und Furcht, hoffnungsvoll und zaghaft. Überhaupt habe ich eine sehr sorgenvolle Zeit“ usw.

Am 29. September schreibt Dostojewsky an Maikow wieder einmal einen von der Not diktierten Brief, der jeden Leser durch seine rührende und stolze Kindesschlauheit ergreifen muss. Wir bringen die Hauptstellen hier:

„Sogleich werde ich Ihnen meine Lage schildern und sagen, welcher Art die Hilfe ist, die ich als ein Ertrinkender von Ihnen erwarte: Erstens ist mir vor drei Tagen, am 14. Septbr. (a. St.) eine Tochter, Ljubow, geboren worden. Alles ist vortrefflich von statten gegangen, das Kind ist gross, gesund und eine Schönheit. Wir sind glücklich. (Denken Sie daran, dass wir Sie zum Taufpathen berufen werden. Anja bittet Sie mit gefalteten Händen, unbedingt Sie, also antworten Sie.) Aber Geld haben wir keine ganzen 10 Thaler. Beschuldigen Sie mich nicht der Sorglosigkeit und Unbedachtheit; hier ist niemand schuldig. Wir haben in Florenz berechnet, dass das vom „Russkij Wjestnik“ gesandte Geld für alles reichen werde. Allein, wie es bei allen Berechnungen geht — wir haben uns verrechnet. Es hat keinen Sinn, sich hier in Einzelheiten einzulassen; aber die Sache ist die, dass, wenn ich auch an den höchst zartfühlenden, gütigen und edlen Michail Nikiforowitsch [es ist der Redakteur des „Russkij Wjestnik“, M. Katkow, gemeint] schreiben will, dass er aushelfe — gleich zu schreiben, nachdem ich vor so kurzer Zeit Geld von ihm bekommen habe, schäme ich mich allzu sehr, ist mir geradezu unmöglich. Die Hände wollen sich dazu nicht erheben. Indessen ist weder die Hebamme noch der Arzt bezahlt, und obwohl wir jeden Heller um und umdrehen — ohne Geld geht es in dieser Lage nicht. Es geht nicht!

Da habe ich nun folgende Massregel ergriffen: Heute zugleich mit diesem Briefe an Sie sende ich ein Schreiben an Kaschpirew persönlich, da ich weiss, dass Strachow nicht in Petersburg ist. In diesem Schreiben schildere ich anfangs meine Lage, erwähne meine Übersiedelung, die Geburt eines Kindes (alles wie sich’s gehört), habe aber dabei gelogen, dass mir fünfzehn Thaler geblieben seien, während nicht einmal zehn da sind, und schliesse mit der Bitte, mir auf folgender Grundlage 200 Rubel zu senden. Da ich im gegenwärtigen Augenblick an einer Erzählung für die „Zarjá“ arbeite und diese Arbeit schon bis zur Hälfte gediehen ist (dies alles ist richtig), so sehe ich erstens: dass die Erzählung einen Umfang von 3½ Bogen des „Russkij Wjestnik“ (d. h. fast 5 Bogen der „Zarjá“) haben wird. Dies ist das Minimum. Da ich nun schon im Frühling 300 Rubel von der „Zarjá“ erhalten habe, habe ich demnach nach Vollendung der Erzählung ungefähr für 1½ Bogen nachgezahlt zu bekommen. Obwohl sie noch nicht vollendet ist, wird sie doch Ende Oktober gewiss in die Redaktion der „Zarja“ gesandt. Dies ist ganz sicher. Zweitens: obwohl ich nicht das Recht habe, auf dieser Grundlage jetzt Geld voraus zu verlangen, so bitte ich ihn doch, um meiner kritischen Lage willen als Christ mir auszuhelfen und die 200 Rubel zu senden. Da dies aber gleich zu bewerkstelligen schwer sein wird, so bitte ich ihn, nur 75 Rubel sofort abzusenden (dies um mich aus dem Wasser zu ziehen und mich nicht umfallen zu lassen). Dann, zwei Wochen nach dieser ersten Sendung, bitte ich ihn weitere 75 Rubel zu schicken und zuletzt zugleich mit dieser letzten Sendung Ihnen [Apollon N. Maikow] 50 Rubel auszufolgen. Auf diese Weise wird die erbetene Summe von 200 Rubel sich zusammensetzen. Da ich Kaschpirews Persönlichkeit ganz und gar nicht kenne, schreibe ich in einem gesteigert achtungsvollen, wenn auch etwas nachdrücklichen Tone.

Überdies erklärt sich in diesem Brief an Kaschpirew auch meine zweite und hauptsächlichste Bitte. Nämlich, wenn er sich damit einverstanden erklärt, meine Bitte um Geld zu erfüllen, so möge er die ersten 75 Rubel sofort, unverweilt absenden. Ich habe ihm geschrieben, dass ich mich an die ganze Delikatesse seines Geistes und Herzens wende; dass er über das Drängen, sofort und unverweilt das Geld zu senden, nicht beleidigt sein, sondern in die Sache eingehen und begreifen möge: dass für mich die Frist der Hilfe fast wichtiger ist, als das Geld selbst. Ich fügte hinzu, dass es deshalb genüge, im Falle meine Bitte abgelehnt werde, von der Hand seines Redaktions-Sekretärs nur eine Zeile zu erhalten, aber sofort, damit ich so schnell als möglich meine letzten Massnahmen ergreifen könne und nicht vergeblich auf die Möglichkeit einer Geldsendung warte.

Hier habe ich zum zweiten Male in meinem Briefe an Kaschpirew gelogen in Bezug auf die „letzten Massnahmen“, indem ich ihm erklärte, dass ich genötigt sein würde, sofort meine letzten und unentbehrlichsten Sachen zu verkaufen, und für eine Sache, welche 100 Thaler wert ist, deren 20 bekommen würde; was ich natürlich werde zu thun gezwungen sein, um drei Wesen das Leben zu retten, wenn er mit der Antwort zögern würde, wäre es auch eine befriedigende Antwort. — Dass ich in einer Woche anfangen werde, unsere letzten Sachen zu verkaufen, wenn ich kein Geld bekomme, das ist vollkommen wahr — denn anders geht es auf keine Weise; allein ich habe darin gelogen, dass ich sagte, ich würde Hundert-Thaler-Sachen verkaufen. Die zwei, drei Sachen, die wir hatten, welche 100 Thaler wert waren, sind schon längst, gleich nach unserer Ankunft in Dresden, versetzt und thatsächlich anstatt um 100 nach der Schätzung — um 20 Thaler. Jetzt aber wird es heissen die Wäsche verkaufen, den Paletot und meinetwegen den Überzieher; denn wenn ich auch an Katkow schreibe, so wird dennoch von dorther vor einem Monat kein Geld einlangen, obwohl es sicher einlangt.“

In der Fortsetzung dieses Briefes tritt wieder des Dichters ganze persönliche Empfindlichkeit zu Tage, wenn er sagt: ... „(dies unter uns) ich bitte ja nur sozusagen um das Meine. Die Erzählung wird ja in einem Monat alles bezahlen, und wenn ich auch nicht das Recht beanspruche, vorauszunehmen, so wird doch dem allerletzten Schriftsteller eine solche Nachsicht gewährt, so dass, wenn man mir in der „Zarjá“ das verweigert, ich nur allzusehr begreifen werde, auf welche Stufe man mich in litterarischer Beziehung dort stellt.“ — Dostojewsky konnte nach allem Vorangegangenen wissen, dass von einer Weigerung keine Rede sein würde — dennoch immer wieder der empfindliche Zweifel. — „Auch fürchte ich, fährt er fort, dass er meinen allzu ehrfurchtsvollen Ton für ironisch nimmt. Denn, weiss Gott, was es für ein Mensch ist, ich habe ja persönlich keinen Begriff von ihm. Kurz gesagt, ich verstehe es nicht, über heikle Gegenstände an Fremde zu schreiben, und habe später erst beim Überlesen des Briefes bemerkt, dass er gar zu ehrfürchtig zu sein schien. Endlich das Letzte: Ich bat, Katkow möge Ihnen 50 Rubel in die Hand geben, dies (verzeihen Sie mir, mein Teurer, diese Belästigung und erfüllen Sie es um Christi willen) dieses ist, damit Sie 25 Rubel Emilie Fjodorowna geben und 25 an Pascha. Sie haben beide volles Recht, über eine so bettelhafte Aushilfe entrüstet zu sein; aber mögen sie sogar beleidigt sein, sie sind im Rechte. Da aber 25 Rubel doch etwas sind und ihnen ein wenig Nutzen bringen werden, so geben Sie sie ihnen. Da sie durchaus nicht glauben werden, in welcher Lage ich bin und warum ich ihnen so armselig aushelfe, so sagen Sie ihnen auch kein Wort zu meiner Rechtfertigung.“ „P.S. Fast hätte ich das wichtigste vergessen. Als man mir damals von der „Zarjá“ 300 Rubel herausschickte, kugelte das Geld einen Monat herum. Ich kenne diese Stückchen. Die Hauptsache ist, dass mir N. Strachow später schrieb, dass Geld nicht anders geschickt wird. Folglich haben sie auch keine Vorstellung, wie man Geld fortschickt, sodass es ebenso schnell ankommt wie ein Brief, d. h. in drei Tagen.“

Nun setzt Dostojewsky auseinander, wie man es anfangen soll, Geld so abzusenden, dass der Empfänger es rechtzeitig erhalte. Diese Auseinandersetzung gewinnt durch den nächstfolgenden Brief vom 28. Oktober [also einen Monat nach Absendung des vorigen] eine traurige Berechtigung. In diesem Briefe schildert der Dichter mit Wut und Verzweiflung die Einzelheiten dieser Transaktion, die uns, würden wir nicht zugleich von Teilnahme für den Dulder bewegt, ungemein belustigen könnten. Es kommt thatsächlich ein Brief von Kaschpirew an, der ihm mitteilt, er habe durch den Bankier Chessin an Hirsch in Dresden das Geld senden lassen und schliesse hier den Wechsel ein. Dostojewsky eilt zu Hirsch, dieser liest den Wechsel und sagt: „Hier steht: laut Bericht, das heisst, dass ich erst dann das Geld auszahlen darf, wenn ich auf privatem Wege von Chessin Nachricht erhalte; folglich kann ich nicht zahlen.“ Nun läuft Dostojewsky jeden Tag in das Bankkontor, wo man über ihn zu lächeln beginnt — aber kein Avis erscheint. „Da ich die Geduld verliere und ohne Brot bin, schreibe ich an Kaschpirew, stelle ihm meine Lage vor, bitte ihn Chessin zu veranlassen, dass er den Avis an Hirsch sende. Mein Brief ist vom 9. Oktober datiert — keine Antwort! Bei Gott, ich dachte, es werde überhaupt keine mehr kommen. Dabei laufe ich täglich zu Hirsch. Dort lachen sie und meinen, Chessin habe wahrscheinlich den Avis „vergessen“. Nun ging ich in zwei, drei andere Bankgeschäfte mich zu erkundigen — überall sagte man, dass auf meinen Wechsel mit den Worten „laut Bericht“ niemand Geld giebt, ohne einen solchen zu haben. In einem Kontor sagte man, dass manchmal solche Wechsel zum Spass ausgegeben werden.

Endlich erscheint ein Brief von Kaschpirew — am zwölften Tage nach Absendung des meinen! und bemerken Sie, er schreibt am 3. Oktober unseres Stils, und der Petersburger Poststempel weist den 6. Oktober auf. Das heisst, der Brief hat auf seinem Tische nur so ohne Ursache drei Tage herumgelegen. Hätte er wenigstens aus Delikatesse einen 5. aus dem 3. gemacht! Begreift er denn nicht, dass mich das verletzt? Ich habe ihm ja über die Not meines Weibes und meines Kindes geschrieben — und darauf eine solche Fahrlässigkeit! Ist das keine Kränkung? Und nun schreibt er, er habe bei Chessin angefragt, dieser sage, der Avis sei abgegangen und er begreife nicht, warum ich nichts erhalten hätte; ferner habe er Chessin veranlasst, einen zweiten Avis zu schicken, dass er folglich jetzt überzeugt sei, dass ich das Geld von Hirsch erhalten (woher überzeugt, wieso überzeugt?). Sollte ich aber das Geld noch nicht haben, so möge ich den Wechsel zurückschicken; er werde mir am Tage nach dem Erhalt dieses Wechsels einen anderen, auf einen anderen Bankier lautenden absenden. Nachher fügt er in einer Nachschrift hinzu, ich möge ihm, wenn ich das Geld noch nicht habe, unverzüglich telegraphieren, „natürlich auf meine Kosten“, worauf er sofort, ohne die Ankunft des anderen Wechsels abzuwarten, mir den neuen schicken würde. Endlich fügt er hinzu, dass er in den nächsten Tagen auch die übrigen 75 Rubel senden werde (bemerken Sie, dass das alles am 3. Oktober geschrieben wurde).

Telegraphieren konnte ich am selben Tage, d. h. den 21. Oktober nicht, denn wo sollte ich zwei Thaler für ein Telegramm hernehmen? Konnte er sich nach meinen zwei Briefen nicht vorstellen, dass ich nicht eine Kopeke, buchstäblich nicht eine Kopeke hatte! Wenn er nur wüsste, wie ich am nächsten Tage zu diesen zwei Thalern kam, um ihm zu telegraphieren! Nun, ich habe sie bekommen und ihm telegraphiert: „Kein Avis, Hirsch giebt nicht Geld“; das war am Freitag. Sonnabend schicke ich den Wechsel zurück.“

Und nun erzählt Dostojewsky verzweifelt, wie am fünften Tage nach Rücksendung des Wechsels endlich der Avis einlangt, der nun zu nichts nützt. Endlich gesteht Chessin, er habe ihn darum nicht fortgeschickt, weil er gemeint habe, der Wechsel sei seiner Anweisung gemäss auf „ohne Bericht“ ausgestellt, während der Kommis aber irrtümlicher Weise anstatt „ohne“ — „laut“ geschrieben habe. — Man kann wohl begreifen, wie es dem Dichter inmitten dieser ständigen Kämpfe um die Existenz oft „gar nicht litteraturmässig zu Mute war“, wie er das in einem der nächsten Briefe gesteht. —

Nun folgt eine Reihe von Briefen, welche dasselbe Thema variieren, wozu die unlösbaren Verstrickungen seines Lebens den Anlass nie abreissen lassen. Wir übergehen sie und entnehmen ihrem oft äusserst grossen Umfange und den langen Erörterungen nur die rein persönlichen Äusserungen. Am Ende eines Schreibens vom 19. Dezember heisst es: „Wissen Sie, was ich jetzt mache? Nachdem ich in 2½ Monaten neun enggeschriebene Druckbogen fertig gemacht habe, schreibe ich jetzt mit aller Kraft Briefe an alle jene, denen ich so lange nicht schrieb, als ich mit der Erzählung beschäftigt war.“ [Es ist die Erzählung „Der Hahnrei“.] Dann aber, in drei Tagen, setzte ich mich zu dem für den „Russkij Wjestnik“ bestimmten Roman. Denken Sie aber nicht, dass ich Pfannkuchen backe: wie hässlich und abscheulich auch das herauskommen möge, was ich schreiben werde; die Idee des Romans und ihre Bearbeitung sind mir Armen, d. h. dem Autor doch teurer, als alles auf der Welt! Das ist kein Pfannkuchen, sondern die teuerste Idee, die älteste auch. Natürlich werde ich’s verpatzen; aber was ist zu thun!“

„Der Hahnrei“ nimmt unter den Erzählungen Dostojewskys eine eigentümliche Doppelstellung ein, je nach den Erwartungen, welche der europäische und der russische Leser in Dostojewskys Werke legen und darin erfüllt zu finden gewohnt sind. Künstlerisch gehört diese Erzählung zu dem Vortrefflichsten, was der Dichter geschaffen. Luft und Raum zwischen den Personen und Geschehnissen, Einheitlichkeit, Harmonie in allen Teilen. Dies söhnt aber den europäischen Leser nicht mit der Unerquicklichkeit des Gegenstandes, mit der komplizierten Hässlichkeit des Titelhelden aus, in dessen feines Seelenmysterium einzudringen er nicht genug Interesse empfindet, in dessen Erlebnissen er für sich keine Offenbarung holen kann, die ihn etwa für den Mangel an Schönheit entschädigte. Der russische Leser hinwiederum sieht und sucht tiefer. Er sieht die tiefe Lehre, die darin steckt, das unerschöpfliche Erbarmen für den widerlichsten der Sünder, sowie das kühle Laufenlassen des Weltmanns in den letzten sechs Worten des Buches — allein das ist ihm ja nichts Neues, das kennt er alles, das begegnet ihm täglich, das trägt er selbst in sich. Er sucht im russischen Roman Worte, Andeutungen, die sich auf Russland und seine fernere Entwickelung, auf die Jugend, sein künftiges Russland beziehen. Wo er das nicht findet, lässt ihn das vollendetste Kunstwerk nur kalt.

Wir haben viele russische Kritiker Dostojewskys kennen gelernt, Bände ihrer Abhandlungen über einzelne seiner Werke durchgesehen: es ist uns nicht einmal eine Besprechung oder Erwähnung des „Hahnrei“ (ausser jener Strachows in seinem Briefe nach Dresden 1870-1871) in die Hände gekommen. Auch der Dichter selbst dürfte nicht viel von dieser Sache gehalten haben, die er in 2½ Monaten niederschrieb. Das darf uns nicht stören. Wissen wir ja doch, wie oft er sich über seine Werke täuschte. „Prochartschin“, mit dem er sich „einen Sommer lang herumquälte“; „Der Doppelgänger“, den er immer wieder umarbeitete; dann „Die Besessenen“, die er zu seiner Qual, wie wir später sehen werden, nicht vorwärts gehen sah — auf alle diese Werke hielt er die grössten Stücke, meinte, da seien seine besten, tiefsten Ideen in Fleisch und Blut getreten, während dies nur bei dem letzten derselben, und das nur teilweise und bedingt der Fall gewesen ist. Für uns, die wir versuchen in die russischen Anschauungen einzudringen, aus denen das russische Kunstwerk entsteht, ist gerade im „Hahnrei“ eine der tiefsten Ideen Dostojewskys um so klarer hervorgetreten, als hier das Kunstwerk von keiner Überfülle erstickt und vortrefflich disponiert ist.

Eine eigentümliche, echt künstlerische Laune des Dichters hat ihn getrieben, sich da, offenbar mit grosser Wollust, an die Karikatur des Christentums zu machen. Es ist dabei mit vollendeter Deutlichkeit jenes Zerrbild entstanden, das dem modernen Europäer bei der Vorstellung der Demut und Versöhnlichkeit einer Slavennatur gemeiniglich vorschwebt: eine Mischung von hasserfüllter Sentimentalität, rachedürstender Thränenseligkeit, die sich in falschen Bruderküssen auslebt. Alle Möglichkeiten, die in der „breiten slavischen Natur“ bei einander wohnen, hat er hier in eine widerwärtige Wirklichkeit zusammengefasst und dadurch sein Wort bestätigt, dass dies Werk anders in der Form, doch im selben Geiste geschaffen sei, wie die „Memoiren aus dem Kellerloch“.

Sehr klar und wohl durchdacht, wie alle Expositionen des Dichters, ist auch die des „Hahnrei“ (der russische Titel ist: „Der ewige Gatte“ und entspricht der später gegebenen Definition dieser Spezies besser als das unzulängliche deutsche Wort).

Weltschaninow, ein etwas heruntergekommener Lebemann von 39 Jahren, bringt den Sommer in Petersburg zu, um einem Prozess nachzusehen, der ihm den Rest seines ehemals grossen Vermögens, eine Erbschaft von 60000 Rubeln, sichern soll. Er hat alles andere vergeudet und zittert nun um seinen künftigen Egoismus; das heisst, er will alles thun, sogar sparen und geregelt leben, um dessen sicher zu sein, dass er sein gewohntes schmackhaftes „Diner“, seine feine Toilette niemals werde entbehren müssen. Vorläufig aber nimmt er in einem kleinen Restaurant ein Mittagessen zu einem Rubel, hält eine anständige, aber vernachlässigte Wohnung, in welcher ihm die Frau des Hauswächters recht zweifelhafte Ordnung hält, und verfällt durch diesen äusseren Zustand des Sichgehenlassens in eine seltsame Art von Hypochondrie.

Hier setzt das russische Thema ein. Die Hypochondrie plagt den Mann nicht mit Krankheitsbildern, wie sie uns etwa damit belagert, sondern es fallen ihm gewisse kleine Dinge aus seiner Vergangenheit ein, die er „lieber nicht gethan hätte“. Da ist das junge Mädchen aus dem Volke, das er verführt und samt ihrem Kinde verlassen hat; der junge Fürst, dem er für nichts und wieder nichts im Duell das Bein zerschossen hat, und manches andere mehr. Weltschaninow verfügt bei aller Hypochondrie über einen klaren, gesunden Menschenverstand; er sagt sich, dass er, käme die Sache wieder so, unzweifelhaft der alten Fürstin dennoch das Leid zufügen würde, ihrem Söhnchen das Bein abzuschiessen — heute aber, in seiner jetzigen Verfassung verdriesst ihn das, lässt es ihm keine Ruhe. Hier haben wir in wenigen Strichen den russischen Weltmann mit dem Einschlag: Reue und Einkehr aus äusseren Gründen, eine Reue auf Zeit, die, wie wir sofort empfinden, der gesicherten Erbschaft und dem guten kleinen Diner bald das Feld für neue Thaten räumen wird.

An ein Erlebnis jedoch scheint er sich nicht zu erinnern, und gerade dies soll ihm verhängnisvoll werden. Ihm begegnet fast täglich ein Mann mit einem Hut, um den ein Trauerflor geschlungen ist. Das Gesicht reizt, verdriesst ihn; es verfolgt ihn, sodass Appetit und Schlaf vergehen. Endlich scheint ihm, er müsse den Mann „einmal gekannt haben“. Da, in einer schlaflosen Nacht tritt er ans Fenster, schiebt die schwere Gardine, welche ihm die Helle der Petersburger Nächte zu decken bestimmt ist, auseinander und sieht auf dem jenseitigen Bürgersteig — den Mann mit dem Trauerhute stehen und spähend auf sein Fenster blicken. Kaum ist er mit Staunen seiner ansichtig geworden, als jener auch schon über die Strasse und — gerade ins Haus geht. Weltschaninow tritt in sein Vorzimmer und lauscht mit atemloser Spannung. Richtig, da kommt es auf der Treppe heraufgeschlichen, da drückt und zerrt es an der Thürklinke. Weltschaninow öffnet plötzlich die Thüre, und vor ihm steht der Mann „mit dem Krepp“, in welchem er mit einemmale Paul Pawlowitsch Trussotzky, den Mann erkennt, mit dessen Gattin, einer russischen Madame Bovary, er vor neun Jahren in der Provinzstadt T. ein intimes Verhältnis unterhalten hatte. Er nötigt Trussotzky in die Stube und fordert Aufklärung über den nächtlichen Besuch. Dieser entschuldigt sich nur halb, er sei auf dem Heimwege vorübergegangen und, „ohne es eigentlich zu wollen, zufällig“ heraufgekommen. Er erzählt ferner, dass er, um in ein anderes Gouvernement versetzt zu werden, nach Petersburg gekommen sei und nun in seiner Stimmung nicht loskomme. Dabei deutet er auf den Krepp auf seinem Hute. „Ja, sie; Natalja Wassiljewna! im heurigen März!“ beantwortet er Weltschaninows Frage. Nun weiss er den überraschten und mehr, als er’s vermutet hatte, erschütterten Weltschaninow mit süsslich stichelnden Anspielungen so in die Enge zu treiben, dass dieser in die höchste Aufregung kommt und ihm, zu Trussotzkys steigender Freude, mehr als ein unvorsichtiges Wort entschlüpft. Diese Szene ist voll vortrefflicher kleiner Züge, die das innerste Wesen dieser beiden Menschen aufdecken.

Endlich schickt Weltschaninow den verhängnisvollen Gast fort, schliesst diesmal seine Thüre fest zu und wirft sich angekleidet auf sein Lager. Als er spät am Morgen erwacht, fällt ihm sofort der Tod jenes Weibes ein. Er denkt über sie nach, kommt zu dem Schluss, dass sie verderbt war — mit seiner Beihilfe, wie der Dichter „im Vorübergehen“ bemerkt — ohne sich im geringsten dafür zu halten, und dass eine solche Frau als notwendigen Gegenpart einen Hahnrei zum Manne haben müsse. „Seiner Ansicht nach besteht die Wesenheit solcher Gatten darin, dass sie „ewige Gatten“ oder, besser gesagt, im Leben nur Gatten sind und weiter nichts.“ „Ein solcher Mensch wird geboren und entwickelt sich einzig und allein, um sich zu verheiraten und, nachdem er sich verheiratet hat, sich sofort in eine Zugabe seiner Frau zu verwandeln, auch in dem Falle, dass er selbst einen eigenen unbestreitbaren Charakter besässe. Das Hauptmerkmal eines solchen Gatten bildet — ein gewisser Stirnschmuck. Ein so Gehörnter nicht zu sein, ist ihm gerade so unmöglich, als es der Sonne ist, nicht zu scheinen. Allein er weiss nicht nur gar nichts davon, sondern er kann den Naturgesetzen nach nie etwas davon wissen.“

Weltschaninow hat sich im letzten Augenblick Trussotzkys Adresse geben lassen und findet ihn endlich in einer elenden Mietwohnung, halbangekleidet — ein kläglich bittendes Kind züchtigend. Es ist Lisa, der Verstorbenen Töchterchen, „das uns geboren wurde, als Sie schon — wie lange fort waren?“ Er zählt die Monate: ja acht Monate, nachdem Sie fort waren. — Das Kind ist furchtbar eingeschüchtert. Wir erfahren aus Abrissen des Gespräches, dass Trussotzky das Kind sehr geliebt, nach dem Tode der Frau aber gequält, geschreckt und Tage lang sich selbst überlassen habe. Weltschaninow erkennt unter Qualen, dass es sein Kind ist, und führt es zu guten Freunden aufs Land. Es ist eine kinderreiche Familie, die das kranke, scheue Mädchen liebevoll aufnimmt. Das Kind erkrankt dort am zweiten Tage und stirbt, ohne dass Trussotzky auch nur einmal hinausgekommen wäre, sich nach ihm umzusehen. Weltschaninow entschliesst sich mit Widerwillen, den Mann wegen des Begräbnisses aufzusuchen, und findet ihn endlich in trunkenem Zustande bei einigen „Damen“. Als er ihm mitteilt, dass sein Töchterchen gestorben sei und die Bestattungspflichten an ihn herantreten, ruft er ihm lallend giftig die Worte zu: „Erinnern Sie sich des Lieutenants, der nach Ihnen ankam; zu dem gehen Sie wegen der Bestattung.“ Der Rausch allein versetzt ihn in die mutige Stimmung, giftige Pfeile unmittelbar nach seinem Feinde zu schleudern. Indessen zahlt er nach einigen Tagen in nüchternem Zustande jener Familie die Begräbniskosten bei Heller und Pfennig.

Dies ist das erste Stück seiner Rache. Er will nichts anderes, als in Weltschaninow jene Empfindungen erwecken, die er selbst gehabt, als er erfuhr, dass nicht er Lisas Vater sei. Zwischen diesen durch Trunkenheit aufgestachelten Rache-Versuchen des feigen „Gatten“ spielen sich Szenen widriger „Vergebung“, Küsse, Thränen, Umarmungen ab, denen sich Weltschaninow — da er sich im Banne der Schuld fühlt, ihn auch wohl nach einem klaren Abschluss dieser peinvollen Sache verlangt und vor allem, weil er eben jetzt physisch entsprechend konstituiert ist — auf keine Weise entwinden kann. Nach einer solchen Szene, die ihn wieder in den Bann seiner eigenen Reuegefühle versetzt hatte, lässt er sich auch von Trussotzky erbitten, ihn zu einer töchterreichen Familie aufs Land zu begleiten, in deren Schosse er, Trussotzky, sich — eine Braut erwählt habe. Es ist dies die sechste der Haustöchter, Nadja, eine frische, kecke Gymnasiastin. In Weltschaninow, der auf der Fahrt mit seinem Gefährten auch nicht ein Wort gewechselt hatte, erwacht draussen unter der blühenden Mädchenschar der alte Frauenbestricker; er musiziert, singt, entzückt die junge Nadja und reizt dadurch Trussotzky zu verbissener Wut.

Als ein Gewitter heraufzieht, fahren sie endlich auf Trussotzkys stilles Drängen nach Petersburg zurück, wo dieser Weltschaninow in seine Wohnung folgt. Der Hausherr ist erschöpft, fühlt sich leidend; Trussotzky aber weicht nicht von der Stelle, bis er nicht das Versprechen empfangen hat, Weltschaninow werde niemals in jenes Haus zurückkehren. Da, schon spät am Abend, unter Blitz und Donner, stürmt ein sehr junger Mensch herein, der sich als Nadjas heimlich Verlobter vorstellt und mit der ganzen Sicherheit und Anmassung der Jugend — eine meisterhafte Szene — Trussotzky verbietet, um seine Braut zu werben. Diese Episode zieht sich so lange hin, dass endlich Weltschaninow nach des Studenten Abgang Paul Pawlowitsch veranlasst, bei ihm zu übernachten. Kaum hat sich Weltschaninow niedergelegt, als der Brustkrampf, welcher ihn schon seit geraumer Zeit angefallen hatte, sich zu einem unerträglichen Grade steigert. Trussotzky eilt in die leere Küche, macht Feuer an, weckt die Frau des Hauswächters und wärmt abwechselnd mit ihr Tücher und Teller, die er mit unermüdeter Sorgfalt dem Kranken auflegt, giebt ihm Thee zu schlucken, den er schnell bereitet hat, bis endlich das Übel sich legt und nur eine grosse Schwäche zurückbleibt, die zur Nachtruhe mahnt.

Überwältigt von dieses Menschen aufrichtiger Bemühung um ihn, ruft ihn Weltschaninow noch einmal an sein Lager und sagt halbmurmelnd: „Sie — Sie — Sie sind besser als ich! Ich begreife alles, alles ... ich danke Ihnen.“ — Trussotzky löscht das Licht aus und legt sich leise auf den zweiten Divan nieder. Es ist nach dem Gewitter tiefdunkel in der Stube, wo schwere Vorhänge das Licht ausschliessen. Nur vom Nebenraum her dringt ein schwacher Schein herein. Weltschaninow hat einen beängstigenden Traum. Er hat ihn schon einmal gehabt, als Trussotzky das erste Mal bei ihm übernachtet hatte und er ihn plötzlich mitten im Zimmer stehend mehr fühlte als sah. Ihm war auch diesmal, als kämen immer mehr Leute die Treppe herauf und zu ihm herein, sodass die Stube zu voll wird, um darin atmen zu können. Endlich hört er genau, ebenso wie damals, drei Glockenschläge an der Wohnungsthür und erwacht mit einem Schrei.

Eine Eingebung heisst ihn mit vorgestreckten Händen dorthin eilen, wo Paul Pawlowitsch schläft. Da berühren seine Hände zwei andere Hände, etwas Scharfes schneidet in seine Linke und fällt darauf zu Boden. Es ist sein Rasiermesser, das gerade heute zufällig auf dem Tischchen neben dem Divan liegen geblieben war. Nun folgt ein minutenlanger, lautloser Kampf, der damit endet, dass Weltschaninow trotz seiner Schwäche Trussotzky niederwirft und ihm die Hände mit der Vorhangschnur, die er mit Zorneskraft abgerissen, auf dem Rücken zusammenbindet.

Es ist nun fünf Uhr geworden. Weltschaninow lässt den vollen Tag herein, eilt zu einem Schrank um ein Handtuch, verbindet sich damit die blutende Hand, hebt das Rasiermesser vom Boden auf, verwahrt es an seinem Ort und wendet sich zuletzt Trussotzky zu, welchem es indessen gelungen war sich aufzurichten und in einen Stuhl zu setzen. Plötzlich blickt er halb stumpf empor und deutet nach der Wasserflasche: „Wasser möcht’ ich“, flüstert er. Weltschaninow giesst ein Glas voll ein und führt es zu seinen Lippen, bis der Durst schluckweise gestillt ist. Darauf nimmt Weltschaninow sein Kopfkissen und begiebt sich in das Nebenzimmer zur Ruhe, nachdem er vorher Trussotzky nach aussen eingeschlossen hat.

Wir lassen hier den Dichter erzählen: „Seine Schmerzen waren ganz vergangen, allein er empfand aufs neue eine ungeheure Mattigkeit, jetzt nach der aussergewöhnlichen Anspannung seiner ihm, weiss Gott woher, zugeströmten Kräfte. Er wollte versuchen sich den ganzen Vorgang vorzustellen, allein seine Gedanken vermochten sich noch nicht aneinander zu reihen; der Schlag war allzu stark gewesen. Bald fielen ihm die Augen zu und blieben etwa zehn Minuten geschlossen, bald zuckte er plötzlich zusammen, erwachte, erinnerte sich an alles, erinnerte sich seiner schmerzenden, in das blutnasse Handtuch gewickelten Hand und begann fieberhaft, wühlend, nachzudenken. Klar wurde ihm nur eines: dass Paul Pawlowitsch ihm thatsächlich hatte die Gurgel abschneiden wollen, dass er aber möglicherweise eine Viertelstunde vorher nicht wusste, dass er es thun werde. Das Rasierzeug (das übrigens sonst immer im Schreibtisch eingeschlossen lag) war von ihm vielleicht erst am Abend mit dem Blick gestreift worden, ohne jedoch dabei irgend einen Gedanken in ihm zu erwecken. „Wenn er sich schon seit langem vorgenommen hätte, mich umzubringen — fiel ihm unter anderem ein —, so hätte er sicherlich schon ein Messer oder eine Pistole vorbereitet und nicht auf mein Rasiermesser gerechnet, das er bis zum gestrigen Tage noch nie gesehen hat.“

Der Dichter kommt auf das Unbewusste im Handelnden zurück, und damit beim Leser auch kein Irrtum sei, wie er Trussotzky zu betrachten habe, lässt er diesen eben das noch nie gesehene Rasiermesser benutzen. Er geht noch weiter. Im Kapitel, das ‚Analyse‘ überschrieben ist, nimmt Weltschaninow den Faden seiner Folgerungen — nachdem er Trussotzky entlassen hat — folgendermassen wieder auf. „Diese Leute,“ dachte er, „eben diese Leute, welche vor einer Minute noch nicht wussten, werden sie den Hals abschneiden oder nicht, — wenn die schon einmal das Messer in ihre zitternde Hand nehmen und sie den ersten Spritzer heissen Bluts auf ihren Fingern fühlen, dann bleibt es nicht beim Schneiden allein — den ganzen Kopf schneiden sie dann herunter: ‚zum Wohlsein‘, wie die Arrestanten sagen. So ist es.“

Dieses tiefe Eindringen in den Blutrausch der unbewusst Mordenden zeigt er noch ausführlicher in der Besprechung des Prozesses der Kairowa, welche „noch am Vorabend sicher nicht wusste, ob und wie weit sie ihrer Rivalin in die Gurgel schneiden werde“. Auch in jener ergreifenden Gerichtsszene, wo Dmitri Karamasow erzählt, er habe daran gedacht, den Vater zu töten, aber den mörderischen Stössel von sich in den Garten geschleudert, er wisse nicht warum — „es muss wohl in diesem Augenblick meine Mutter für mich gebetet haben“, meint er — auch hier ist das Mysterium betont, die tiefen Zusammenhänge der Möglichkeiten in der Menschenseele, über die kein Gesetz je gerecht zu entscheiden vermag.

Im weiteren Verlauf der Analyse kommt Weltschaninow-Dostojewsky zu seltsamen Schlüssen: „Wenn es also entschieden ist, dass er mich ohne Vorbedacht umzubringen auf dem Wege war, grübelte Weltschaninow, ist ihm dieser Gedanke etwa schon einmal früher in den Sinn gekommen, wenn auch nur wie eine Vorstellung in einem zornigen Augenblick?“ „Er löste die Frage seltsam, — damit, dass Paul Pawlowitsch ihn wohl umbringen gewollt, dass aber der Gedanke des Mordes dem künftigen Mörder auch nicht einmal eingefallen war.“ Kürzer gesagt: „Paul Pawlowitsch wollte umbringen, allein er wusste es nicht, dass er umbringen wollte. Das ist unsinnig, aber es ist so,“ dachte Weltschaninow: „er ist wegen meiner hergefahren und mit Lisa hergekommen!“ „Und war denn das wahr, das alles wahr,“ rief er, plötzlich den Kopf vom Kissen erhebend und die Augen öffnend, „alles, was dieser ... Verrückte mir gestern über seine Liebe zu mir vorgeredet hat, als sein Kinn zu zittern begann und er sich mit der Faust an die Brust schlug?“ „Vollkommene Wahrheit,“ entschied er, sich immer mehr in die Analyse vertiefend, „dieser Quasimodo aus T. war genug dumm und edelmütig dazu, um sich in den Liebhaber seiner Frau zu verlieben. [Man merke hier die Anschauung des Weltmannes Weltschaninow, wie sie der Dichter markiert.] Einer Frau, der er zwanzig Jahre lang nichts anmerkte. Er achtete mich neun Jahre lang, ehrte mein Andenken und erinnerte sich an meine ‚Aussprüche‘ — Herrgott, und ich wusste von gar nichts! Er konnte gestern nicht lügen! Aber, liebte er mich gestern, als er mir seine Liebe erklärte und sagte: ‚werden wir quitt?‘ Ja, aus Bosheit liebte er mich; diese Liebe ist die allerstärkste.“

Nun lässt der Dichter Weltschaninow sich erinnern, welchen Eindruck er auf diesen „Schiller in der Form eines Quasimodo“ gemacht habe. [Bei den Russen ist der Name Schiller als ein Gattungsname für verschrobene, hohle Idealisten eingebürgert.] Den günstigsten, vor allem durch seine Handschuhe und die Art, sie zu tragen; „denn die Quasimodos lieben die Ästhetik, hu, wie sie sie lieben! Handschuhe sind ganz genügend für manche edle Seele, gar aus dem Geschlechte der ‚ewigen Gatten‘.“ Weltschaninow geht alle Phasen von Trussotzkys Zustand durch, natürlich in der Beleuchtung des leichtfertigen Weltmannes. „Wenn auch dieser, wem kann man danach noch trauen!“ — „Nach einem solchen Aufschrei wird man ein Tier!“ denkt er bei sich.

„Hm! er ist hergekommen, um mich zu umarmen und mit mir zu weinen“, wie er selbst es in der niedrigsten Weise ausgedrückt hat — das heisst, er kam, um mich umzubringen, und dachte dabei, es sei „um mich zu umarmen und mit mir zu weinen“ ... Auch Lisa hat er hergebracht ... Wie aber, wenn ich mit ihm geweint hätte, da hätte er mir vielleicht thatsächlich verziehen, weil er schrecklich das Bedürfnis hatte, zu verzeihen! .. Alles das hat sich aber bei der ersten Begegnung in betrunkene Gewaltstücke, in Karikatur verwandelt, in weibisches Geheul über die Beleidigung. (Hörner hat er sich vor mir auf die Stirne gemacht, Hörner!) Darum ist er auch in trunkenem Zustand gekommen, um sich wenigstens fratzenhaft auszusprechen usw. Und wie er in der Nacht herumgesprungen ist, die Teller zu wärmen, dachte eine Abwechselung zu machen — vom Messer zum innigen Mitgefühl! Sich und mich wollte er retten — mit gewärmten Tellern! ...“

Endlich kommt Weltschaninow zur Ruhe, schläft sich aus, erwacht mit einem unendlichen Gefühl der Erleichterung, dass „alles vorüber sei“, geht an diesem Tage viel aus und hat Mühe sich zurückzuhalten, um nicht dem ersten besten sein Erlebnis zu erzählen. Nach einer gut zugebrachten Nacht erwacht er mit einem ungeheueren Schrecken. Er fühlt, dass er: Trussotzky aufsuchen muss. „Warum? Wozu? Darüber wusste er nichts und empfand einen tiefen Widerwillen es zu wissen, wusste aber nur das, dass er gewiss aus irgend einem Grunde dahin kriechen werde.“

Also auch hier versäumt es der Dichter nicht, das echt russische Schuld- und Ausgleichsbedürfnis in die Gegenfigur des in zwei gespaltenen Menschen ohne Gott zu legen. Den Weltmenschen wie den Sünder treibt das unbewusste Verlangen geheimnisvoll nach dem „Quittwerden“ mit äusseren und inneren Geschicken. Ohne dass ein einziges Mal im ganzen Buche der christliche Gedanke mittelbar oder unmittelbar ausgesprochen würde, sehen wir, wie er sich allmählich aus den Zuständen und den endgiltigen Schicksalen dieser Beiden herausschält.

Weltschaninow macht sich also auf den Weg zu seinem Mörder, begegnet aber dem jungen Studenten, Nadjas „Bräutigam“, in angeheitertem Zustand, der ihn mit dem Namen Trussotzkys anspricht. Weltschaninow ergänzt halb unbewusst, seiner inneren Vermutung folgend: „— — hat sich erhenkt“. „Ei was erhenkt, wir haben ihn zur Bahn begleitet, im Waggon noch mit ihm getrunken, auch auf Ihr Wohl.“ — —

Im letzten Kapitel, einer Art Epilog, mit der Aufschrift „Der ewige Gatte“, finden wir Weltschaninow zwei Jahre später, verjüngt, voll frischer Lebenspläne, seine ehemaligen „hypochondrischen Schrullen“ belachend, auf der Reise. Er hat seine Erbschaft angetreten, verwaltet sein Vermögen vernünftig, hat sein tägliches gutes, kleines „Diner“, verkehrt wieder mit der „Gesellschaft“, wo ihn „alle“ wieder aufs freundlichste in ihrer Mitte aufnehmen, als sei er nur „verreist gewesen“. Er fährt nach Odessa, um einen Freund zu besuchen und eine interessante Dame zu treffen, deren Bekanntschaft er schon lange zu machen gewünscht hat. Da, auf einem Kreuzungspunkte der Bahnlinien, fällt ihm ein, dass eine andere interessante Dame, eine ehemalige Bekannte, nicht weit von der Station, jedoch auf der anderen Linie ihre Besitzung habe und dass er sehr wohl die Fahrt unterbrechen könne, um auch sie zu besuchen. Doch war er noch nicht ganz entschlossen und erwartete, da ein Aufenthalt von 40 Minuten vollauf Zeit liess, irgend einen „Anstoss von aussen“.

Da entsteht im Gedränge der Fahrgäste beider Züge auf dem Bahnsteig eine laute Szene. Eine hübsche und sehr auffallend gekleidete junge Dame aus der Provinz zerrt einen betrunkenen, sehr jungen Offizier hinter sich her, welcher Skandal macht und ihr nicht in den Saal folgen will. Man drängt sich um sie, macht schlechte Witze, verlacht, beschimpft sie endlich. Sie sieht sich ängstlich nach jemand um, der ihr helfen möchte. Weltschaninow eilt herzu, nimmt sie in Schutz, packt einen sie belästigenden Krämer am Kragen und schafft im Nu Ruhe, da alles vor dem eleganten Herrn zurücktritt. Die Dame fliesst vor Dankbarkeit über, der junge Ulan brüllt ein besoffenes „Dddanke!“ und streckt sich auf zwei Stühle aus, wo er einschläft.

Weltschaninow hat der Vorfall interessiert: die Frau ist hübsch, scheint reich zu sein, wenn auch von etwas komisch kleinstädtischen Manieren. Sie dankt ihm wiederholt, schmäht auf ihren Mann, der, weiss Gott wohin verschwunden sei. Da taucht plötzlich ein bekannter Kahlkopf aus der Menschenmenge hervor; er kommt gerade auf die Gruppe zu. Es ist der Gatte; Paul Pawlowitsch steht vor Weltschaninow. Die Frau überhäuft ihn mit Vorwürfen und stellt ihm den Retter vor. Weltschaninow durchbricht die Entsetzensstarre, die jenen erfasst hatte, legt seinen rechten Arm kameradschaftlich um des anderen Schulter und sagt lachend: „Wir sind ja Freunde, von Kindheit an, hat er Ihnen nicht von Weltschaninow gesprochen?“ Olympia Semjonowna ladet nun diesen dringend ein, sie auf ihrem Gute zu besuchen, was er auch bestimmt zusagt.

Paul Pawlowitsch beeilt sich, die Gattin samt dem „jungen Verwandten“ in den Waggon zu bringen, und kehrt vor Aufregung zitternd zu Weltschaninow zurück, um ihm das Versprechen abzunehmen, dass dieser sie nicht besuchen werde. Es wird zur Abfahrt geläutet. Olympia und der Ulan rufen: „Paul Pawlowitsch! Paul Pawlowitsch!“ Paul Pawlowitsch wurde abermals unruhig und fing an, sich hin und her zu drehen; da packt ihn der — nun durch Gesundheit von aller Sentimentalität befreite — Weltschaninow am Ellbogen, hält ihn fest und sagt: „Wollen Sie, ich gehe sofort zu Ihrer Gattin und erzähle ihr, wie Sie mich einmal umbringen wollten — ha?“ „Was wollt Ihr, Herr, was wollt Ihr — Gott bewahre Euch.“ „Paul Pawlowitsch, Paul Pawlowitsch!“ hört man wieder rufen. Endlich lässt Weltschaninow ihn los. „Nun, gehen Sie endlich“ sagt er, ihn gutmütig anlachend. [Wie charakteristisch hier die Leichtfertigkeit des Weltmenschen, der einen Scherz aus der Sache macht und den Mörder „gutmütig anlacht“; wie echt russisch auch!]

„Also Sie kommen nicht?“ flüsterte fast verzweifelt Paul Pawlowitsch zum letzten Male und legte sogar, wie ehemals, die Hände bittend vor ihm zusammen. „Ich schwöre es Ihnen ja, ich komme nicht! Laufen Sie, sonst giebts Verdruss.“ Und er streckte ihm behäbig breit die Hand entgegen — er streckte sie hin — und zuckte zusammen: Paul Pawlowitsch nahm die Hand nicht, zog sogar die seine zurück.

Da ertönte das dritte Glockenzeichen. In einem Augenblick ging nun etwas Seltsames mit den Beiden vor sich; es war, als wären Beide in ihr Gegenteil umgewandelt. Etwas zuckte und riss an Weltschaninow, der eben erst so gelacht hatte. Er packte Paul Pawlowitsch fest und wütend an der Schulter. „Wenn schon ich, ich Ihnen diese Hand reiche“ — und er wies ihm die linke Handfläche, in welcher die Schramme der Schnittwunde deutlich zu sehen war — „so können Sie sie wohl nehmen!“ stiess er leise mit zitternden, erbleichenden Lippen hervor. Auch Paul Pawlowitsch war bleich geworden und auch seine Lippen bebten. Wie Krämpfe lief es über sein Gesicht. „Und Lisa. Herr?“ lallte er im schnellen Flüstortone — und plötzlich begannen ihm Lippen, Kinn und Wangen heftig zu zittern und zu zucken, und Thränen stürzten aus seinen Augen. Weltschaninow stand vor ihm, zur Säule erstarrt. „Paul Pawlowitsch, Paul Pawlowitsch!“ brüllte man aus dem Waggon, als würde dort jemand umgebracht — und plötzlich ertönte ein Pfiff. Paul Pawlowitsch kam zu sich, schlug die Hände zusammen und begann über Hals und Kopf zu rennen. Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, allein es gelang ihm irgendwie, sich anzuhängen, und er sprang im vollen Lauf noch zurecht gerade in seinen Waggon.

Weltschaninow blieb auf der Station und fuhr, nachdem er einen anderen Zug abgewartet, erst abends, doch in der früher eingeschlagenen Richtung weiter. Nach rechts, zur Bekannten auf dem Landgute fuhr er nicht — es war ihm so gar nicht danach zu Mute. Und wie hat er das später bereut!“

Wen erschütterte nicht dieser mächtige und doch so einfache Schluss? Die tiefe Unruhe des Weltmannes wie die des „ewigen Gatten“, jener Beiden, die mit sich und mit einander nicht „quitt“ werden können, weil sie das nicht in sich tragen, was allein den „irrationalen Rest“ zwischen Begierde und Erfüllung aufhebt: einen Gott — der Künstler hat sie in jedem von ihnen gestillt. Aber wenn er den Weltmann mit jenen letzten Worten „wie hat er das später bereut!“ entlässt, ihn also seine Ruhe endgiltig in den wiedergewonnenen Lebensgenüssen finden lässt, so schüttet sein Genius über das Haupt des von Schmerzen zuckenden, widerwärtigen Sünders etwas von jenem Liebesstrom aus, dem einst die Worte entstiegen: „Ihr wird viel vergeben, denn sie hat viel geliebt.“

In einem Briefe vom 24. Februar 1870 schreibt Dostojewsky, ebenfalls an Maikow, unter anderem: „Ich bin wieder in einer solchen Not — es ist um sich nur aufzuhängen!“ Weiter heisst es: „Nach einer langen Pause zwischen den Anfällen haben diese angefangen mich wieder zu quälen und ärgern mich hauptsächlich darum, weil sie mich an der Arbeit hindern. Ich habe eine reiche Idee in Angriff genommen. Ich rede nicht von der Ausführung, nur von der Idee. Es ist eine jener Ideen, welche eine unzweifelhafte Wirkung auf das Publikum ausüben. Etwas in der Art wie „Schuld und Sühne“, allein noch näher, der Wirklichkeit mehr an den Leib gerückt und sich auf die wichtigste Frage der Gegenwart beziehend“.

In einem Briefe an Strachow vom 10. März 1870 finden wir eine Wiederholung des abfälligen Urteils über frühere besprochene Nummern der „Zarjá“, worin auch eine Kritik Strachows gewesen war. Diese überzeugten Wiederholungen derselben Gedanken mit den nämlichen Ausdrücken sind sowohl in den Briefen, als auch in den Werken Dostojewskys sehr häufig und für ihn charakteristisch. Hier, in diesem Briefe ist die Wiederholung allerdings auch noch ein Beweis von Dostojewskys grosser Offenheit, ein Beweis, der uns nach so vielen Äusserungen persönlichen Misstrauens und Furcht vor verschobenen Beziehungen höchst wohlthuend berührt, ja Bedürfnis war. In noch viel grösserem Ausmasse finden wir diese Offenheit in den Briefen an jene tausend Unbekannte, die sich an den berühmten Seelenerforscher und Seelenkenner um Rat und Zuspruch wandten. Wir werden die bemerkenswertesten dieser Antworten weiter unten anschliessen. In einem Briefe an Strachow heisst es: „Ihr Artikel aber, obwohl vortrefflich, behandelt immer das alte Thema (ich spreche hier nicht von meinem Gesichtspunkt, sondern von dem der Abonnenten). Übrigens, wer hat Ihnen gesagt, dass Ihr Aufsatz über Turgenjew besser sei, als der über Tolstoj? Der Artikel über Turgenjew ist eine sehr schöne und klare Arbeit, aber in jenem über Tolstoj haben Sie gleichsam Ihre Grundanschauung niedergelegt, aus der heraus Sie Ihre Thätigkeit fortzusetzen gedenken — so sehe ich die Sache an. Und ich bin mit allem einverstanden (was ich früher nicht war), und lehne von allen den paar tausend Zeilen dieses Artikels nur zwei ab — nicht mehr, nicht weniger —, mit welchen ich mich unbedingt nicht einverstanden erklären kann. Doch davon später.“

Die Aufforderung, an der „Zarjá“ beständig mitzuarbeiten, beantwortet Dostojewsky mit der Bedingung, dass ihm Honorarraten vorgeschossen würden. „Ein Thema habe ich wohl auch jetzt. Ich will mich darüber nicht ausbreiten, nur dies will ich sagen: es ist selten etwas Neueres, Volleres und Originelleres in mir aufgetaucht. Ich kann so sprechen, ohne der Ruhmsucht geziehen zu werden, da ich nur vom Thema spreche, von der Idee, die in meinem Kopfe zu Fleisch geworden, aber nicht von der Ausführung. Die Ausführung hängt von Gott ab. Ich kann auch alles verderben, was sich schon oft bei mir ereignet hat; allein eine innere Stimme sagt mir, dass mich die Inspiration nicht verlassen wird. Aber für die Neuheit des Gedankens und die Originalität der Inscenierung verbürge ich mich und blicke vorläufig mit Entzücken auf diese Idee. Es wird ein Roman in zwei Teilen sein, nicht weniger als zwölf, keinesfalls mehr als fünfzehn Bogen stark. Er kann sicher noch dieses Jahr (1870) am 1. Dezember der Redaktion zugestellt werden; ich kann mich der Zeit versichern, um ordentlich zu schreiben. (NB. Der Roman könnte auch schon zum 1. November zugestellt werden, aber ich muss gestehen, mir wäre es sehr unlieb, in einem und demselben Jahre zum zweiten Male eine grössere Erzählung in ein und dasselbe Blatt zu schreiben. Wäre es nicht besser, so wie jetzt, erst zum Januar oder Februar des künftigen Jahres? Übrigens könnte es, scheint mir, auch gar nicht anders sein.) Zum Schluss die Stelle: „Anna Grigorjewna grüsst Sie und gedenkt Ihrer mit Herzlichkeit. Wir tollen jetzt mit unserer Ljubotschka herum. Ach, warum sind Sie nicht verheiratet und haben kein kleines Kind, lieber Nikolai Nikolajewitsch! Ich schwöre Ihnen, dass darin dreiviertel unseres Lebensglücks enthalten ist und in allem übrigen wohl nur ein Viertel. — Werde ich denn auch heute nicht die „Zarjá“ erhalten?“ — heisst es am Schlusse — „ich spitze schon die Lippen nach Ihrem Artikel ‚Die Frauenfrage‘ — was für ein Thema! Ich verspreche mir einen ausserordentlichen Genuss. Gerade Sie können darüber schreiben, wie es nötig ist usw.“

Dem Plan des Romans schien es beschieden zu sein, vielfache Änderungen der Ausführung und lange Verzögerungen zu erleiden. Schon am 5. April 1870 schreibt der Dichter gleich zu Anfang seines Briefes: „Ich will Ihnen offen und endgiltig sagen, dass ich, alles berechnet, den Roman auf keine Weise für die Herbsthefte versprechen kann oder zu versprechen wage.

Auf die Sache, welche ich jetzt für den Russkij Wjestnik schreibe, baue ich grosse Hoffnungen, aber nicht vom künstlerischen Standpunkt aus, sondern von dem der Tendenz. Ich habe Lust einige Gedanken herauszusagen, sollte dabei auch mein Künstlertum zu Grunde gehen. Aber es drängt mich, was sich alles in Geist und Herz bei mir aufgehäuft hat; mag ein Pamphlet daraus werden, ich spreche mich doch dabei aus. Ich hoffe auf Erfolg — übrigens, wer setzt sich denn zum Schreiben, ohne auf Erfolg zu hoffen?“ Weiter heisst es: „Ich beendige bald, was ich für den „Russkij Wjestnik“ schreibe, und werde mich mit Wollust zum Roman setzen. Die Idee zu diesem Roman lebt in mir schon drei Jahre, allein früher fürchtete ich mich im Auslande daran zu gehen; ich wollte dazu in Russland sein. Nun ist in drei Jahren vieles reif geworden, der ganze Plan des Romans; und ich denke, dass ich den ersten Teil desselben, d. h. jenen, welchen ich für die „Zarjá“ bestimmt, auch hier beginnen kann, da die Handlung viele Jahre früher beginnt. Beunruhigen Sie sich nicht darüber, dass ich von einem „ersten Teil“ spreche. Die ganze Idee verlangt einen grossen Umfang, mindestens einen so grossen, wie Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“. Aber, das wird fünf abgesonderte Romane bilden, und zwar so abgesonderte, dass einige davon (mit Ausnahme der zwei mittleren) sogar in verschiedenen Zeitschriften, als ganz selbständige Erzählungen oder, einzeln herausgegeben, als ganz vollständige Dinge werden erscheinen können. Der Gesamtname übrigens wird sein: „Das Leben eines grossen Sünders“, während die einzelnen Teile ihre besonderen Titel haben werden. Jeder Teil (d. h. Roman) wird nicht mehr als fünfzehn Bogen haben. Zum zweiten Teil muss ich schon in Russland sein. Die Handlung dieses Teils wird in einem Kloster vor sich gehen, und obwohl ich das russische Kloster vortrefflich kenne, so muss ich dennoch dazu in Russland sein. Ich würde überaus gern des näheren mit Ihnen darüber sprechen, aber was sagt man denn schriftlich? Ich sage noch einmal, für dieses laufende Jahr kann ich nichts versprechen; drängt Ihr mich nicht, so bekommt Ihr eine gewissenhafte Arbeit, vielleicht sogar eine gute. Wenigstens habe ich aus dieser Idee das Ziel meiner ganzen künftigen litterarischen Laufbahn gemacht, denn ich darf nicht länger als auf 6-7 Jahre Leben und Arbeit rechnen.

Möge die „Zarjá“ nicht unwillig darüber werden, dass sie neun Monate voraus Geld hergiebt; ich habe manchmal auch zwei Jahre voraus Geld bekommen .... um Eines bitte ich Sie ernstlich, Nikolai Nikolajewitsch, — wenn die Sache sich machen lässt, so benachrichtigen Sie mich, als alten Freund und Mitarbeiter, so schnell als möglich. Mein Elend wächst in solcher Weise, dass ich keine Zeit verlieren kann, um endlich sicher zu sein. Ich habe für Frau und Kinder zu sorgen und brauche ausserdem Ruhe und Sicherheit ....

Das Märzheft der „Zarjá“ habe ich mit grossem Vergnügen durchgelesen. Ich erwarte daher mit Ungeduld die Fortsetzung Ihres Artikels, um alles darin zu erfassen. Ich ahne, dass Sie H. hauptsächlich als Westler darstellen und vom Westen im Gegensatz von Russland sprechen wollen; ist es so?“ N. Strachow erläutert hier in einer Fussnote, dass es sich um seinen Artikel „Herzens litterarische Thätigkeit“ handle, dessen erster Teil in der dritten Nummer der „Zarjá“ im März 1870 erschienen war .... „Sie haben“, fährt Dostojewsky fort, „sehr treffend Herzens Hauptgesichtspunkt hingestellt — den Pessimismus; aber erklären Sie seine Zweifel (wer ist schuldig usw.) für unlösbar? Sie umgehen das, wie es scheint, und, wie es mir scheint, darum, weil Sie ganz speziell Ihren Hauptgedanken aussprechen wollen. In jedem Falle erwarte ich mit fieberhafter Ungeduld die Fortsetzung des Artikels; es ist ein allzu brennendes und zeitgemässes Thema. Wie wird das aber sein, wenn Sie beweisen werden, dass Herzen früher als viele andere gesagt hat, dass der Westen in Fäulnis begriffen ist? Was werden die Westler aus Granowskys Zeit dazu sagen? Ich weiss nicht, ob das bei Ihnen herauskommen wird, ich rate nur, nebenbei gesagt, obwohl ich in das Thema Ihres Artikels gar nicht eingehen will. Finden Sie nicht, dass es noch einen Gesichtspunkt für die Bestimmung und Feststellung des Wesentlichsten in Herzens grosser Thätigkeit giebt: nämlich den, dass er immer und überall vor allem Poet war. Der Poet hat in ihm überall, in allem, in seiner ganzen Thätigkeit die Oberhand. Er ist als Agitator: Poet, Politiker: Poet, Sozialist: Poet, als Philosoph im höchsten Grade: Poet. Das ist die Eigenart seiner Natur. Mir scheint, es könnte vieles in seiner Thätigkeit, sogar durch seinen Leichtsinn und seinen Hang zum Calembourg, auch in den höchsten sittlichen und philosophischen Fragen erklärt werden — was nebenbei gesagt, in ihm sehr widerwärtig ist.

Die Frauenfrage (Februarheft) haben Sie, meiner Ansicht nach, vortrefflich disponiert. Ihre Frage: warum ich in der „Zarjá“ ungenügendes Selbstvertrauen gefunden habe, will ich beantworten. Ich habe mich vielleicht nicht genau ausgedrückt, aber hören Sie: Sie sind allzu, allzu weich. Für diese Leute muss man schreiben die Peitsche in der Hand. In vielen Fällen sind Sie zu gescheit für sie. Würden Sie etwas zorniger, gröber über sie herfallen, so wäre es besser. Nihilisten und Westler brauchen definitiv die Peitsche. In den Aufsätzen über Tolstoj flehen Sie sie gleichsam an, Ihnen beizustimmen; in dem letzten Tolstoj-Artikel aber verfallen Sie in eine Art Niedergeschlagenheit und Entzauberung, gerade da, wo nach meiner Ansicht der Ton triumphierend und freudig bis zur Frechheit sein sollte. Nun, was glauben Sie — werden sie wirklich Ihren feinen brillanten Humor in den Briefen des Kosiza verstehen? — — Mit einem Wort: in einem solchen Tone nicht zu schreiben — ist Ihnen unmöglich; denn dieser Ernst, diese Liebe und Achtung für die Sache ist jetzt der Ton des Blattes, dieser Ton ist ein hoher, was sowohl schön ist, als auch den Kern der „Zarjá“ ausmacht. Allein manchmal muss man, denke ich, den Ton herabstimmen, die Peitsche in die Hand nehmen, nicht nur um sich zu verteidigen, sondern um viel gröber darein zu fahren. Das ist’s, was ich unter Selbstvertrauen verstand. Übrigens — vielleicht urteile ich falsch, vom Zorn geleitet. Die zwei Zeilen über Tolstoj, mit denen ich nicht ganz einverstanden bin, sind die, wo Sie sagen, dass Tolstoj allem gleichkommt, was nur Grosses in unserer Litteratur vorhanden ist.“ Hier folgt jene Stelle über Tolstoj, welche wir gelegentlich der Besprechung von Dostojewskys Kunst-Anschauungen anführten.

Einen Tag später, am 25. März 1870, nimmt Dostojewsky das Thema seines Romans in einem Briefe an Apollon N. Maikow, seinen ältesten und durch Bande persönlicher Freundschaft mit ihm verknüpften Jugendbekannten, wieder auf, dem er mehr über seine Pläne anzuvertrauen sich gedrungen fühlt. Nach einer Entschuldigung über sein langes Schweigen beginnt der Dichter mit der Aufzählung der ihn hindernden Leiden in der Fremde: „Erstens die Arbeit, zweitens aber die Gesundheit und die Ängstlichkeit, welche durch die Vereinsamung entstanden ist. Angst um die Gesundheit; ich hatte grosse Unruhe. Das Herz schlug sehr unregelmässig, und ich habe keinen Schlaf. Ich ging also doch zu einem Arzt, einem der berühmten Professoren; er hat mich ganz untersucht: durchaus nichts, nur Nerven, aber diese sind arg zerrüttet. Im Sommer sollte man von Dresden weg irgend wo hinausfahren, an das Meer etwa, ein wenig baden. Auch für die Frau wäre es gut — besser als alles wäre, ohne Widerrede, die Luft der Heimat; und alles, was Sie mir darüber in Ihrem Briefe sagten, ist goldene Wahrheit, Wahrheit über alle Wahrheiten. Aber, Apollon Nikolajewitsch, wissen Sie denn nicht, warum ich nicht zurückkehre und dieses verfluchte Ausland nicht fahren lasse? Wie kann ich denn ankommen und sofort in den Schuldarrest eintreten? Bis zu einem gewissen Zeitpunkt kann ich auf keine Weise zurückkehren; und denken Sie denn, dass ich nicht selbst Heimweh habe und mich nicht selbst mit ganzer Seele nach Russland sehne? Und wie meiner Frau bangt! Ist es mir denn heiter zu Mute, ihr Heimweh anzusehen?

Nicht genug an dem; ich weiss es apodiktisch, aus Fakten, dass meine Angelegenheiten in ökonomischer Beziehung dort dreimal besser stünden, als sie hier stehen. Diesbezüglich will ich mich endgiltig mit Ihnen aussprechen. Ich schwöre Ihnen, teurer Freund, dass ich mich nicht daran stossen wollte, dass man mich unbedingt in den Schuldarrest setzt — ich habe wohl schon anderes in meinem Leben gesehen! Ich sässe ein Jahr ab und kaufte mich los. Allein ich weiss, dass, wenn das früher (noch vor fünf Jahren) möglich war, es jetzt — das weiss ich ganz sicher — unbedingt unmöglich wäre. Mit meiner Gesundheit halte ich auch ein halbes Jahr Arrest nicht aus, und was die Hauptsache ist: arbeiten könnte ich nichts. Themata habe ich zum Schreiben — einen Haufen. Über das Schreiben hier in der Fremde aber reden Sie goldene Worte; ich werde thatsächlich abgetrennt, — nicht vom Zeitalter, nicht von der Kenntnis dessen, was bei Euch vorgeht — ich weiss das wahrhaftig besser als Sie, denn ich lese täglich drei russische Zeitungen, bis auf die letzte Zeile, und erhalte zwei Monatsschriften — aber von dem lebendigen Quell des Lebens werde ich abgetrennt; nicht von der Idee, sondern von ihrem Fleisch und Blut. Dieses aber, ach! wie sehr beeinflusst es die künstlerische Arbeit! Alles dies ist wahr, aber wie soll ich’s machen?“ ...

Und weiter: „Übrigens werde ich im Sommer ernstlich darüber nachdenken, wenn sich irgend eine Möglichkeit bietet. Jetzt arbeite ich für den „Russkij Wjestnik“. Ich bin dort in der Schuld, und indem ich den „Hahnrei“ in die „Zarjá“ gegeben, habe ich mich bei jenen in eine zweideutige Lage versetzt. Koste es, was es wolle, so muss ich für jene das vollenden, was ich jetzt schreibe. Ja, es ist ihnen auch fest von mir zugesagt worden; in der Litteratur aber bin ich ein ehrlicher Mensch. Das, was ich schreibe, ist eine tendenziöse Sache — ich habe das Bedürfnis, mich ein wenig hitziger auszusprechen. Da werden die Nihilisten und Westler über mich zu schreien anfangen, dass ich ein Reaktionär bin! Der Teufel sei mit ihnen — ich aber will mich bis aufs letzte Wort aussprechen. Und wissen Sie, in welchen Zweifeln ich stecke? Ich kann absolut nicht entscheiden, wird es Erfolg haben oder nicht? Bald scheint es mir, dass es ausserordentlich gut ausfällt und ich aus einer zweiten Auflage Geld ergattere, bald scheint es mir wieder, dass es ganz misslingt.“ [Es ist immer von den „Besessenen“ die Rede.] „Aber lieber ist es mir, ich falle ganz durch, als ich habe einen mittelmässigen Erfolg. Sie haben mir eins mit einem Knüttel aufs Haupt versetzt mit Ihrer Bemerkung über die „Anstrengungen der Vorstellungskraft“, die Sie im „Hahnrei“ gefunden haben. Was hat mir das für Sorge gemacht; indessen, wie Gott will. Ohne Hoffnung auf Erfolg ist es unmöglich mit Feuer zu arbeiten. Ich aber arbeite mit Feuer — folglich hoffe ich.“

Nach einer Stelle rein privater Natur folgt die Auseinandersetzung der geschäftlichen Lage des Dichters, welche mit den Worten beginnt: „Indessen aber bin ich jetzt in einer fürchterlichen Lage (Mister Micowber). Kein Heller Geld“ usw. Dann fährt er fort: „Das, was ich jetzt für den „Russkij Wjestnik“ schreibe, vollende ich sicherlich in drei Monaten. Dann, nach einem Monat Pause, würde ich mich zur Arbeit für die „Zarjá“ setzen. Ich habe jetzt 1½ Jahre in continuo nichts gearbeitet (den „Hahnrei“ zähle ich nicht), und das Schreiben ermüdet mich jetzt. Über dem, was ich für den „Russkij Wjestnik“ schreibe, werde ich nicht abgespannt werden; dafür verspreche ich der „Zarjá“ eine gute Sache.

Es sind schon zwei Jahre, dass sie für die „Zarjá“ in meinem Kopfe reift. Es ist dieselbe Idee, über welche ich Ihnen schon geschrieben habe: dies wird mein letzter Roman sein. Der Umfang von „Krieg und Frieden“; die Idee würden Sie gut heissen — soweit ich wenigstens nach meinen ehemaligen Gesprächen mit Ihnen schliesse. Dieser Roman wird aus fünf grossen Erzählungen bestehen, jede 15 Bogen stark. Die Erzählungen werden von einander vollkommen unabhängig sein, sodass jede einzelne verkauft werden kann. Die erste Erzählung bestimme ich eben für Kaschpirew [die „Zarjá“]; hier ist die Handlung aus den vierziger Jahren. Der gemeinsame Titel ist: „Das Leben eines grossen Sünders“, aber jede Erzählung wird ihren besonderen Namen haben. Die Hauptfrage, welche durch alle Teile gehen wird, ist dieselbe, mit der ich mich, bewusst und unbewusst, mein Leben lang herumgequält habe — das Dasein Gottes. Der Held ist im Lauf seines Lebens bald Atheist, bald ein Glaubender, dann Fanatiker und Sektierer, dann wieder Atheist.

Die zweite Erzählung wird in einem Kloster spielen. Auf diesen zweiten Teil habe ich alle meine Hoffnungen gesetzt. Vielleicht sagt man dann endlich, dass ich nicht nur leeres Zeug geschrieben habe. Ihnen allein will ich beichten, Apollon Nikolajewitsch; ich will in dieser Erzählung Tichon Zadonsky[28] als Hauptfigur hinstellen, natürlich unter einem anderen Namen, aber auch als Oberpriester, der seinen Ruhestand im Kloster verlebt. Ein 13jähriger Knabe, welcher an der Vollführung eines Kriminalverbrechens teilgenommen hat, begabt und verderbt (ich kenne diesen Typus), der künftige Held dieses Romans, wird von den Eltern im Kloster untergebracht (unsere gebildeten Kreise), auch des Unterrichts wegen. Das Wölflein und Nihilisten-Kindchen kommt mit Tichon zusammen (Sie kennen ja Tichons Charakter und ganzes Wesen). Hierher auch, setze ich Tschaadajew[29] (natürlich auch unter anderem Namen). Warum soll Tschaadajew nicht ein Jahr im Kloster sitzen? Nehmen Sie an, er habe es nach dem ersten Artikel, um dessenwillen ihn die Ärzte jede Woche begutachteten, nicht ausgehalten und z. B. im Ausland in französischer Sprache eine Broschüre gedruckt — es wäre ja sehr möglich, dass man ihn dafür auf ein Jahr ins Kloster gesetzt hätte. Zu Tschaadajew können auch andere auf Besuch kommen: Belinsky z. B., Granowsky, sogar Puschkin. (Ich habe ja, wie Sie wissen, keinen Tschaadajew, nehme nur diesen Typus in den Roman.) Im Kloster befinden sich auch Paul Prussky, Golubow und der Mönch Parfeny. In dieser Welt bin ich ein Kenner, ich kenne das russische Kloster von Kindheit an. Aber die Hauptsache bleiben: Tichon und der Kleine. Teilen Sie ja niemand den Inhalt dieses zweiten Teiles mit. Ich erzähle niemals irgend jemand meine Themen voraus, mir ist, als müsste ich mich schämen; Ihnen aber beichte ich. Für andere mag das keinen Groschen wert sein, für mich ist’s ein Schatz. Über Tichon sprechen Sie nicht. Über das Kloster habe ich an Strachow geschrieben, aber über Tichon nicht. Vielleicht führe ich da eine grossartige, unbedingt heilige Figur aus. Das ist schon kein Kostanschoglo[30], kein Deutscher (habe den Namen vergessen) aus dem Oblomow, keine Lopuchows und Rachmetows[31]. Allerdings, ich werde nichts erschaffen, sondern nur den wirklichen Tichon hinstellen, den ich vor langer Zeit mit Entzücken in mein Herz genommen. Aber ich werde mir auch das, wenn es gelingt, als eine wichtige That anrechnen. Sagen Sie’s also niemand.

Für den zweiten Teil jedoch, für das Kloster, muss ich in Russland sein. Ach, wenn es gelänge! Die erste Erzählung aber — bringt die Kindheit des Helden. Natürlich nicht Kinder sind im Vordergrund; der Roman hat begonnen. Dieses nun kann ich ganz gut in der Fremde schreiben; ich schlage dies der „Zarjá“ vor. Sollten sie ablehnen? Ja, und 1000 Rubel, Gott weiss, wie wenig das ist! Wie sie wollen? wenn sie so handeln, werden sie alles und alle aus der Hand lassen. Übrigens ist’s ihre Sache. Ich habe gestern an Strachow geschrieben und so schnell als möglich um Entscheidung gebeten. Sonst muss ich ohne Verzug etwas anderes unternehmen“ usw.

Aus allem, was hier der Dichter über den Plan seines „letzten Romans“ [der ja wirklich sein letzter geworden ist] seinem Freund Maikow „beichtet“, in Verbindung mit seinen früheren Andeutungen über den Atheismus und dem endlich vor uns erstehenden grössten Roman Dostojewskys „Die Brüder Karamasow“, empfangen wir ein ziemlich deutliches Werdebild dieser Arbeit. Wir sehen, wie viele Wandlungen die Ausführung, ja sogar die Fabel im Laufe der Jahre erfahren, wie zäh jedoch die Grundidee festgehalten ist, die in jenem zweiten Teil wirklich offen daliegt, von dem sich der Dichter mit Recht so viel versprochen hat. Die ursprüngliche Idee, seinen Helden erst Atheist, dann frommgläubig, fanatisch und wieder Atheist werden zu lassen, hat er indessen niemals ganz ausgeführt. Wie uns sowohl die Gattin des Dichters als auch sein um vieles jüngerer warmer Freund W. S. Solowiew mitteilte, hatte der Dichter wirklich eine Fortsetzung des Romans als Abschluss von des Helden Lebensweg geplant und sich auch gegen diese ihm nahestehenden Menschen darüber ausgebreitet; wir kommen hierauf gelegentlich der Besprechung dieses Werkes zurück. Aber auch schon in den ersten Teilen des Romans scheint der Dichter bei mancher Gestalt, ja sogar beim Helden Aljoscha die ursprünglichen Absichten modifiziert zu haben. Die „Verderbtheit“ des jungen Helden hat er da in eine Zeit vor dem Roman verlegt, in das zarte Alter, da junge Wesen ohne Sünde sündigen, sodass uns allerdings in seiner heutigen Gestalt Aljoscha eher als die Verkörperung des naiven Gottesglaubens erscheint. Dessen Antithese bildet Iwan mit seinem Grossinquisitor, der Betrachtung über die Kinder und der Teufelshallucination, während Sosima die beglückende Synthese in sich darstellt. In den „Memoiren aus einem Totenhause“ hat Dostojewsky den Eindruck der Jünglingsgestalt verewigt, die ihm wohl auch bei der Bildung Aljoschas in seiner Reinheits-Phase halb unbewusst mag vorgeschwebt haben. Allerdings hat die Bedachtsamkeit des Schaffenden es nicht unterlassen, das lebensvolle Menschenbild hier mit einem Tropfen Karamasowschen Atridenblutes zu versetzen. Allein wer, der jene Schilderung des dagestanschen Jünglings Alej liest, würde nicht sofort an Aljoscha erinnert?

Der Schluss des Briefes vom 6. April 1870 lautet: „Über den Nihilismus ist nichts zu sagen. Wartet nur ab, bis diese oberste Schichte jener, die sich vom Boden Russlands abgetrennt haben, gänzlich verwest. Wissen Sie was? Mir kommt’s oft in den Sinn, dass viele von diesen nämlichen, niederträchtigen Jungen damit enden, dass aus ihnen wirkliche, feste, russische Ur-Nationale werden. [Das hier gebrauchte unübersetzbare Wort: „Potschwenniki“ bedeutet genauer: „am nationalen Boden Haftende“; die Anhänger dieser Richtung wurden mit diesem Namen bezeichnet.] Nun, die übrigen — mögen sie verwesen. Es wird damit enden, dass auch sie verstummen, in der Paralyse verstummen. Nichtswürdige sind sie immer!“ — —

Am 9. Juni schreibt Dostojewsky an Strachow: „Ich danke Ihnen für Ihren Brief, mein Bester. Sie schreiben immer so kurze Briefe, welche aber die Eigentümlichkeit haben mich aufzuregen. Ihre Meinung über Ihre kritische Thätigkeit finde ich unzureichend und unrichtig. Erstens denke ich so: wären jetzt Ihre Kritiken nicht da, so bliebe bei uns in der ganzen Litteratur ja gar niemand, welcher die Kritik als eine ernste und streng unentbehrliche Sache ansähe. Es bliebe sogar keiner der Kritiken Schreibenden, welcher die Notwendigkeit einer regelrechten philosophischen Betrachtung gegenwärtiger und vergangener Dinge (und die Achtung davor) halbwegs würdigte, folglich also auch die Kritik, d. h. seine eigene Arbeit würdigte. Und so haben Sie vor allem diesen strengen und philosophischen Blick auf die Kritik, den die anderen nicht haben, was die „Zarjá“ zur einzigen Zeitschrift stempelt, die eine Kritik und die richtige Anschauung dafür hat. Wenn also auch nur dies für Euch spräche, so wäre das schon ungeheuer viel.

Ferner aber, erlauben Sie, dass ich Ihnen das sage: dass die Einflüsse nicht schnell zu Tage treten, dass der Unsinn unserer heutigen Gesellschaft doch einen Sinn hat, d. h. sein eigenes Bewegungsgesetz, und dass Sie endlich nicht einmal irgend eine Möglichkeit haben, die unmittelbare Nützlichkeit Ihrer Artikel und die Frage zu beurteilen, ob sie thatsächlich nur für jene geschrieben sind, „die ohne Sie auch schon so gedacht haben“. Das ist nicht richtig.

Hier haben Sie nun, meiner Vorstellung nach, ein gewisses Mass für die Beurteilung Ihres Einflusses: die Zeitschrift „Zarjá“ ist vor allem ein Blatt für Tendenz und Kritik. Die Zahl der Abonnenten wird nach 2 bis 3 Jahren auch den Einfluss des Blattes im Publikum ausdrücken, damit aber unzweifelhaft auch den Einfluss der Kritik, weil diese der Hauptzug des Blattes ist, ihre besondere Spezialität für das Publikum. Auf diese Weise spricht sich dieses immer, wenn auch unbewusst, aus.

Aber denken Sie nur: ich hatte gemeint, Sie würden Struwe loben! Wenigstens um der guten Absicht willen. In der Philosophie bin ich etwas schwach (aber nicht in der Liebe zu ihr; da bin ich stark). Übrigens hat mir selbst, als ich Struwes Dissertation aufmerksam las, die Materialität der Seele herausgeschienen. Die Dissertation aber war mir hauptsächlich darum interessant, weil ich ahnte, dass dies gerade die gegenwärtige, neueste Denkweise der deutschen Philosophie sei. Allein wissen Sie, Nikolai Nikolajewitsch, man wird Sie ja für einen zurückgebliebenen Alten nehmen, der sich noch mit Pfeil und Bogen bewaffnet, während bei ihnen schon lange das Schiessgewehr im Gang ist. Was mich betrifft, so habe ich Ihren Artikel zweimal und mit Hochgenuss gelesen. Ausserdem verstehen Sie es wunderbar, zu schreiben. Ihre Litteratursprache ist schöner, als die aller anderen. Das aber, Sie mögen sagen, was Sie wollen, kann endlich nicht anders als bemerkt werden. Ich habe mich sehr darüber gefreut, wie Sie sich verächtlich gegen die gegenwärtige Manier des Philosophierens verhalten, und würde es sehr wünschen, dass man Ihnen antwortete. Aber, was für ein ausgelassener Ton ist doch in der gesamten heutigen Litteratur! Die Unordnung und Verwirrung in den Ideen — nun, Gott mit ihnen — die musste ja kommen; aber dieser allgemeine Ton! Welche Ausgelassenheit, welche Trivialität! Und nicht ein einziger, zu eigen gemachter fester Gedanke, was immer für einer, wenn auch ein falscher! Was sind das für Philosophen, was für Feuilletonisten. Der reine Quark. Dafür giebt es aber Einzelne, welche sowohl denken als auch Einfluss besitzen — und so geht es immer, bei jedem Durcheinander. Es sollen nur einmal diese Einheiten die Albernheit des Publikums überwältigen, und Sie werden sehen, dass es endlich ihren Ton annimmt. Apropos: wer ist der junge Professor, der mit seinen Leitartikeln im „Golos“ Katkow vollkommen geschlagen hat, sodass man diesen gar nicht mehr liest? Den Namen dieses Glücklichen! Schreiben Sie mir ihn, um alles, so schnell als möglich teilen Sie ihn mit!“[32]

„Ja, noch eins“ — heisst es im nächsten Briefe — „ich wollte Sie schon lange fragen: kennen Sie vielleicht Leo Tolstoj persönlich? Wenn Sie ihn kennen, bitte, schreiben Sie mir, was es für ein Mensch ist. Es ist mir ungemein interessant, irgend etwas über ihn zu erfahren. Ich habe sehr wenig über ihn als Privatperson erfahren.

Ich schreibe für den „Russkij Wjestnik“ mit grossem Eifer und kann durchaus nicht erraten, was herauskommt. Noch niemals habe ich ein solches Thema, niemals etwas in dieser Art aufgenommen. — Dabei quäle ich mich mit dem Gedanken ab, um meine Übersiedlung nach Russland einzurichten; ich werde alle Kräfte daran setzen. Ach, es ist mir so unerträglich, in der Fremde zu leben, dass ich es gar nicht wiedergeben kann!

Von den mir gesandten 500 Rubeln — heisst es weiter — liess ich mir nur das Nötige bis zum 15. Mai übrig. Da sind nun aber zwei Wochen darüber hinaus vergangen; die Miete, der Krämer, der tägliche Unterhalt, alles ist ins Stocken geraten; zum Überfluss ist noch das Kind erkrankt, und der Arzt kommt ins Haus. Sie können sich nicht vorstellen, wie das auf meine Beschäftigung Einfluss nimmt, von allem anderen gar nicht zu sprechen. Ich bin manchmal mehrere Tage hindurch zur Arbeit ganz unfähig. Wenn schon bei der ersten Sendung (der versprochenen 100 Rubel monatlich) eine solche Ungenauigkeit herausgekommen ist, was wird dann in der Folge mit den anderen Anweisungen geschehen? Jetzt aber ist es Sommerszeit, alles ist auf dem Lande, es ist völliger Stillstand; mich wird man ganz vergessen. Ich aber kann nur im Winter auf irgend eine Sendung ausser der „Zarjá“ rechnen. Was soll ich also thun? Dann soll man mir aber keine Vorwürfe machen, wenn auch ich nicht pünktlich bin. Ich schwöre Ihnen, wie lächerlich es auch sei, dass die Pünktlichkeit der Sendung für mich fast wichtiger ist als das Geld selbst. Am Ende kommt doch irgend welches Geld von irgend wo an; aber die Ruhe, die Möglichkeit sich von Sorgen zu befreien, wenn auch nur für die Zeit der Arbeit — kehrt nicht wieder, das ist bereits ruiniert“ usw. ...

„Ich habe hier zufällig den heurigen Jahrgang des „Wjestnik Ewropy“ in die Hand bekommen und alle Nummern durchgesehen. Ich war verblüfft. Ist es denn möglich, dass eine bei uns noch nie dagewesene Mittelmässigkeit — wenn man etwa die „bulgarische nordische Biene“ ausnimmt — einen solchen Erfolg haben konnte (6000 Exemplare und eine zweite Auflage). Da sehen Sie, was es heisst, allen zu Gehör reden. Was für eine Anpassung an die Meinung der Gasse, die allerletzte Schablone des Liberalismus! Das also, heisst das, hat bei uns Erfolg! Die Ausgabe ist übrigens geschickt: am ersten jeden Monats und — Schriftsteller in Fülle. Ich habe unter anderem „Die Hinrichtung Tropmans“ von Turgenjew durchgelesen. Sie können anderer Meinung sein — mich aber hat dieser aufgeblasene und kleinliche Aufsatz aufgebracht. Warum wird er immer verwirrt und behauptet, kein Recht zu haben, da zu sein? Freilich, wenn er nur als Zuschauer zu einem Schauspiel gekommen. — Aber kein Mensch, der auf der Erdoberfläche lebt, hat das Recht, sich abzuwenden und das zu ignorieren, was auf der Erde vorgeht, und dafür giebt es die höchsten sittlichen Gründe. „Homo sum et nihil humanum“ usw. ... das Komischste von allem ist, dass er sich endlich abwendet und im letzten Moment es nicht zu sehen bekommt, wie man hinrichtet: „Seht, meine Herren, wie zart ich erzogen bin! Ich habe es nicht aushalten können!“ Übrigens giebt er sich ganz aus. Der Haupteindruck des Artikels als Endergebnis ist — eine schreckliche, bis zur äussersten Kleinlichkeit getriebene Sorge, um sich selbst, um die eigene Ganzheit und die eigene Ruhe, und das alles angesichts eines abgeschlagenen Hauptes. Speien soll man übrigens auf sie alle. Sie langweilen mich furchtbar. Ich halte Turgenjew für den ausgeschriebensten aller ausgeschriebenen russischen Schriftsteller — was immer Sie auch „in Sachen Turgenjews“ schreiben mögen. — Sie müssen schon verzeihen. — —

Anna Grigorjewna grüsst Sie. Sie ist ganz herabgekommen, sowohl durch das Stillen des Kindes als durch die Sorgen. Und auch noch diese Verdriesslichkeiten!“

Nach einer Unterbrechung von mehreren Monaten spricht Dostojewsky (21. Oktober 1870) seine Freude über den wieder aufgenommenen Briefwechsel aus: „Niemals habe ich Menschenverkehr so sehr gewürdigt, als jetzt in meiner abscheulichen Vereinsamung. Die Hoffnung, im Herbste nach Petersburg zurückzukehren, hat sich nicht erfüllt; die Mittel waren ungenügend. Wir mussten uns entschliessen, sie abermals bis zum Frühling zu verschieben und uns noch einen Winter in Dresden durchzuquälen.

Ich habe Ihnen bis jetzt nicht geantwortet, weil ich buchstäblich, ohne den Kopf zu erheben, hinter meinem Roman für den „Russkij Wjestnik“ sitze. Es ging so schlecht von statten, es musste vieles so oft umgearbeitet werden, dass ich mir endlich das Wort gab, nicht nur nicht zu lesen und nicht zu schreiben, sondern auch nicht um mich zu schauen, ehe ich beendige, was ich mir aufgegeben habe. Und das ist ja erst der allererste Anfang! Allerdings ist schon viel aus der Mitte des Romans aufgeschrieben, vieles ausgemerzt (nicht mit Stumpf und Stiel, versteht sich). Nichtsdestoweniger sitze ich noch über dem Anfang. Ein schlechtes Zeichen; und dennoch möchte man etwas besseres machen. Man sagt, Ton und Manier müssten sich bei einem Künstler ganz von selbst erzeugen; das ist wahr, aber manchmal verirrst du dich in ihnen und suchst sie. Mit einem Wort, niemals hat mir irgend etwas grössere Mühe gemacht. Anfangs, d. h. zu Ende des vorigen Jahres, sah ich auf diese Sache als auf eine herausgequälte, gemachte Sache von oben herab. Später kam wirklich Begeisterung über mich. Abermalige Veränderung: es tauchte noch eine neue Persönlichkeit mit der Prätension auf, der wirkliche Held des Romans zu werden, sodass der erste Held — eine interessante, doch den Namen Held nicht rechtfertigende Figur — auf den zweiten Plan zu stehen kam. Der neue Held fesselte mich so sehr, dass ich abermals an die Umarbeitung ging. Und nun, da ich schon den Anfang an die Redaktion des „Russkij Wjestnik“ gesandt habe — bin ich plötzlich erschrocken: ich fürchte ein Thema gewählt zu haben, das über meine Kraft geht; ernstlich fürchte ich es, mit Qualen! Dabei aber habe ich ja den Helden nicht aufs geradewohl eingeführt. Ich habe seine ganze Rolle voraus im Plan des Romans aufgeschrieben (mein Plan umfasst mehrere Druckbogen), der ganz und gar aus Scenen, d. h. Geschehnissen und nicht aus Erwägungen besteht. Darum, denke ich, wird eine Persönlichkeit herauskommen, ja vielleicht eine neue. Ich hoffe, aber ich fürchte! Es ist endlich Zeit, auch irgend etwas Ernstes zu schreiben. Vielleicht aber falle ich ganz hinein. Wie immer es ausfallen möge, es heisst schreiben: denn mit diesen Umarbeitungen habe ich überaus viel Zeit verloren und schrecklich wenig geschrieben.

Über den „Wjestnik Ewropy“ und seine Erfolge ist nichts zu sagen, als dass es das Blatt der Petersburger Beamten und allen mundgerecht ist (im trivialen, nicht im populären Sinne des Wortes); das Blatt konnte nicht anders als Erfolg haben ... Ihr Artikel über Polonsky hat mir ungemein gefallen. Unbestreitbar ist es ein wichtiges Thema: worin die eigentliche Poesie besteht. Aber es wäre, scheint mir, noch besser, wenn Sie sich darüber ausgebreitet hätten, was eigentlich die falsche, gezierte Poesie ausmacht. Ich versichere Ihnen, Nikolai Nikolajewitsch, dass das jetzige Publikum lange nicht mehr das ist, was es zur Zeit unserer Jugend gewesen. Der jetzigen Jugend muss man vieles aufs neue auseinandersetzen. Seien Sie etwas härter, damit werden Sie anderen und sich viel Nutzen bringen. Übrigens — was lehre ich Sie denn! Sie sind mir eben teuer. Nicht umsonst schneide ich zu allererst Ihren Artikel im Buche auf; der Tag, an dem ich ein Heft mit Ihrem Artikel erhalte, ist ein Feiertag für mich.

Wie ist Ihre Gesundheit? Ich kann mich grosser Gesundheit nicht rühmen — das ist das Zuwidere! Jetzt kommt für mich ein Winter angestrengter Arbeit bei Tag und Nacht. Ich will bis zum Frühling alles bewältigt haben. Das ist die einzig mögliche Art zu arbeiten: nämlich ohne aufzuatmen — sonst kommt man nicht zu Ende. Ich führe ein langweiliges und äusserst regelmässiges Leben. Ich mache täglich einen Spaziergang, lese einige Zeitungen, worunter russische. Nach meiner Meinung werden alle diese gegenwärtigen, erschütternden Ereignisse eine unmittelbare Einwirkung auch auf unser russisches Leben haben, also auch auf die Litteratur. In jedem Falle sind es ungewöhnliche Zeiten. Ich denke nicht, dass die Litteratur in ihrem Einfluss und ihrer Bedeutung verloren hat. Im Gegenteil, sie wird in jedem Falle gewinnen; aber wenn man liest, z. B. russische Zeitungen, so fühlt man, bis zu welchem Grade das alles frühreif und ohne eigene Gedanken ist, ausser den „Moskowskija Wjedomosti“ natürlich. Werden Sie mir nicht irgendwie antworten, teurer Nikolai Nikolajewitsch? Beglücken werden Sie mich. Ich aber verspreche, dass ich pünktlich sein werde.“

Im nächsten Briefe vom 14. Dezember wiederholt der Dichter seine Klage über die Schwierigkeiten, die er bei der Arbeit des Romans zu bekämpfen habe. Es ist dies der Roman „Die Besessenen“, dessen wir schon wiederholt erwähnten.

Der Wunsch, die nihilistische Richtung auf künstlerischem Wege zu brandmarken, hat hier dem Dichter ein schweres Stück Arbeit aufgenötigt, dem sich von vornherein das Positive, das in jeder grossen Kunst und jedem grossen Künstler steckt, entgegensetzen musste. Er musste, um seine Geissel so hart und schwer als möglich zu flechten, um sie so unerbittlich auf die Nacken der „Gottlosen“ niedersausen zu lassen, diesen „Besessenen“ auch jeden menschlichen Zug rauben, jede Anwartschaft auf Sympathie entziehen, musste ihnen sowohl in ihren Zielen, als in ihren Mitteln nur das Ruchloseste zuschreiben und dem Leser solche Scheusale glaubwürdig machen, er, der sein Leben lang den göttlichen Funken im Herzen des vertierten Verbrechers suchte und zu finden verstand. Das Unwahre, Dostojewskysch Unwahre, das dieser Arbeit zu Grunde liegt, diese Spaltung seines Urwesens konnte ihm nicht gelingen und musste ihn mit grossem Unbehagen erfüllen. Dennoch weist der Roman, namentlich in seinem ersten Teil und am Ende, künstlerisch grosse Schönheiten auf, von den tiefen philosophischen Problemen zu schweigen, welche zu dem Ergebnis führen, dass der aufrichtige Atheismus, je nach der sittlichen Person, die er ergreift, im Mord oder Selbstmord seinen Abschluss findet.

In den Mund Stepan Trofimowitsch’, den geistreich-sentimentalen Litteraten der vierziger Jahre, eine der köstlichsten Figuren des Dostojewskyschen Humors, legt der Dichter, wie er das so gerne thut, das Resumé des Buches, seine Wahrheit nieder. Da dieses grosse, eitle, ‚genialische‘ Kind in einer fremden Herberge erkrankt und von einem armen, Evangelien verkaufenden Frauenzimmer gepflegt wird, das er ‚ma chère innocente‘ oder ‚chère et incomparable amie‘ nennt, da fällt ihm plötzlich ein, sie solle ihm „von den Säuen“ vorlesen; „de ces cochons“ — „ich erinnere mich: die Teufel fuhren in die Säue und alle sind ersoffen. Lesen Sie es mir unbedingt, ich will Ihnen dann sagen, warum. Ich will mich wörtlich daran erinnern, wörtlich will ich es haben.“ — — Nun liest Sofja Matwejewna die Stelle aus dem Evangelium Lucae, VIII, 32, 33, welche der Dichter als Motto vor sein Werk gesetzt hat:

„Es war aber daselbst eine grosse Herde Säue an der Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaubte, in dieselbigen zu fahren. Und er erlaubte es ihnen.

Da fuhren die Teufel aus dem Menschen und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich mit einem Sturm in den See und ersoff.“

„Meine Freundin,“ sagte am Schluss Stepan Trofimowitsch in grosser Aufregung, „savez-vous, diese wunderbare .... ungewöhnliche Stelle war mir mein ganzes Leben lang ein Stein des Anstosses .... dans ce livre .... so, dass ich mich an diese Stelle seit meiner Kinderzeit erinnere. Jetzt aber ist mir ein Gedanke gekommen — une comparaison. Mir kommen jetzt schrecklich viele Gedanken: sehen Sie, das ist Punkt für Punkt unser Russland. Diese Teufel, die aus dem Kranken heraus in die Säue fahren, das sind alles die Gifte, die Miasmen, alle Unreinigkeit, alle Teufel und alle Teufelchen, welche sich in unserem grossen, teueren Kranken, in unserem Russland angesammelt haben, seit Jahrhunderten, seit Jahrhunderten! Oui, cette Russie, que j’aimais toujours! Aber ein hoher Gedanke und ein hoher Wille beschützen es von oben, wie diesen sinnlosen Besessenen, und es werden alle diese Teufel aus ihm fahren, alle diese Unreinigkeit, all’ diese Abscheulichkeit, die sich auf der Oberfläche angefault hat ... und sie werden selbst darum bitten, in die Säue zu fahren. Ja, und sie sind vielleicht schon hineingefahren! Das sind wir, wir und die andern, Pjetruscha ... et les autres avec lui ... und ich vielleicht der Erste darunter; und wir Sinnlosen und Besessenen werden uns vom Felsen ins Meer stürzen und werden alle ersaufen; denn dahin geht unser Weg, weil unsere Kraft ja nur dazu ausreicht. Allein der Kranke wird genesen, „sitzen zu den Füssen Jesu“ ... und alle werden es mit Verwunderung schauen ... Liebe, vous comprendrez après, jetzt aber erregt mich das alles sehr ... Vous comprendrez après ... Nous comprendrons ensemble.

Wir kehren zur Korrespondenz der letzten Zeit im Auslande zurück und nehmen nur die markantesten Stellen einzelner Briefe hier heraus. Da ist noch am Schlusse des Briefes vom 2. (14.) Dezember 1870 an Strachow die Stelle: „Turgenjews ‚König Lear‘ hat mir gar nicht gefallen. Ein aufgeblähtes, hohles Ding. Der Ton niedrig. Ich sage das nicht aus Neid, weiss Gott!“

In einem Briefe an A. Maikow vom 30. Dezember 1870 finden wir ausser den uns bekannten geschäftlichen Erörterungen am Schlusse eine Stelle, welche als Illustration von Dostojewskys unkritischem Pessimismus in Dingen der europäischen Nationalitäten bezeichnend ist. Finden wir den Dichter in Frankreich mit den Franzosen, in Genf mit den Schweizern höchst unzufrieden, so ist seine Missgunst gegen Deutsche und Deutschland, so lange er dort lebt, ganz genügend, um sich wieder einmal der Franzosen anzunehmen. Man fühlt an solchen Äusserungen das ganz subjektive, vom Augenblick bestimmte Urteil auf dem, allerdings einheitlichen, Untergrunde des „Nichteuropäers“. Er spricht zuerst von seiner Heimkehr, die sowohl er als auch Anna Grigorjewna nicht mehr erwarten können, und fährt fort:

„Strachow schreibt mir, dass in unserer Gesellschaft noch alles furchtbar jugendlich-grün ist. Wenn Ihr wüsstet, wie sehr das von hier aus ersichtlich ist! Aber wenn Sie wüssten, was für einen blutigen Hass, bis zum Abscheu, Europa in diesen vier Jahren in mir hervorgerufen hat! Du lieber Gott, was hat man bei uns für Vorurteile über Europa! Nun, ist jener Russe nicht ein Säugling (das sind aber fast alle), welcher daran glaubt, dass der Preusse durch die Schule gesiegt hat? Das ist sogar schamlos: eine schöne Schule, welche quält und plündert wie eine Hunnenhorde (wenn nicht noch ärger?).

Sie schreiben, dass sich jetzt in Frankreich der Geist der Nation gegen die brutale Macht erhebt? Daran habe ich von allem Anfang an nie gezweifelt; und wenn sie dort keine Böcke schiessen, indem sie Frieden schliessen, sondern noch drei Monate ausharren, so werden die Deutschen hinausgejagt und dann — welche Schande! Da hätte man viel zu schreiben — und ich könnte Ihnen viel Interessantes aus eigener Anschauung mitteilen: z. B. wie die Soldaten von hier aus nach Frankreich aufbrachen, wie man sie zusammenruft, ausrüstet, verpflegt und fortführt. Das ist ungeheuer interessant. Ein armseliges Weiblein zum Beispiel, das davon lebt, dass sie zwei Stübchen aufnimmt, sie einrichtet und dann vermietet (sie besitzt also um ein paar Groschen Einrichtungsstücke), wird, da sie eigene Möbel hat, verpflichtet, auf ihre Rechnung zehn Soldaten aufzunehmen und zu beköstigen. Die bleiben drei Tage, zwei Tage, einen Tag, selten eine Woche. Aber das kommt sie ja auf 20-30 Thaler. — Ich selbst habe einige Briefe von jungen deutschen Soldaten, die vor Paris standen, an ihre hiesigen Angehörigen (Krämer, Marktweiber) gelesen. Herrgott, was schreiben die! Wie sind sie krank, wie hungrig!

Es wäre viel zu erzählen. Unter anderem folgende Beobachtung: Anfangs wurde die Wacht am Rhein sehr oft auf der Strasse in der Menge gesungen — jetzt gar nicht mehr. Am allermeisten erhitzen und brüsten sich die Professoren, Doktoren, Studenten, das Volk aber — nicht besonders; sogar durchaus nicht. Ich begegne jenen an jedem Abend in der Lesehalle. Einer mit einem schneeweissen Kopfe, ein einflussreicher Gelehrter, schrie vorgestern sehr laut: „Paris muss bombardiert werden!“ Das sind die Ergebnisse ihrer Gelehrsamkeit; wenn nicht der Gelehrsamkeit, so — der Dummheit. Mögen sie Gelehrte sein, doch sind sie schreckliche Dummköpfe! Noch eine Beobachtung: Das ganze hiesige Volk kann lesen und schreiben, ist aber unglaublich ungebildet, dumm, stumpf, von den untergeordnetsten Interessen erfüllt“ usw.

Im nächsten Briefe setzt der Dichter seine kritiklosen Kritiken fort und es fällt dabei ein Streiflicht auf Russlands Verhältnis zu Frankreich, das wegen seiner heute völlig veränderten Gestalt einen Kommentar zu den Ironieen der Geschichte zu bieten vermöchte. Es heisst da (30. Januar 1871): „— — Was Sie über unsere Gesellschaft sagen, habe ich mit Kummer in Ihrem Briefe gelesen; und was man von den deutschen Angelegenheiten denken soll, das wissen Sie selbst. Mehr Lug und Trug kann man sich ja gar nicht vorstellen. Mit dem Schwerte wollen sie Napoleons Thron wieder aufrichten, indem sie sich ihn und seine Nachkommenschaft für alle Ewigkeit zu Sklaven machen wollen, ihm aber dafür die Erbfolge sichern, d. h. also: alles, was er nur braucht — das ist klar. Sie werden sehen: wenn auch eine National-Versammlung tagen wird, so werden sie dieselbe durch die Unmässigkeit ihrer (ausgeklügelten) Forderungen zwingen, damit nicht einverstanden zu sein und dann — werden sie den Napoleon proklamieren.

Erinnern Sie sich an den Text des Evangeliums: ‚Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen?‘ Nein, was durch das Schwert aufgebaut ist, wird nicht bestehen! Und nach dem schreien sie „Jung Deutschland“. Umgekehrt — es ist eine Nation, die ihre Kraft verbraucht hat — denn nach einem solchen Geist, nach einer solchen Wissenschaft sich der Idee des Schwertes, des Blutes, der Gewalt anvertrauen und nicht einmal ahnen, was Geist und Geistessieg ist, und darüber mit korporalsmässiger Grobheit lachen, was ist das anders. Nein, das ist eine tote Nation, eine Nation ohne Zukunft. Wenn sie aber lebendig ist, so wird sie, glauben Sie mir, nach dem ersten Taumel in sich selbst einen Protest erstehen sehen, ein Streben zum Besseren, und das Schwert wird von selbst fallen.

Und noch das: Die materielle Erschöpfung Deutschlands ist so gross, dass es kaum mehr vier Monate Widerstand aushalten wird. Wenn sie von Frankreich zurückkommen, werden sie uns anfangs ein, zwei Jahre schön thun! Übrigens kann es geschehen, dass sie sich irgendwie schon früher gröblich verschnappen.

Gott schütze den Zar und Russland — aber für Europa ist die Zukunft wirklich kritisch.“

Wenden wir uns wieder der positiven und fruchtbaren Seite von Dostojewskys vaterländischer Thätigkeit zu. In einem Briefe vom 14. März 1871 an Apollon Maikow sagt der Dichter: „Ihr schmeichelhafter Ausspruch über den Anfang meines Romans hat mich in Entzücken versetzt. Gott, wie habe ich gefürchtet und wie fürchte ich noch! Wenn Sie dies lesen, werden Sie wahrscheinlich auch schon die zweite Hälfte des ersten Teils im Februarheft des „Russkij Wjestnik“ gelesen haben. Was werden Sie sagen? Ich fürchte, ich fürchte. Was das weitere anbelangt, so bin ich einfach in Verzweiflung, ob ich’s zurecht bringe. — Nebenbei gesagt: das Werk wird ja im ganzen vier Teile haben — 40 Bogen. Stepan Trofimowitsch wird eine Nebenfigur sein. Der Roman wird gar nicht von ihm handeln, allein seine Geschichte ist eng mit den übrigen (Haupt-) Vorgängen des Romans verknüpft, und darum habe ich ihn gleichsam zum Eckstein des ganzen genommen. Immerhin aber wird Stepan Trofimowitsch im vierten Teile sein Benefiz haben. Hier wird das sehr originelle Ende seines Schicksals Platz finden. Für alles andere stehe ich nicht, aber für diese Stelle verbürge ich mich von vornherein. [Wir haben gesehen, wie richtig diesmal des Dichters Empfindung und Urteil war.]

Aber ich wiederhole noch einmal, ich fürchte mich, wie eine geschreckte Maus. Die Idee hat mich berückt, und ich habe sie furchtbar leidenschaftlich erfasst. Komme ich aber durch, oder ist der ganze Roman ein .....? Das ist das Elend.

Stellen Sie sich vor, dass ich schon aus aller Welt verschiedene Glückwunsch-Schreiben über den Anfang erhalten habe. Das hat mir sehr, sehr viel Mut gemacht. Allein, ohne Ihnen zu schmeicheln, sage ich gerade heraus, dass Ihre Äusserung mir wertvoller ist als alles andere.“ Hier muss man sich erinnern, dass Strachow nur die erste Hälfte des ersten Teiles gelesen hatte, worin eben Stepan Trofimowitsch die Hauptrolle spielt. „Erstens“ — fährt Dostojewsky fort — „werden Sie mir ja nicht schmeicheln, und zweitens ist in Ihrer Auseinandersetzung ein genialer Gedanke hervorgesprungen: „Das sind Turgenjews Helden im Alter“. Das ist genial! Während ich schrieb, dämmerte mir selbst etwas Ähnliches. Sie aber haben es mit drei Worten, als wie mit einer Formel bezeichnet. Ich danke Ihnen für diese Worte. Sie haben mir das ganze Werk beleuchtet.

Ich habe mich entschlossen, unbedingt im Frühling heimzukehren, da werden wir was plaudern!“

In einem Briefe vom 18. (30.) März schreibt der Dichter an Strachow: „Wenn ich lange keine Anfälle gehabt habe und sie sich plötzlich wieder entladen, so folgt darauf eine ungewöhnliche seelische Herabstimmung. Da bin ich am Rande der Verzweiflung. Früher hat diese Schwermut etwa drei Tage nach einem Anfalle gedauert, jetzt aber hält sie sieben, acht Tage an, obwohl die Anfälle selbst in Dresden seltener auftreten, als irgendwo sonst. Zweitens plagt mich der Kummer über meine Arbeit. Es ist nicht zu sagen, wie schwer ich schreibe. Ich muss nach Russland, wenn ich auch das Petersburger Klima ganz entwöhnt bin. Immerhin, koste es was es wolle, ich muss heimkehren .....

Sie können sich nicht vorstellen, was für traurige und schwere Gedanken mich beim Lesen Ihres Briefes bedrängt haben. Was heisst denn das? „Alles das, wodurch die „Zarjá“ originell war, alles, was ihr vor allen anderen einen individuellen Charakter verliehen hat, alles das hat man als ein Hindernis für ihren Erfolg erkannt. Und das ist die einzige russische Zeitschrift, in der sich noch die reine litterarische Kritik erhalten hat! Gerade darum, weil alle sie aufgegeben haben, ist sie eben jetzt nötig. Sie hat der „Zarjá“ ihre Physiognomie verliehen. Vor dem Gerede und Gespötte haben sie Angst bekommen! Im Gegenteil; in jeder Nummer hätten sie auf ihrer Idee bestehen sollen, und ihrer wäre die Zukunft gewesen. Ich weiss nicht, wie es bei anderen ist, aber ich habe jedesmal nach Erhalt des Heftes Ihre Artikel zuerst aufgeschnitten und mich daran berauscht. Es versteht sich, dass ich manchmal nicht ganz einverstanden war (so z. B. mit der Methode, dem Tone, d. h. mit Ihrer allzugrossen Weichheit und ausserdem mit Ihrem Vergrössern gewisser Erscheinungen der Litteratur und des Lebens) — aber mein Interesse daran war immer ein ausserordentliches. Ihr Artikel über Karamsin ist so tief und so männlich offen, dass ich hier eine helle Freude darüber hatte, dass bei uns noch solche Stimmen zu hören sind. Sie haben mir, so nebenbei, gesagt, und ich habe auch irgendwo etwas darüber gelesen und, so weit auch ich selbst urteilen kann, scheint es so, dass man den Artikel reaktionär findet. Dies denkt doch nicht auch Ihre Redaktion?“

In der weiteren Fortsetzung des Briefes spricht der Dichter eingehend über Strachows Verhältnis zur „Zarjá“, erteilt ihm litterarische Ratschläge und schliesst: „Abermals wiederhole ich, dass ich mit grosser Sehnsucht, ja mit Aufregung den Augenblick des Wiedersehens mit den früheren nahen Menschen in Petersburg erwarte. Hier muss ich aber noch eine Bitte stellen: sprechen Sie, wenn sich die Gelegenheit dazu böte, mit niemand von meiner baldigen Zurückkunft als einer Gewissheit. Ich möchte gern wenigstens die erste Woche nach meiner Heimkehr von den Gläubigern in Ruhe gelassen werden. Ich erwarte es, dass sie gleich auf mich losstürzen; ich fürchte das aber, weil ich kein Geld habe, sondern nur Erwartungen. — Das Schreiben geht nicht, Nikolai Nikolajewitsch, oder mit furchtbarer Anstrengung. Ich denke, das ist nur — weil ich Russland brauche. Um jeden Preis muss ich zurück. Mir scheint, ich werde in der Mitte des Sommers bei Euch auftauchen. Welche Umstände aber mit der Übersiedelung! Zu zweien sind wir fortgezogen, ich mit meinem jungen Weibe, und nun, obwohl ich mit der ebenso jungen Gattin zurückkehre, so ist’s doch auch mit Kindern! Ein Geheimnis: das eine ist 1½ Jahre alt, das zweite aber noch XYZ. Was werden das für Beschwerden auf der Reise sein!“

In einem Briefe an Apollon N. Maikow vom 21. April (a. St.) 1871, welcher zumeist geschäftlichen Inhalts ist, spricht er ebenfalls über die Nötigung der Heimkunft, welche aber durch die im August zu erwartende Niederkunft Anna Grigorjewnas abermals verzögert werden könnte. Er hat sich an die Redaktion des „Russkij Wjestnik“ gewendet, um 1000 Rubel Vorschuss für die Übersiedelung zu erlangen. Nun schickt man ihm allerdings einiges Geld für die Osterfeiertage, die 1000 Rubel aber bittet man ihn erst Ende Juni zu erwarten. Er meint dazu: „Indessen ist es ja geradezu unmöglich zu warten. Anfangs August soll meine Frau in die Wochen kommen; darum ist es unvergleichlich besser, zwei Monate vor der Niederkunft zu reisen, als einen Monat vorher, denn im letzteren Falle ist es sogar unmöglich. Bedenken Sie, dass wir ohne Dienerin und mit einem kleinen Kinde reisen müssen. Nach der Geburt hier bleiben, ist aber auch unmöglich; man kann mit einem neugeborenen Kinde nicht im Oktober reisen. Endlich, noch ein Jahr in Dresden bleiben, ist schon das allerunmöglichste. Das hiesse Anna Grigorjewna schon ganz umbringen, durch die Verzweiflung, deren sie nicht Herr werden könnte; denn sie ist thatsächlich vor Heimweh krank. Auch ich kann nicht mehr ein Jahr ausbleiben; erstens werde ich, wenn ich hier bleibe, aus mir bekannten Ursachen nicht imstande sein, den Roman zu beenden, und kann in geschäftlicher Beziehung noch furchtbar viel verlieren. Das alles werde ich Ihnen beim Wiedersehen erklären.

— — Dabei habe ich folgende Schlüsse gezogen, Schlüsse, die Sie sicherlich ebenfalls kennen, von deren Wahrheit Sie aber noch nicht vollständig durchdrungen sind, wie auch ich es bis in die allerletzte Zeit nicht gewesen bin. Es handelt sich um dieses: Infolge der grossen Umwälzungen, von den staatlichen angefangen bis zu dem Kreise des rein Litterarischen, ist bei uns die allgemeine Bildung und Erkenntnis auf einige Zeit zersplittert, zerstreut, gesunken. Die Leute haben sich eingebildet, dass sie keine Zeit mehr haben, sich mit Litteratur (gleichsam einem Spielzeug; was für eine Bildung!) zu befassen, und es ist das Niveau des kritischen Empfindens und aller litterarischen Bedürfnisse schrecklich tief gesunken, sodass jeder Kritiker, der etwa bei uns auftauchen sollte, jetzt gar nicht die richtige Wirkung hervorrufen würde. Dobroljubow und Pissarew haben gerade darum Erfolg gehabt, weil sie im Wesentlichen die Litteratur verwarfen — das ganze Gebiet des menschlichen Geistes! Gutheissen kann man das unmöglich, sondern man muss gleichwohl in seiner kritischen Thätigkeit fortfahren. Verzeihen Sie mir also den Rat, wie ich an Ihrer Stelle verfahren würde.

Sie sprachen in einer Ihrer Broschüren eine herrliche Idee aus und, was die Hauptsache ist, es geschah dies zum erstenmale in unserer Litteratur. Es ist diese: dass jedes halbwegs bedeutende und wirkliche Talent bei uns — immer damit endigte, dass es sich dem Nationalgefühl zuwandte, volkstümlich, slavophil wurde. So hat der Geck Puschkin plötzlich, früher als alle Kirejewskys und Chomjakows, den Chronikenschreiber im Wunderkloster geschaffen, d. h. früher, als alle Slavophilen, ihre ganze Wesenheit ausgedrückt und — nicht genug an dem — er hat dies unvergleichlich tiefer ausgedrückt, als sie alle es bis auf den heutigen Tag gethan haben.

Sehen Sie hingegen Herzen an — fährt der Dichter fort — wie viel Sehnsucht und Bedürfnis, auf diesen Pfad zurückzukehren, und welches Unvermögen dazu, infolge seiner widerwärtigen persönlichen Eigenschaften! Noch mehr; dieses Gesetz der Rückkehr zum Nationalen kann man nicht nur bei den Dichtern und den litterarischen Faktoren verfolgen, sondern in allen anderen Thätigkeiten; derart, dass man zuletzt auch ein zweites Gesetz daraus entwickeln könnte. Nämlich: Wenn ein Mensch wirklich Talent hat, so wird er trachten, sich aus einer schon verwitterten Gesellschaftsschichte heraus dem Volke zuzuwenden; wenn er aber thatsächlich kein Talent hat, so wird er nicht nur in der verwitterten Schichte verbleiben, sondern sich verpflanzen, katholisch werden usw. — — Belinsky (den Sie heute noch schätzen) war gerade durch sein Talentchen kraftlos und schwach, hat aber auch darum Russland verflucht und ihm sichtlich viel Schaden zugefügt (von Belinsky wird man noch einmal vieles zu sagen haben, Sie werden es schon sehen). Allein die Sache ist die, dass in dieser von Ihnen ausgesprochenen Idee so viel Kraft liegt, dass sie unbedingt für sich allein und speziell ausgeführt werden sollte. Schreiben Sie einen Artikel über dieses Thema, entwickeln Sie es im Einzelnen. Man wird sich gewiss darüber freuen. Es wird dieselbe Kritik sein, nur in anderer Form. Zwei, drei solcher Aufsätze im Jahre, und ich prophezeie Ihnen Erfolg. Ausserdem aber wird das Publikum Sie nicht vergessen, sondern sagen, dass Sie in einen Kreis getreten sind, wo man Sie besser versteht. Die Hauptsache ist: wozu die Litteratur aufgeben?

— — Ich kehre erst im Juni heim, so haben sich meine Geldmittel gestaltet. — Hören Sie, was ich Ihnen noch über Ihre letzte Beurteilung meines Romans sagen will. Erstlich haben Sie mich für das, was Sie Gutes darin finden, gar zu hoch gestellt, und zweitens haben Sie ungemein fein auf meine Hauptmängel hingewiesen. Ja, ich habe darunter gelitten und leide darunter; ich verstehe bis heute nicht (ich hab’ es nicht gelernt), meine Mittel richtig zu gebrauchen. Eine Menge einzelner Romane drängen sich bei mir in einen hinein, sodass weder Mass noch Harmonie vorhanden ist. Das alles haben Sie erstaunlich richtig ausgesprochen. Und wie habe ich selbst schon viele Jahre darunter gelitten, da ich es selbst erkannte!“

Zu dieser Stelle bringt Strachow in einer Fussnote einen Abriss seines kritischen Briefes an Dostojewsky, der im wesentlichen unseren Eindruck vom Roman „Die Besessenen“ bestätigt. Er lautet:

„Im zweiten Teile der „Besessenen“ sind wunderbare Dinge enthalten, welche mit dem Besten, das Sie geschrieben haben, in einer Reihe stehen. Der Nihilist Kirillow ist erstaunlich tief und scharf gezeichnet. Die Erzählung der Verrückten, die Szene in der Kirche, ja sogar die ganz kleine Szene mit Karmasinow — das sind lauter Perlen künstlerischer Vollendung. Allein der Eindruck auf das Publikum ist bis jetzt noch ein sehr unbestimmter. Es sieht dies Ziel der Erzählung nicht und verliert sich in der Menge der Personen und Episoden, deren Verknüpfung ihm nicht klar ist. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen diese unangenehmen Urteile schreibe. Es ist mir sogar in den Kopf gekommen, Ihnen Ratschläge zu erteilen, und ich kann mich dieser Dummheit nicht enthalten, welche ich als den Ausdruck meines sehr grossen Interesses an Ihrer Thätigkeit hinzunehmen bitte.“

„Offenbar sind Sie, was den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Ideen anlangt, bei uns der Erste, und sogar Tolstoj ist im Vergleich mit Ihnen einförmig. Das hindert nicht, dass über allem, was Sie schaffen, ein besonderes und starkes Kolorit ausgebreitet ist. Allein Sie schreiben sichtlich zum grossen Teil für ein ausgewähltes Publikum und Sie füllen Ihre Schöpfungen zu sehr an, komplizieren sie allzu sehr. Wäre das Gewebe Ihrer Romane ein einfacheres, so würden sie stärker wirken. „Der Spieler“ zum Beispiel und „Der Hahnrei“ haben die klarsten Eindrücke hervorgerufen, während alles, was Sie in den „Idioten“ gelegt haben, verloren ging.“

Diesem Urteil Strachows können wir nur hinsichtlich der zwei zuerst genannten Werke beipflichten. Über den „Idiot“ haben wir weiter oben einen sehr verschiedenen Eindruck ausgesprochen.

„Dieser Mangel“ — fährt Strachow in jenem Briefe fort — „steht natürlich mit Ihren Vorzügen in enger Verbindung. Ein geschickter Franzose oder Deutscher würde sich, hätte er den zehnten Teil Ihres Gehaltes, auf beiden Hemisphären berühmt machen und als Leuchte ersten Grades in die Geschichte der Weltlitteratur einführen. Das ganze Geheimnis liegt, scheint mir, darin, dass die Schöpferkraft geschwächt, die Schärfe der Analyse reduziert werde, dass man anstatt zwanzig Bilder und hundert Szenen sich mit Einem Bilde und einem Dutzend Szenen bescheiden sollte. Verzeihen Sie, Theodor Michailowitsch, allein es scheint mir, dass Sie bis zur Stunde mit Ihrem Talente nicht zu schalten, es nicht für die grösste Wirkung auf das Publikum zuzubereiten wissen. Ich fühle, dass ich hier an ein grosses Mysterium rühre, dass ich Ihnen einen höchst unsinnigen Ratschlag vorlege — den, dass Sie aufhören Sie selbst, aufhören Dostojewsky zu sein. Allein ich denke, dass Sie in dieser Form meine Gedanken dennoch verstehen werden.“

Man kann Dostojewskys Fehler und Mängel nicht klarer und prägnanter kennzeichnen, als dies hier Strachow thut. Allerdings geschieht dies nur nach der positiven Seite hin, im Hinblick auf die Fehler, welche aus des Dichters übergrossem Reichtum an seelischer Nüancirung hervorquellen. Was uns als Mangel erscheinen muss, das Fehlen jeder Teilnahme für die Reize und Gewalten der Natur, oder die, der leblosen Umgebung des Menschen entströmende, oder von ihm auf diese ausgestreute Stimmung, das hat der Kritiker nicht berührt und er hat Recht damit gethan. Er mochte wohl fühlen, dass diese Mängel zu jenen gehören, welche am innigsten mit unserer Lebenswurzel verflochten sind und nicht genannt werden dürfen, weil dem, der sie zu tragen hat, keine Macht innewohnt, sie von sich zu lösen, sie selbst zu sehen. Für uns Fernerstehende müssen diese Mängel als das erscheinen, was sie sind: ein Übergewicht des inneren Realismus über den äusseren der Gegenstandswelt, der Grundmangel, aus dem der Fehler des Stoff-Aufhäufens als sichtbare Folge hervortritt. Uns fehlen in Dostojewskys Schöpfungen wohl niemals die tiefen und geheimnisvollen Anlässe in den Handlungen seiner Charaktere, wohl aber fast immer die äusseren und äusserlichen Bindeglieder und sinnlichen Übergänge, wie sie unsere Dutzenddichter zu Hauptmotiven so reichlich verarbeiten. Diese Mängel nun scheinen den Dichter keineswegs gestört zu haben. Ein anderes ist es, das, wie schon gesagt, ihn sehr quälte.

„Es giebt aber noch ein Schlimmeres,“ fährt er in jenem Briefe an Strachow fort, „ich mache mich, ohne meine Mittel zu berechnen, und nur vom poetischen Zuge hingerissen, daran, einen künstlerischen Gedanken auszudrücken, dem ich nicht gewachsen bin. (NB. So ist die Kraft der poetischen Begeisterung immer, z. B. bei Victor Hugo, stärker als die Mittel zur Ausführung. Sogar bei Puschkin lassen sich Spuren dieser Zweiheit erkennen.) Und damit ruiniere ich mich. — Ich füge hinzu, dass die Übersiedelung und eine Menge von Beschwernissen diesen Sommer über, dem Roman sehr schaden werden.“

Der nächste und letzte Brief aus der Fremde fällt in die Zeit der Pariser Kommune und giebt uns Gelegenheit, einen jener Aussprüche des Dichters über Sozialismus und Kommunismus zu hören, wie er sie breiter und ausführlicher in seinem Tagebuch eines Schriftstellers, in seinen letzten Tagebuchnotizen und seinen „Winterlichen Bemerkungen über Sommer-Eindrücke“ ausgesprochen hat, wovon wir weiter unten einige bedeutsame Stellen folgen lassen. Der Brief lautet:

„Dresden, 18. (30.) Mai 1871.

Sehr geehrter Nikolai Nikolajewitsch!

Da haben Sie nun wirklich Ihren Brief geradeaus mit Belinsky angefangen! Das habe ich vorausgeahnt. Aber sehen Sie doch nach Paris, auf die Kommune. Sind Sie wohl gar einer von jenen, welche sagen, dass es wieder nicht gelungen sei wegen Unzulänglichkeit der Menschen, der Umstände? Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch träumt diese Bewegung entweder von einem Paradies auf Erden (vom Phalanstère angefangen), oder sie zeigt, knapp am Ziele (48-49 und jetzt), ein erniedrigendes Unvermögen, auch nur irgend etwas Entschiedenes zu sagen. Im wesentlichen ist’s immer wieder derselbe Rousseau und der Traum, die Welt mittels des Verstandes, der Erfahrung aufs neue zu erschaffen (Positivismus). Es sind doch, scheint es, schon genug Fakten vorhanden, die zeigen, dass ihr Unvermögen, ein neues Wort zu sagen, keine zufällige Erscheinung ist.

Sie schlagen Köpfe ab — warum? Einzig und allein darum, weil das das leichteste von allem ist. Irgend etwas sagen ist unvergleichlich schwerer. Der Wunsch nach einer Sache ist noch kein Erlangen. Sie wünschen das Glück des Menschen und bleiben bei der Bestimmung des Rousseauschen Wortes „Glück“ stehen, d. h. bei einer Phantasie, welche nicht einmal von der Erfahrung bestätigt worden. Der Brand von Paris ist eine Ungeheuerlichkeit. „Es ist nicht gelungen, so soll denn die Welt untergehen.“ Denn die Kommune steht höher, als das Glück der Welt und Frankreichs. Aber es erscheint ihnen (ja, und vielen anderen) diese Raserei nicht als eine Ungeheuerlichkeit, sondern als Schönheit. Und so hat sich im neuen Menschengeschlecht auch die ästhetische Idee getrübt. Die sittliche Grundlage der Gesellschaft (die dem Positivismus entnommene) erzielt nicht nur kein Resultat, sondern vermag sich selbst nicht zu bestimmen und verstrickt sich in ihren Wünschen und Idealen. Sind denn endlich, jetzt, nicht genug Fakten vorhanden, um zu zeigen, dass man nicht auf diese Weise eine Gesellschaft aufbaut, dass nicht diese Wege zum Glück führen und dass es nicht von daher komme, wie sie bis heute meinten? Woher denn? Sie werden viele Bücher schreiben, die Hauptsache aber auslassen: Im Westen hat man Christum verloren und darum sinkt der Westen, einzig und allein darum.

Das Ideal ist ein anderes geworden — wie klar ist das! Und das Sinken der päpstlichen Macht zugleich mit dem Sinken der römisch-germanischen Welt (Frankreichs und der anderen) — welch’ ein Zusammentreffen!

Dies alles fordert grosse und lange Auseinandersetzungen, allein, was ich im besonderen sagen will, ist dieses: Wenn Belinsky, Granowsky und diese ganze .... jetzt zusähen, so würden sie sagen: nein, davon haben wir nicht geträumt, nein, das ist eine Verirrung; wir werden noch warten, das Licht wird kommen, der Fortschritt wird die Herrschaft antreten und die Gesellschaft wird sich auf gesunden Grundlagen neu aufrichten und glücklich sein. Sie würden es nie zugeben, dass man, betritt man einmal diesen Weg, niemals wo anders anlangt, als bei der Kommune und Felix Piat. Sie waren so stumpf, dass sie auch jetzt nach den Ereignissen nichts zugeben, sondern weiter träumen würden. Hier habe ich Belinsky viel mehr als eine Erscheinung des russischen Lebens getadelt, denn als Menschen; dies war die hässlichste, stumpfste, schimpflichste Äusserung russischen Lebens. Ihre einzige Entschuldigung liegt — in der Unvermeidlichkeit dieser Erscheinung. Und ich versichere Sie, Belinsky würde sich jetzt bei folgendem Gedanken beruhigen: Seht darum ist es der Kommune nicht gelungen, weil sie doch immer vor allem französisch war, d. h. den Ansteckungsstoff der Nationalität in sich bewahrte. Darum muss man ein Volk auffinden, in dem kein Tropfen Nationalität enthalten und das fähig wäre, seiner Mutter Backenstreiche zu versetzen, wie ich [Russland]. Und mit Schaum auf den Lippen würde er sich wieder hinstürzen und seine heidnischen Artikel schreiben, Russland beschimpfen, ihre grossen Erscheinungen (Puschkin) verleugnen — um Russland endgiltig zu einer vacanten Nation zu machen, die fähig wäre, an der Spitze der allgemein menschlichen Aktion zu stehen. Den Jesuitismus und die Lüge unserer Hauptakteure würde er hocherfreut annehmen.

Aber noch eines: Sie haben ihn nie gekannt, ich aber habe ihn gekannt und gesehen und habe ihn jetzt völlig ergründet. Dieser Mensch hat mich einen ...... geschmäht, indessen aber war er niemals fähig, sich selbst und alle Führer der ganzen Welt Christus vergleichend an die Seite zu stellen. Er vermochte es nicht gewahr zu werden, wieviel kleinlicher Selbstsucht, Bosheit, Unduldsamkeit, Reizbarkeit, Niedrigkeit, aber hauptsächlich Selbstsucht in ihm selbst und in ihnen enthalten sei. [Diese Stelle des Briefes wurde schon weiter oben Seite 60 angeführt, wo sie uns zur Beleuchtung von des Dichters Stellungnahme sehr wichtig schien.] Er hat sich niemals gefragt: „Was werden wir denn an seine Stelle setzen? Etwa uns, die wir so hässlich sind? Nein, er hat sich niemals dabei aufgehalten, dass er selbst hässlich ist; er war im höchsten Grade mit sich zufrieden, und das war schon eine abscheuliche, schändliche, persönliche Stumpfheit. Sie sagen, er sei talentvoll gewesen. Durchaus nicht; wie hat Grigorjew in seinem Artikel über ihn gelogen! Ich erinnere mich noch an mein jugendliches Erstaunen, als ich einigen seiner rein künstlerischen Urteile lauschte (z. B. über die toten Seelen): er hat sich gegenüber den Typen Gogols bis zur Unmöglichkeit oberflächlich verhalten und war nur bis zum Entzücken erfreut darüber, dass Gogol betrog.

Hier habe ich, in diesen vier Jahren, seine Kritiken durchgelesen. Er hat Puschkin getadelt, als dieser seinen falschen Ton fahren liess und mit den Erzählungen Bjelkins und seinem „Arap“ hervortrat. Er hat mit Verwunderung die Nichtigkeit von „Bjelkins Erzählungen“ verkündet. Er hat in der Erzählung Gogols „Die Kutsche“ keine künstlerisch zielbewusste Schöpfung und keine Erzählung, sondern nur eine spasshafte Geschichte gefunden. Er hat den Schluss des „Eugen Onjegin“ abgelehnt. Er hat gesagt, Turgenjew werde kein Künstler werden, dabei ist das aber nach dem Lesen von Turgenjews Erzählung „Drei Porträts“ ausgesprochen. Ich könnte Ihnen solcher Beispiele so viele Sie wollen zusammenlesen, um Ihnen die Falschheit seines kritischen Gefühls und seines „empfänglichen Vibrirens“ zu beweisen, von welchem Grigorjew gefaselt hat (weil er selbst ein Dichter war). Über Belinsky und über viele Erscheinungen unseres Lebens urteilen wir heute noch durch eine Menge ausserordentlicher Vorurteile hindurch.

Habe ich Ihnen denn nicht über Ihren Turgenjew-Artikel geschrieben? Ich habe ihn gelesen, wie alle Ihre Arbeiten — mit Begeisterung, allein auch mit ein klein wenig Verdruss. Wenn Sie finden, dass Turgenjew die Richtung verloren hat, hin und her laviert und nicht weiss, was er über manche Erscheinungen des russischen Lebens sagen soll (sie jedenfalls nicht ernst nimmt), so hätten Sie auch gestehen sollen, dass seine grosse künstlerische Befähigung in seinen letzten Werken zurückgegangen ist und zurückgehen musste. So ist es auch in der That: er ist als Künstler sehr zurückgegangen. Der „Golos“ meint, dies sei darum der Fall, weil er im Auslande lebe; allein der Grund liegt tiefer. Sie aber sprechen ihm auch nach seinen letzten Werken seine frühere Künstlergrösse zu. Ist es so? Übrigens täusche ich mich vielleicht (nicht in meiner Beurteilung Turgenjews, sondern bezüglich Ihres Artikels). Vielleicht haben Sie sich nur nicht so ausgedrückt — — Aber wissen Sie, das ist ja alles Gutsbesitzer-Litteratur! Sie hat alles gesagt, was sie zu sagen hatte (grossartig bei Leo Tolstoj). Allein dieses, im höchsten Grade landadelmässige Wort war ihr letztes Wort. Ein neues, das Gutsbesitzerwort ablösendes Wort hat es noch nicht gegeben, war auch noch nicht möglich. Die Rjeschotnikows[33] haben nichts verkündet; aber immerhin drücken sie die Unvermeidlichkeit von irgend etwas Neuem in der Sprache des Künstlers aus, von etwas, das nicht mehr landadelmässig sei, obwohl sie das auf eine unförmliche Weise thun.

Wie sehr wünschte ich, Sie noch in Petersburg anzutreffen. Ich habe keine Vorstellung darüber, wann ich zurückkomme (unter uns: ich trachte in einem Monate). Wenn aber kein Geld kommt und ich den Termin verpasse, dann heisst es abermals bleiben. Aber das ist entsetzlich und unsinnig.

Den Roman werde ich entweder verpfuschen, dass es eine Schande sein wird (habe schon angefangen zu pfuschen), oder ich raffe mich auf und es wird doch was Ordentliches daraus. Ich schreibe auf gut Glück, das ist meine jetzige Devise.“

Am Schlusse des Briefes die Bemerkung: „— — Ich meine nur im allgemeinen, dass es für die Zeitschriften nicht übel wäre — wenn auch nur eine den Anfang machte — sich zu spezialisieren. Zum Beispiel die „Zarjá“ nach der einen ästhetisch-kritischen Seite hin, ohne sich weiter mit irgend etwas anderem zu befassen, ohne andere Ressorts. Sicherlich könnte das gelingen. Schade, dass ich Ihnen nicht sofort meine Ideen darüber entwickeln kann!“

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