V. Petersburg.

Der Dichter übersiedelt nun nach Petersburg, und hier erleidet die Korrespondenz naturgemäss kürzere und längere Unterbrechungen.

Über den Empfang des Dichters in Petersburg und den Eindruck, den er auf die Freunde hervorgerufen, citiert O. Miller den Bericht A. P. Miljukows, den wir hier nachcitieren. „Einmal“, sagt Miljukow, „kam Michael Michailowitsch früh am Morgen mit der freudigen Botschaft zu mir, dass man entschieden habe, der Bruder dürfe in Petersburg leben, und dass er am nämlichen Tage ankommen werde. Wir eilten auf den Bahnhof der Nikolaewsker Eisenbahn, und dort endlich umarmte ich unseren Verbannten nach einer Trennung von nahezu zehn Jahren. Den Abend brachten wir alle miteinander zu. Theodor Michailowitsch, so schien es mir, war physisch gar nicht verändert; sein Blick war sogar kühner als früher, und sein Gesicht hatte nicht das geringste von seiner gewöhnlichen Energie verloren. Ich erinnere mich nicht daran, wer von den gemeinsamen Bekannten an diesem Abend zugegen gewesen ist, allein es ist mir im Gedächtnis geblieben, dass wir bei diesem ersten Beisammensein nur Neuigkeiten und Eindrücke austauschten und früherer Jahre und alter Freunde gedachten. Nachher sehen wir einander nahezu jede Woche.“

In Bezug darauf, wie sich Theodor Michailowitsch zu den Erlebnissen in Sibirien verhielt, bemerkt Miljukow, dass er „sich niemals über sein eigenes Schicksal beklagte ... freilich“ — sagt er — „auch von anderen zurückgekehrten Petraschewzen habe ich nie Gelegenheit gehabt, heftige Klagen zu hören, allein bei diesen kam das von der, dem Russen angebornen, Eigenschaft, das Böse zu vergessen; bei Dostojewsky jedoch vereinigte sich diese Eigenschaft noch gleichsam mit einem Gefühl von Dankbarkeit gegen das Schicksal, welches ihm die Möglichkeit gegeben hatte, in seiner Strafzeit nicht nur die russischen Menschen, sondern auch zugleich sich selbst besser verstehen zu lernen“.

Nicht ohne Grund hat Theodor Michailowitsch später durch den Mund des „Idioten“, den er mit vielem Eigenen ausgestattet hat, ausgesprochen: „es schien mir, dass man auch im Gefängnis ein ungeheures Leben finden kann“. „Unsere Unterhaltungen im neuen Freundeskreise“ — fährt Miljukow fort — „glichen jenen, die im Durowschen Kreise stattgefunden hatten, in vielem nicht mehr. Und konnte das anders sein? Es war, als hätten das westliche Europa und Russland in diesen letzten zehn Jahren geradezu die Rollen vertauscht: dort waren die uns ehemals mit sich fortreissenden humanitären Utopien in Rauch aufgegangen, und die Reaktion hatte überall den Sieg errungen; hier aber begann vieles zur Thatsache zu werden, wovon wir geträumt hatten, und es bereiteten oder vollzogen sich Reformen, welche das russische Leben erneuerten und neue Hoffnungen keimen machten. Es ist natürlich, dass der ehemalige Pessimismus in unseren Unterhaltungen keinen Raum mehr fand.“

Diese Äusserungen, so wertvoll sie uns für das Zeitbild der jungen, auf Alexander und seine Reformen gesetzten Hoffnungen sein mögen, scheinen als eine Reminiscenz an Dostojewsky in seinem Sterbejahr 1881 in der „Russkaja Starina“ (Maiheft p. 35-36-40) publiziert worden zu sein und werden wohl von uns Westeuropäern trotz allen Beklagens der bei uns in Rauch aufgegangenen Utopien doch mit einem gewissen Lächeln der Rührung über die russische Genügsamkeit aufgenommen werden, die in irgend einer Epoche der russischen Zeitgeschichte für den „Pessimismus keinen Raum mehr fand.“

Nach diesen freudigen Anläufen finden wir den Dichter bald genug von den Beschwerden des Petersburger Lebens angewidert und schon anfangs 1860 ersehen wir aus kleinen Mitteilungen an Freunde und Bekannte, dass Petersburg im Dichter nach so langer Abwesenheit keine glückliche Stimmung hervorzurufen vermag. So heisst es in dem Fragment eines Briefes vom 14. März 1860 an eine Frau Sch., das nach des Dichters Tode ebenfalls in der „Russkaja Starina“ (wohl auch durch Miljukow) mitgeteilt wurde: „Wenn man nur auf acht Tage dieses hässliche Petersburg hinter sich lassen könnte! ... vielleicht kommt unser Ausflug nach Moskau doch zustande.“ Nach seiner Rückkunft aus Moskau schreibt er: „Da bin ich nun wieder ins feuchte, ins Patschwetter, ins Ladoga-Eis, in die Langweile zurückgekommen.“ .... Weiter heisst es: „Ich bin zurückgekehrt und befinde mich in einem förmlichen Fieberzustand. An alledem ist mein Roman schuld. Ich will was gutes schreiben, ich fühle, dass Poesie darin ist, ich weiss, dass von seinem Gelingen meine ganze schriftstellerische Karriere abhängt ... Drei Monate lang wird es nun heissen Tag und Nacht dabei sitzen — (es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach, sagt O. Miller, um den grossen, noch in Sibirien ersonnenen Roman). Im selben Briefe treten die warmen Beziehungen zu Tage, welche Dostojewsky zu den litterarischen Versuchen der jungen Generation unterhält. „Ich habe Krestowsky gesehen,“ schreibt er einmal, „ich habe ihn sehr lieb. Er hat ein Gedicht geschrieben und es uns mit Stolz vorgelesen. Wir haben ihm alle gesagt, dass dieses Gedicht etwas entsetzlich Abscheuliches ist (da wir unter uns übereingekommen sind, die Wahrheit zu reden). Und nun? nicht im geringsten war er beleidigt! ein lieber, edler Junge. Er gefällt mir so sehr (immer mehr und mehr), dass ich ihm nächstens einmal beim Trinken das Du anbieten werde.“ — —

Wir gelangen nun zu jenem Abschnitt im Leben und Wirken Dostojewskys, welcher mit der wichtigsten Wandlung in der Geschichte Russlands zusammenfällt, nämlich zum Heraustreten des Dichters in die Arena des politischen Lebens, an welchem als Publizist teilzunehmen er sich seiner Mission nach gedrungen fühlt. Es ist dies gegen Ende des Jahres 1861, da er die Monatsschrift „Wremja“ gründet, um darin seine Gedanken über die grosse Umwälzung auszusprechen, welche die am 19. Februar erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft einleitete. Diese Epoche ist uns Westländern nicht genug bekannt, um uns einen klaren Überblick der damaligen politisch-litterarischen Situation des Landes zu gewähren, ist aber so interessant, was die Stellung der Parteien, den Anteil der Jugend daran, die Folgen derselben betrifft, dass wir hier weiter ausholen müssen, indem wir den beiden Herausgebern der „Materialien“ das Wort lassen.

N. Strachow, Dostojewskys Mitarbeiter, beginnt die Besprechung der damaligen politischen Lage mit einer Präzisierung des Wortes „Liberalismus“, „des russischen Liberalismus“, der von den Westländern nicht richtig verstanden werde. Am Schlusse dieser Erörterung heisst es: „Leider besteht bei uns, ungeachtet aller historischen Erfahrungen, ungeachtet aller gedruckten und gesprochenen Erläuterungen ein sehr grosser Wirrwarr in den Begriffen, welcher natürlich durch unsere Lehrmeisterin Europa unterhalten wird, und der wahre Sinn des Liberalismus ist fast gänzlich darüber verloren gegangen. Dass der Liberale im wesentlichen in den meisten Fälle konservativ sein muss, aber nicht Progressist und in keinem Falle revolutionär, das wissen und begreifen wohl sehr wenige.“ — „Einen solchen wirklichen Liberalismus,“ fährt Strachow fort „bewahrte Theodor Michailowitsch bis an sein Lebensende, sowie ihn jeder aufgeklärte und nicht verblendete Mensch bewahren soll.“

Dieser Satz bedarf ebenso sehr der Erläuterung, als nach Strachows Meinung der russische Liberalismus. Strachow versteht unter „Progressist“ nicht einen für den Fortschritt im allgemeinen Eintretenden, sondern vielmehr jene Gattung von Politikern, welche den Fortschritt der russischen Kultur nicht sowohl in einer organischen Fortentwickelung auf nationaler Grundlage, als in einer beschleunigten Anwendung der Lehren des Westens sahen und anstrebten. Auch Dostojewsky hat sich, ohne ein „Progressist“ zu sein, immer und überall für den Fortschritt eingesetzt und meint es sehr ernst damit, wenn er den müssigen Byrons der jungen Generation zuruft: „Ich wüsste wohl eine Arbeit für Euch, aber Ihr werdet sie nicht leisten wollen, sie zu gering achten, ob sie auch die einzige ist, die uns jetzt zukommt: Lehrt auch nur einen kleinen Bauernjungen lesen.“ „Ich will hier“ — setzt der Berichterstatter fort — „eines der wichtigsten Vorkommnisse jener Zeit erzählen, die sogenannte Studentengeschichte, welche sich zu Ende des Jahres 1861 abspielte und den damaligen Zustand der Gesellschaft am vortrefflichsten beleuchtet. In dieser Geschichte wirkten sicherlich verschiedene innere Triebfedern mit; allein ich werde sie nicht berühren, sondern ihre äussere öffentliche Erscheinung schildern, welche sowohl für die Mehrzahl der Agierenden als auch der Zusehenden von der grössten Bedeutung war.

Infolge des Zuströmens des Liberalismus schäumte die Universität immer mehr und mehr von Leben und von Bewegung über, leider aber von einem solchen Leben, das die Beschäftigung mit der Wissenschaft erstickte. Die Studenten hielten häufige Zusammenkünfte, gründeten eine Kasse, eine Bibliothek, gaben ein Sammelwerk heraus, übten ein Richteramt über ihre Kameraden aus usw., aber alles dieses zerstreute sie und regte sie so sehr auf, dass die Mehrheit, ja sogar viele der Begabtesten und Gescheitesten unter ihnen aufhörten zu studieren. Es gab auch nicht wenige Unzulässigkeiten, d. h. Überschreitung der Grenzen aller möglichen Dispense, und so entschloss sich die Studien-Obrigkeit endlich Massregeln zu ergreifen, um diesem Lauf der Dinge ein Ende zu machen. Um sich eine widerspruchslose Autorität zu sichern, verschaffte sie sich einen Allerhöchsten Befehl, vermittelst dessen Zusammenkünfte, Kassen, Deputationen und Ähnliches verboten wurde. Der Befehl wurde im Sommer ausgegeben, und als im Herbste die Studenten sich auf der Universität zeigten, musste er in Anwendung gebracht werden. Die Studenten dachten, sich zu widersetzen, beschlossen jedoch, es einzig und allein durch einen Widerstand zu thun, welchen die liberalen Grundsätze sanktionieren, d. h. durch passiven Widerstand. So geschah es auch. Sie hingen sich an jeden Vorwand, welcher geeignet war, den Behörden soviel Arbeit und der Sache soviel Publicität als möglich zu schaffen. Sie brachten höchst künstlich den ausgiebigsten Skandal zustande, den man nur in Scene setzen kann.

Die Behörden waren so gezwungen, sie zwei- oder dreimal bei Tage, auf offener Strasse in grossen Haufen fortzuführen. Zur grösseren Freude der Studenten setzte man sie sogar in die Peter Pauls-Festung. Sie unterwarfen sich ohne Widerrede diesem Arrest, später dem Urteilsspruch der Verschickung, welche für viele eine sehr schwere und langwährende wurde. Nachdem sie das gethan hatten, dachten sie, alles gethan zu haben, was nötig war, nämlich: sie hatten laut über die Verletzung ihrer Rechte gesprochen, waren selbst nicht über die Grenzen der Gesetzlichkeit geschritten und hatten eine schwere Strafe über sich ergehen lassen, gleichsam rein nur darum, weil sie von ihren Forderungen nicht abgewichen waren. Obwohl nun diese juridischen Begriffe in Wirklichkeit nicht auf Studierende anwendbar sind, so führten die Studenten dieses liberal-juridische Drama zum Nutz und Frommen der übrigen Staatsbürger tadellos und mit wahrer Begeisterung durch. Es war durchaus kein Aufruhr, auch nicht im allerkleinsten Ausmasse.

Das Interessanteste und Charakteristischste dabei ist, dass sich damals Leute fanden, welche sehr wünschten, diese Geschichte in einen Aufruhr umzuwandeln, dass man Beratungen darüber abhielt, ihnen z. B. vorschlug, irgend eine Unthat zu begehen, welche die Behörden in eine fatale Lage brächte usw. Revolutionäre Elemente waren in der Gesellschaft herangereift, allein diesmal bewahrte der Liberalismus seine Reinheit, und es war nur eine grosse Demonstration vollbracht worden, gleichsam eine Anklage vor dem Forum der öffentlichen Meinung.

Natürlich sprach die ganze Stadt nur von den Studenten. Man hatte gestattet, dass die Eingeschlossenen besucht würden, und so kamen täglich sehr viele Besucher in die Festung. Auch von der Redaktion der „Wremja“ ward ihnen ein Gastgeschenk gesendet. Bei Michael Michailowitsch wurde ein ungeheures Roastbeef gebraten und mit Hinzufügung einer Flasche Cognac und einer Flasche roten Weines in die Festung gesandt. Als man endlich begann, jene Studenten, welche man als die Schuldigsten befunden hatte, fortzuführen, begleiteten Freunde und Bekannte sie weit über das Weichbild der Stadt hinaus. Die Abschiedsgrüsse waren vielseitig und laut und die Verschickten schauten zum grossen Teil wie Helden drein.“

Hier wird der Westeuropäer unwillkürlich im Lesen innehalten und über die Selbstverständlichkeit und Einfachheit staunen, mit welcher ein „russischer Liberaler“ von Festungsstrafen und Verschickung junger Schwärmer spricht. Es tritt uns da förmlich eine „erbliche Belastung“ mit dem Verschickungs-Begriffe entgegen, von dem auch der liberalste Russe heute nicht frei sein kann.

„Diese Geschichte“ — fährt Strachow fort — „wickelte sich im selben Geiste weiter ab. Man schloss die Universität, um sie einer vollständigen Umgestaltung zu unterwerfen. Da baten die Professoren um die Erlaubnis, öffentliche Vorlesungen zu halten, und erhielten diese Erlaubnis ohne Mühe. Die Duma (der Stadtrat) überliess ihnen ihre Säle zu diesem Zwecke, und so wurden die Universitätskurse eröffnet. Alle Schritte für das Arrangement der Vorlesungen sowie die Sorge für die Aufrechthaltung der Ordnung nahmen die Studenten auf sich und waren mit dieser neuen, freien Universität sehr zufrieden und sehr stolz darauf. Allein ihre Gedanken waren nicht mit der Wissenschaft beschäftigt, um welche sie sich augenscheinlich so bemüht hatten, sondern mit etwas anderem, und das verdarb zuletzt alles. Die Ursache der Aufhebung dieser Rathaus-Universität war der bekannte „litterarisch-musikalische“ Abend des 2. März 1862. Dieser Abend war mit der Absicht veranstaltet worden, gleichsam eine Auslese aller vorgeschrittensten, progressivistischen Kräfte vorzuführen. Die Wahl der Schriftsteller in diesem Sinne war auf das Sorgfältigste vorgenommen worden, und das Publikum war im selben Sinne ebenfalls das sorgsam ausgewählteste. Sogar die Musikstücke, mit welchen die litterarischen Produktionen abwechselten, wurden von den Frauen und Töchtern von Schriftstellern „der guten Richtung“ ausgeführt. Theodor Michailowitsch war in der Zahl der Lesenden und seine Nichte in jener der Mitwirkenden.

Es handelte sich nicht um das, was gelesen und vorgestellt wurde, sondern um die Ovationen, welche man den Vertretern fortschrittlicher Ideen brachte. Der Lärm und Enthusiasmus war ein ungeheurer, und es hat mir später immer geschienen, dass dieser Abend der höchste Punkt war, den die liberale Bewegung unserer Gesellschaft erreicht hatte, und zugleich der Kulminationspunkt unserer Seifenblasen-Revolution. Eine Episode dieses Abends bildete den Beginn des Verfalls und der Entzauberung unserer damaligen Fortschritts-Bewegung. Professor P.... las an jenem Abend seinen Artikel, welcher, wie alles andere das vorgetragen wurde, vorher der Zensur unterbreitet worden war. Er las ihn ohne jede Abänderung, aber mit so ausdrucksvollen Intonationen und Gesten, dass ein durchaus zensurwidriger Sinn dabei herauskam. Es entstand ein Freudengeschrei, ein unbeschreiblicher Jubel. —

Und nun: am nächsten Tage verbreitet sich plötzlich die Nachricht, dass der Professor arretiert und aus Petersburg fortgeschickt worden sei. Was war nun zu thun? In welcher Weise sollte man gegen eine solche Massregel protestieren? Die Studenten folgerten, ganz logisch, dass die Entfernung eines Professors eine Bedrohung der übrigen Professoren in sich schliesse, dass diese deshalb ihre Vorlesungen nicht fortsetzen könnten, wenn sie nicht dadurch zu zeigen wünschten, dass sie ihren Kollegen für schuldig erachten und vor der Behörde selbst als Unschuldige dastehen wollten. Es wurde beschlossen die Rathaus-Universität zu schliessen und dadurch gegen jeglichen Zwang zu protestieren — ein bekanntlich sich fortwährend wiederholender Vorgang an den russischen Universitäten, etwas das Ähnlichkeit hat mit dem japanischen Selbstmord. Die Studenten setzten voraus, dass die ganze Gesellschaft von Betrübnis und Zorn erfüllt sein werde, wenn so plötzlich die Hauptquelle ihrer Aufklärung verstopft würde. Die Professoren willfahrten dem Wunsche der Studenten und sagten ihre Vorlesungen ab, mit Ausnahme eines oder zweier von ihnen, welchen dafür die Hörer Skandale machten. Endlich mischte sich die Obrigkeit hinein und machte der ganzen Sache ein Ende, indem sie den Professoren überhaupt verbot, öffentliche Vorlesungen zu halten.“

„Was war nun das Resultat der ganzen Affaire? Es zeigte sich gleich, dass der schlimme Plan die Gesellschaft aufzuregen und sie gegen die Obrigkeit aufzureizen vollkommen misslang. Die Gesellschaft rührte sich nicht, und anstatt zu wachsen, erlosch die Bewegung vollständig. Die Führer in dieser Sache hatten die allzu naive Vorstellung, dass der Lärm, welcher in ihren Zirkeln geschlagen wurde, der Ausdruck der allgemeinen Stimmung sei und dass es so leicht sein werde, das Publikum zu täuschen. In Wirklichkeit vermochte niemand ernstlich zu glauben, dass die Obrigkeit der Feind und Bedrücker der Aufklärung sei. Die Unterlage der Sache war allen gar zu durchsichtig, namentlich als zu gleicher Zeit eine Proklamation nach der andern auftauchte, deren erste hunderttausend Menschen in Russland als der öffentlichen Wohlfahrt hinderlich erklärte, deren letzte schon direkt drohte, „die Strassen mit Blutströmen zu begiessen und keinen Stein auf dem andern stehen zu lassen.“

„Wie immer das nun gewesen sein möge, war die Obrigkeit, welche beständig bemüht gewesen war, den liberalen Charakter der Ereignisse zu wahren, in eine sehr schwierige Lage versetzt; es zeigte sich, dass jede liberale Massregel innerhalb der Gesellschaft eine Bewegung hervorruft, welche sich dieser Massregel zu ihren eigenen Zwecken bedient, welche durchaus nicht liberal, sondern ganz radikal sind. Diese Schwierigkeiten fanden nun ihr Ende durch die Petersburger Brände und den polnischen Aufstand, als es endlich klar wurde, dass man das Böse nicht dulden und seinem natürlichen Lauf nicht überlassen darf, wenn es so erschreckende Dimensionen angenommen hat.“

Wir sehen in diesen Worten den kennzeichnenden Ausdruck des russischen ehrlichen Liberalkonservativen reinsten Wassers, nämlich jener Richtung des Liberalismus, der nie und nirgend durch Zwang wirken will, sondern die Förderung fortschrittlicher Ideen nur mit solchen Mitteln für gerechtfertigt erachtet, welche keine anderen Freiheiten einschränkt — eine Anschauung, über die sich streiten lässt, die aber gerade in den Konstellationen der russischen Parteistandpunkte besondere Beachtung verdient. Dass diese Anschauung in Dostojewsky ihren genialsten und berechtigsten Vertreter gehabt hat, ist uns bereits aus seinem ganzen Leben und Wirken klar geworden. Wie er sich speziell zur Studenten-Affaire verhalten hat, das erfahren wir aus den Mitteilungen O. Millers, welcher uns jene Vorgänge in einer lebendigeren, intimeren und weniger doktrinären Form erzählt und speziell diese Sache anders beleuchtet, als Strachow. Wir werden durch diese zwei Berichte so recht in die Stimmung und das Milieu der grossen Befreiungsepoche hineinversetzt. Natürlich haben wir es auch hier mit einem Vertreter der konservativ-liberalen Richtung zu thun.

Nachdem Miller die Verteilung und Verschiebung der Parteien besprochen, welche aus sehr verschiedenen Gründen gegenüber der Aufhebung der Leibeigenschaft und ihren Folgen Stellung nahmen, und meint: „man begann uns eindringlich das ‚Sterben‘ zu lehren — gerade dann, als man uns hätte lehren sollen zu leben, ehrenhaft, aufopfernd, fest zu leben,“ — fährt er fort: „das ist’s, was ein Mensch bei uns antreffen musste, der aus Sibirien geschrieben hatte: „Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe dazu kommt, so ist alles gethan.“ „Das alles war den Unzufriedenen der Herrenpartei sehr zur Hand. Mit dem revolutionären Radikalismus — sei es auch vom entgegengesetzten Ende — ging der Konservatismus sehr wohl zusammen, der — ganz ebenso revolutionär war, wie ihn J. Th. Samarin treffend benannt hat. Es ist auch bekannt, dass jenem ‚Nihilismus‘, dessen erste Formation sozusagen Turgenjew in der Person des Studenten mit burschikosem Unterfutter Bazarow aufgestellt hatte, derselbe Samarin ebenso treffend den Generals-Nihilismus entgegen gestellt hatte. Das französische Sprichwort „les extrêmes se touchent“ ist bei uns auf die glänzendste Weise zur Wahrheit geworden.

Dies konnte ein jeder wahrnehmen, der zufällig an jenem denkwürdigen litterarischen Lese-Abend gegenwärtig war, da der zur 1862 stattfindenden Feier des tausendjährigen Bestandes Russlands verfasste Artikel vorgelesen wurde. Die grosse Reform (Aufhebung der Leibeigenschaft) hatte sich gerade am Vorabende des Millenniums vollzogen und man hätte nun dieses, sollte man meinen, mit beruhigtem Gewissen und einem furchtlosen Blick in die Zukunft feiern können. Als der Lesende zum „Wermutsbecher“ gekommen war, „den das russische Volk im Laufe seines tausendjährigen Lebens hatte leeren müssen,“ sagte er: „Zur Zeit der Thronbesteigung des heute glücklich regierenden Kaisers und Imperators lief der Becher über ...“ Man liess ihn nicht vollenden: „dass der Zar jenen Überschuss von Bitternis daraus weggegossen, welcher sich durch die Leibeigenschaft darin angehäuft hatten — man fasste seine Worte in einem durchaus anderen Sinne auf, als in welchem sie gesagt worden waren, und es brach ein frenetischer Sturm von Applaus und Bravorufen aus. Ich erinnere mich daran, als wäre es heute, mit welchem wollüstigen Entzücken damals gerade die Repräsentanten des nicht verpönten Nihilismus applaudierten — dies war an den Dekorationen ersichtlich, welche sie ungeachtet dessen trugen, dass sie sich in ihren „heiligsten Gefühlen“ verletzt fühlten. Als nun der Vortragende zum Satze kam: „Unsere Administratoren stehen am Rande eines Abgrundes,“ da floss der Enthusiasmus dieser Nihilisten thatsächlich mit dem Enthusiasmus jener Nihilisten zusammen — obwohl, natürlich, jede der extremen Richtungen das Wort ‚Administratoren‘ in ihrer Weise verstand.“

O. Miller erinnert sich nicht, ob Dostojewsky an jenem Abende teilgenommen habe, findet aber den zehn Jahre später im Roman „Die Besessenen“ beschriebenen Leseabend den getreuen Spiegel der hier vorgefallenen Affäre und fügt hinzu, Dostojewsky habe an irgend einem anderen Leseabend Teile aus den „Memoiren aus einem Totenhause“ vorgelesen und das mit Absicht in einem Sinne und Geiste, welcher jenem der Einberufer entgegengesetzt war. Es scheint hier ein Gedächtnisfehler obzuwalten, der indes nichts zu sagen hat, da ja in keinem Berichte dieser beiden Freunde des Dichters je ein Irrtum betreffs der Grundtendenz Dostojewskys vorkommen könnte. Die Erzählungen jener lärmenden Begebenheit selbst jedoch weichen, wie wir sehen, ziemlich von einander ab, und was wir Westländer daraus gewinnen können, ist vornehmlich der Einblick in die Verschiebungen der Standpunkte, wie sie in dem von politisch-litterarischem Leben so heftig pulsierenden Russland sogar innerhalb einer und derselben Partei möglich sind. Die Herausgeber der Materialien gehören beide der konservativ-liberalen Richtung an, dennoch sehen wir in Strachow die Thatsachen bei aller Objektivität der Erzählung gleichsam nach der streng-konservativen, fast möchte man sagen offiziellen Seite umgebogen, während O. Miller mit der feinen Anführung des „Generals-Nihilismus“ dem eigenen Konservatismus gleichsam die Spitze abbricht.

Dieselbe Studenten-Affäre, welche offenbar eine sehr grosse Rolle in der Geschichte der russischen Reformjahre spielt, ist wohl oft genug auch von der gegnerischen Seite aus besprochen worden. Einen längeren Artikel widmet ihr auch der Ukrainophile Dragomanow in dem vor einigen Jahren von ihm in Genf herausgegebenen Briefwechsel zwischen Turgenjew, Kavelin und Herzen. Wir haben es aber hier hauptsächlich mit Dostojewsky und seinem Standpunkt zu thun und fahren in der interessanten Wiedergabe seiner Ansichten durch O. Miller fort. Nach der, durch die uns bekannten Ereignisse erfolgten, Enthebung des Professors von seinem Lehramte und der vorhergegangenen Einschliessung der Studenten waren im Publikum und namentlich im Volke allerlei missverständliche Meinungen darüber entstanden; „die Gefängnishaft“ — fährt Miller fort — „hatte bekanntlich das Selbstgefühl der Jugend nur erhöht, das sie antrieb, neue Vorschriften abzulehnen, indem sie sich von einem übrigens durchaus ernsten und edlen Gefühle leiten liess, das ihnen verbot, mit jener Vorschrift einverstanden zu sein, wonach Alle verpflichtet waren, ein Kollegiengeld zu entrichten, wodurch alle jene jungen Leute des Zutritts zu höherer Bildung verlustig wurden, welchen die Mittel fehlten, diese Forderung zu erfüllen.“ Wer das nicht wusste, dem musste diese Auflehnung „um irgend welcher Matrikel willen“ in der grossen Stunde der Bauernbefreiung tragikomisch erscheinen. — Das Volk wusste natürlich nicht, um was es sich handle — und urteilte: „Die jungen Herrlein rebellieren, weil man uns die Freiheit gegeben hat.“ Zu Dostojewsky und seinen Ansichten über jene durcheinander gewirrten Verhältnisse übergehend, führt Miller jene Stelle aus dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ aus dem Jahre 1873 an, welche sich darauf bezieht und eine Antwort auf die Zumutung ist, als sei Dostojewskys phantastische Satire „das Krokodil“[15] ein Ausfall auf Tschernyschewsky, den Autor des Romans „Was thun?“

„Mit Nikolaus Gawrilowitsch Tschernyschewsky“ — sagt Dostojewsky — „bin ich im Jahre 1859, im ersten Jahre nach meiner Rückkunft aus Sibirien, zusammengetroffen; ich weiss nicht mehr, wo und wieso es geschah.

Später begegneten wir einander manchmal, aber sehr selten, sprachen miteinander, aber sehr wenig. Übrigens reichten wir einander jedesmal die Hand. Herzen hat mir gesagt, Tschernyschewsky habe ihm einen unangenehmen Eindruck gemacht, d. h. durch sein Äusseres, seine Manieren. Mir gefielen das Äussere Tschernyschewskys und seine Manier ganz wohl.

Einmal, am Morgen, fand ich an meiner Wohnungsthüre, auf der Klinke des Schlosses, eine der bemerkenswertesten Proklamationen, welche damals auftauchten; und es tauchten damals nicht wenige auf. Diese hatte die Aufschrift: „An die junge Generation.“ Man kann sich nichts Abgeschmackteres und Dummeres vorstellen. Der Inhalt aufreizend in der lächerlichsten Form, welche nur ein Feind für diese Leute hätte ersinnen können, um sie selbst zu vernichten. Es wurde mir schrecklich zu Mute und ich war den ganzen Tag verdriesslich und verstimmt. Das war damals alles noch so neu und so nahe, dass es sogar noch schwer war, sich diese Leute gründlich anzuschauen. Schwer namentlich, weil es einem nicht recht glaubhaft erschien, dass sich unter all diesem Wirrwarr ein so leerer Unsinn verberge. Ich spreche nicht von der damaligen Bewegung als einem Ganzen, sondern bloss von den Menschen. Was die Bewegung anbelangt, so war sie eine dunkle, krankhafte, aber durch ihre historischen Konsequenzen verhängnisvolle Erscheinung, welche ein ernstes Blatt in der Petersburger Periode unsrer Geschichte ausfüllen wird. Ja, und dieses Blatt ist, scheint es, noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Und nun wurde mir, der ich schon lange aus meiner Seele und meinem Herzen heraus weder mit diesen Leuten, noch mit dem Sinne ihrer Bewegung einverstanden war, — mir wurde verdriesslich zu Mute, mir war, als schämte ich mich gleichsam ihres Unverstandes ... Obwohl ich schon drei Jahre in Petersburg gelebt und schon manchen Erscheinungen zugesehen hatte — verblüffte mich doch diese Proklamation geradezu, erschien sie mir wie eine neue, unerwartete Entdeckung: niemals bis zu diesem Tage hatte ich eine solche Nichtigkeit vorausgesetzt. Plötzlich, noch ehe es Abend wurde, fiel es mir ein, Tschernyschewsky aufzusuchen. Noch niemals bis auf diesen Augenblick war es mir in den Sinn gekommen, zu ihm zu gehen, ebenso wenig als dies bei ihm der Fall gewesen“ ....

„Nikolai Gawrilowitsch, was ist das?“ und ich zog die Proklamation aus der Tasche.

Er nahm sie in die Hand, wie eine ihm völlig unbekannte Sache, und las sie durch. Es waren im Ganzen zehn Zeilen.

— „Nun, was denn?“ fragte er mit einem leichten Lächeln.

— „Sollten sie denn so dumm und lächerlich sein? Sollte es denn nicht möglich sein, ihnen Einhalt zu thun und dieser Abscheulichkeit ein Ende zu machen?“

Er antwortete ausserordentlich gewichtig und eindringlich: — „Glauben Sie denn, dass ich mit ihnen solidarisch bin, und meinen Sie, dass ich imstande gewesen wäre, an der Abfassung dieses Zettels teilzunehmen?“

— „Das ist’s eben, dass ich das nicht voraussetzte,“ — antwortete ich — „und ich finde es sogar überflüssig, Ihnen das zu versichern. Allein auf jeden Fall ist es nötig, sie aufzuhalten, koste es was es wolle. Ihr Wort ist bei ihnen von Gewicht, und das ist einmal sicher, dass sie Ihre Meinung fürchten.“

— „Ich kenne keinen von ihnen.“

— „Ich bin auch davon überzeugt. Allein es ist durchaus nicht nötig, sie zu kennen und persönlich mit ihnen zu sprechen. Sie brauchen nur laut, wo immer, Ihren Tadel auszusprechen, und es wird zu ihnen gelangen.“

— „Vielleicht wird das auch keine Wirkung haben. Ja, und diese Erscheinungen sind als Nebenfakten unvermeidlich.“

— „Dennoch aber schaden sie allen und allem“ ....

.... „Ich erachte es als meine Pflicht, hier zu bemerken, dass ich vollkommen aufrichtig mit Tschernyschewsky sprach und durchaus daran glaubte, wie ich auch jetzt noch glaube, dass er mit diesen Zerstörern nicht ‚solidarisch‘ gewesen ist.“

Der Schluss von Millers Betrachtungen und die darin enthaltene treffende Beurteilung der Kluft zwischen den russischen und polnischen Anschauungen, welche an die Vorgänge von 1863 anknüpft, ist zu bedeutungsvoll für die Beleuchtung der damaligen Situation und mit einigen Modifikationen auch der heutigen, als dass wir es uns versagen dürften, dieses Resumé vollinhaltlich hierher zu setzen.

„Wenn aber nun eine solche Erscheinung“ — fährt Miller fort — „zur Zeit der Bauern-Befreiung durch ihre „Nichtigkeit“ in ihrer Art komisch war, so kann man das natürlich nicht mehr vom polnischen Aufstande von 1863 sagen. Ich erinnere mich mit Schamgefühl daran, dass ich, als ich damals im Auslande lebte, anfangs den deutschen Zeitungen Glauben schenkte, in dem, was sie über die Grausamkeit unserer Soldaten in Polen verbreiteten. Inzwischen erhob sich ebenfalls dort in Deutschland eine vorurteilslose, — mehr als das, eine feierliche Stimme, wie man thatsächlich keine bei uns daheim gehört hatte, über unsere Bauern-Reform. Es war die Stimme eines Greises mit junger Seele — Jacob Grimms. Er erkannte vollkommen und begrüsste freudig mit seinem allumfassenden, menschlichen Herzen unsere, wie er sich ausdrückte, „riesenhafte Bewegung nach vorwärts“. Und da musste diese Bewegung aufgehalten werden! — Und zur Befriedigung jener europäischen Majorität, welche nicht über den edlen Geist eines Grimm verfügte, entspann sich gerade jetzt der polnische Aufstand mit seinem so blutigen Terrorismus.

Hier konnte sich Dostojewsky keineswegs mehr geringschätzig über die „Nichtigkeit“ der Erscheinung aussprechen, hier konnte er nicht anders, als von einem entrüsteten Entsetzen erfüllt werden. Viele halten Dostojewsky bekanntlich für einen offenen Feind Polens, und die Edelsten unter den Polen können ihm diesen Ausfall nicht verzeihen. Wenn wir indes uns jenes Kapitels aus den „Memoiren aus einem Totenhause“ erinnern, wo von den politisch Verschickten die Rede ist, so finden wir, dass der Polen nicht nur ohne feindseliges Vorurteil, sondern mit voller Wertschätzung darin gedacht wird. Theodor Michailowitsch verletzte nur ihr hochmütiges „je hais ces brigands“ im Verkehr mit den Sträflingen, in denen er selbst immer wieder das gleiche russische Volk erblickte. — Geradezu als ein Hohn musste diese Erhebung Dostojewsky erscheinen, ein Hohn auf die ganze russische Nation, die eben endlich ihren Zar-Befreier erharrt hatte, die polnische Rebellion, und das gerade in diesem gesegneten Augenblick, — eine Rebellion, der als armseliges, aber doch immer trauriges Präludium die Studenten-Unruhen mit den darauffolgenden „dummen“, aber immerhin „unheilverkündenden“ Proklamationen dienten. Während unsre „Herrlein“ gleichsam nur zufällig in den Augen des Volkes zu einer ihm so widrigen Rolle kamen, konnte man im polnischen Aufstand schon ganz ernsthaft den alten, hochedelgeborenen Geist vernehmen, der von Verachtung gegen das Bauernvolk erfüllt ist. Nicht Polen war es, und nicht das polnische Volk, das endlich vom selben russischen Kaiser mit Grund und Boden beteilt worden war, was Dostojewsky nicht liebte; er hasste jenen traditionellen Geist Polens, durch welchen sein eigenes Volk bedrückt worden war und welcher Polen verloren hatte. Diesen alten Geist Polens musste er hassen, wie ihn Proud’hon hasste und viele von den Polen selbst hassten, viele der echten, uneigennützig-ehrenhaften polnischen Patrioten. Dieser alte Geist Polens war Dostojewsky verhasst als einem Socialisten — und ein Socialist im weiten, menschlichen Sinne dieses Wortes zu sein hat er niemals aufgehört.

Aber die Sache steht so, dass unsre — nicht nur „Liberalen“, sondern auch „Socialisten“ bereit gewesen wären, den polnischen „Pany“ die brüderliche Hand zu reichen — weil sie bei ihnen einen reichlichen Vorrat von Unzufriedenheit wahrnahmen —, und bei uns hatte sich damals schon jener Opportunismus entwickelt, welcher keinerlei unzufriedene Elemente verschmäht, worauf die Briefe Samarins an Herzen so deutlich hinweisen.

Dostojewsky war niemals ein „getreuer Unterthan“ der Revolution (wie sich Samarin in diesen Briefen an Herzen ausdrückt), darum aber war er auch niemals „Opportunist“.

Von Sibirien mit einem überreichen Schatz von Glauben und Liebe zurückgekehrt, sowie mit dem heissen Verlangen nach Einigkeit bei der schöpferischen Thätigkeit zum Nutzen des Vaterlandes, musste er mit wachsender Entrüstung rund um sich die immer mehr und mehr hervortretenden Anzeichen einer negativen Thätigkeit im Dienste der Zerstörung wahrnehmen. Es ist begreiflich, dass er sich bei seiner Geradheit mehr und mehr Feinde machte. — In dieser Situation und unter diesen Umständen war es, dass Dostojewskys litterarische Thätigkeit wieder neu auflebte. Im selben Jahre, als die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, begann er gemeinsam mit dem Bruder Michael Michailowitsch die Herausgabe der Zeitschrift ‚Wremja‘.“

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