VII. Zweite Vermählung; Schuld und Sühne; Abreise. (1865-1867.)

Der Sommer und Herbst 1865 fand Dostojewsky teilweise im Auslande. Seine wieder aufgenommene Korrespondenz mit Baron Wrangel ist aus Wiesbaden datiert, wo er bis Ende Oktober verweilte. Im November war er schon wieder in Petersburg und blieb darauf das ganze Jahr 1866, das, wie Strachow sagt, das folgenreichste Jahr seines Lebens war. Im Januar dieses Jahres begann im Russkij Wjestnik die Publikation seines bis dahin bedeutendsten Werkes: „Schuld und Sühne“ — und am 4. Oktober desselben Jahres lernt er Anna Grigorjewna Snitkina, seine künftige zweite Gattin, kennen.

„Schuld und Sühne“ — oder, wie es in manchen Übersetzungen heisst, „Raskolnikow“ — ist jenes von Dostojewskys Werken, welches in allen europäischen Ländern die grösste Verbreitung gefunden hat und hier die erste Grundlage seines Ruhmes geworden ist. Dass dieser Erfolg nur teilweise auf einer richtigen Schätzung seines Talentes beruht, wird jeder verstehen, welcher die Wege des schriftstellerischen Erfolges kennt. Vorerst war es das Packende, Sensationelle des Romans, das zündete, sodass sich das Interesse daran wie ein Lauffeuer über einen ungeheuren Kreis verbreitete. Als das Buch endlich in die Hände der ästhetischen Kritiker gelangte, da fanden erst seine künstlerischen Eigenschaften ihre Würdigung. Hatte also früher das gröbere litterarische Bedürfnis durch den Stoff Nahrung erhalten, so war es jetzt die Form, welche Bewunderung erregte, wodurch sie das Werk auf ein höheres Niveau erhob. Bald trat die Philosophie hinzu und legte ihren Massstab an das psychologische Detail, um aus den inneren Zusammenhängen der geschilderten verbrecherischen Handlung mit ihren Folgen das ethische Prinzip des Dichters herauszulösen. Auch diese kam auf ihre Rechnung, wenn auch nur bedingt; denn Dostojewskys ethische Gestaltungen verdanken nicht Prinzipien ihre Entstehung, sondern sind Probleme, wie das Leben selbst sie bietet. So ist der endgiltige Eindruck dieses Romans in Europa der eines sensationellen Verbrechens, das mit dem Aufwand einer grossen schöpferischen Kraft durch die Beobachtung der feinsten psychologischen Details zu einem Kunstwerk ersten Ranges ausgestaltet wurde. Nicht so in Russland. Hier war man einerseits mit Dostojewskys Schöpfungen sowohl als mit seinem Stil schon vertraut; das Sensationelle und Unmittelbare seiner Art zu erzählen, die wohl vorbereiteten Überraschungen, sowie der feste Griff ins Gewissen der Menschen hatten ihm hier schon sein Publikum erzogen; auch stand dieses Publikum mit ihm auf gleichem Boden; das gleiche Milieu, die gleichen Geistesformen, die gleichen äusseren Lebensgewohnheiten bereiteten sozusagen eine neutrale Atmosphäre für das neue Wort, das es mit jedem neuen Dichterwerke erwartet, von ihm ganz besonders erwartete. Andererseits legt das russische Publikum keinen so hohen Wert auf das Künstlerische in einem Buch, wie wir es thun: die Russen haben noch zu viel mit der Ausgestaltung ihres staatlichen und nationalen Lebens zu thun, um heute schon mit Vorliebe die fein verschlungenen Wege der Kunst zu wandeln; sie wollen Wahrheit, nichts als Wahrheit, etwas das ihnen ihr Leben erklärt und sie weiterführt. Sie wollen dies aber nicht nur als Menschen, sondern ganz besonders als russische Menschen. So ist denn der Eindruck dieses Werkes für die Russen aus diesen Forderungen heraus zu formulieren, und in der That: liest man die Fülle von russischen Kritiken, welche gerade dieses Werk hervorgerufen hat, sieht man die Fülle von Anregungen, welche es gerade dem russischen Menschen gebracht hat, so muss man gestehen, dass es bei seinen allgemein-menschlichen Vorzügen, bei seiner hohen künstlerischen Vollendung ein spezifisch russisches Buch ist, was wir da vor uns haben, so reich und tief in seinen Problemen, so verworren in seinen Axiomen, so ungelöst in seinen Fragen und so hoffnungsvoll-gläubig in die Zukunft, wie Russland selbst.

Dass Dostojewsky mit vollem Bewusstsein nur über Russen und für Russen schrieb, erhellt aus vielen Stellen seiner Briefe aus Sibirien und dem Auslande. Namentlich wiederholen sich jene Stellen immer wieder, wo es heisst: „Ich muss erst in Russland sein, ich brauche russischen Boden, russische Menschen.“ So bezieht sich jene Stelle in seinem Brief aus Semipalatinsk an den Bruder vom 31. Mai 1858, wo er sagt, dass er den Roman, den er schon fertig im Kopf habe, erst nach seiner Zurückkunft nach Russland schreiben werde, offenbar auf „Schuld und Sühne“, „— da dieser Charakter wahrscheinlich heute in Russland im wirklichen Leben sehr stark im Schwange ist, besonders jetzt, wenn man nach der Bewegung und den Ideen urteilt, von welchen alle erfüllt sind, so bin ich überzeugt, dass ich meinen Roman mit neuen Beobachtungen bereichern werde, wenn ich nach Russland zurückkomme.“ Da Dostojewsky ein Werk sehr lange in seinem Kopfe ausreifen liess, ehe er es niederschrieb, so ist wohl anzunehmen, dass der erste grössere Roman, den er in Russland schrieb, jener lange schon ersonnene gewesen ist, zu dem er „Russland brauchte“: „Schuld und Sühne“.

Die Fabel des Buches ist höchst einfach. Bin junger, aussergewöhnlich begabter Student lebt in grosser Armut in einer elenden Kammer als Aftermieter, arbeitet nicht, liest nicht, versteckt sich in seinem Winkel und träumt dahin. Seine hohe Begabung und seine Kenntnisse befähigen ihn zu dem höchsten Ideenfluge, seine bittere Armut stellt ihn unter die Niedrigsten, die ihr Leben mit ihrer Hände Arbeit verdienen und es ohne Demütigung geniessen. Zudem ist der Mensch nicht ohne edlere Empfindung, und es bedrückt ihn sehr, dass seine Mutter und Schwester, zwei arme, in der Provinz lebende Frauen, sich das Nötigste absparen, um dem Petersburger Studenten, der ihre stolze Hoffnung ist, hie und da ein paar Rubel zu schicken. Unthätigkeit und ein schwächliches Träumen steigern die Schlaffheit seines Charakters, Stolz, Hochmut und tausend Weltbeglückungs-Ideen peitschen seine blutarmen, gereizten Nerven zu einer Philosophie der Weltverbesserung und Weltstrafe an. Er will etwas Grosses thun, aus den Reihen der Alltagsmenschen hervortreten, wenigstens ein Stück Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen — ein altes Weib, das Geld gegen hohe Wucherzinsen verleiht, umbringen, damit sie niemandem mehr schade. Warum nicht? sagt er sich. Napoleon I., Mahomet, haben Tausende hingeschlachtet und sind bewundert worden, sind Grosse dieser Erde gewesen. Auch ich bin ein Napoleon, ein Mahomet, ich bin mehr als sie, ich folge einer Idee, ich bestrafe das Laster. Diese Idee gewinnt immer mehr Macht über den unbeschäftigten, widerstandslosen Jüngling mit der Lucifer-Seele; er vollbringt die That, welche gegen alle Erwartung gelingt, so dass kein Verdacht auf ihn fällt, empfindet aber zu seinem Erstaunen keinerlei Befriedigung darauf, vergräbt die aufgefundenen Wertgegenstände unter einen Stein im Hofraum eines entlegenen Hauses, verfällt aber bald danach in ein hitziges Fieber, aus dem er mit der Furcht erwacht, sich verplaudert zu haben. Hier setzen Vorsicht, Misstrauen gegen seine Umgebung und Furcht vor Entdeckung ein, die ihm endlich die Schlinge um den Hals legen und unentrinnbar seinem Schicksal, der Selbstanklage und Verurteilung nach Sibirien, zuführen. Im Epilog ist der Hinweis auf eine wahrhafte innere Sühne ausgesprochen. Sie wird, eine neue Illustration zu Goethes Schluss-Worten im Faust, durch die Liebe zu Sonja, der Gefallenen und doch unendlich Reinen, eingeleitet.

Wir haben also das Problem einer Selbstvergöttlichung vor uns, die sich das Recht zuspricht, über Menschenleben zu richten und Scharfrichter zu sein, die sofort nach der That zum eigenen Erstaunen keine Erhöhung des Gottheitsgefühls erfährt und eine Weile zwischen Leben und Selbstmord schwankt. Als er das Mädchen kennen lernt, das seine Jungfräulichkeit für den Trunkenbold von einem Vater, die schwindsüchtige Stiefmutter und die hungrigen kleinen Geschwister zum Opfer gebracht bat, das eine gewisse Gleichheit vor den Gerechten der Erde und ein Gefühl tiefen Mitleids für seinen geheimen Kummer ihm entgegenbringt, da ist er von einem rätselhaften Bedürfnis getrieben, sich ihr anzuvertrauen. Es ist nicht Reue, was ihn treibt, auch nicht Liebe zu dem Mädchen — er will nur reden, einen Teil seiner Qualen vor ihr abladen. Diese Scene gehört künstlerisch und menschlich zu dem Grossartigsten, was je in dieser Art geschrieben worden. Sie ist bekannt und wir können nicht bei den psychologischen Feinheiten verweilen, welche hier ein vollendetes Kunstwerk aufbauen. Dass es z. B. Raskolnikow selbst erst im Laufe der Erzählung immer klarer wird, was für Motive ihn getrieben haben, wie er, der noch mit niemand davon gesprochen, erst äusserliche Beweggründe zur That angiebt dann durch die Einfalt in Sonjas Fragen immer tiefer in sich hineingeführt wird, aus dem Unbewussten seines Wesens endlich den Kern desselben, den Luciferhochmut heraufholt, der sich das Recht zuspricht zu töten, da er stärker ist als die andern — wie das alles eingeleitet, gesteigert und durchgebildet ist, darüber hat die ästhetische Kritik Europas längst ihr Wort gesprochen. Für den russischen Menschen ist hier massgebend, was bei dieser allmählichen Selbstbeleuchtung herauskommt: der Mord aus Prinzip, die aufleuchtende Erkenntnis, dass der Mörder einen Augenblick über sein Recht im Zweifel, also kein Napoleon war, kein Recht besass; die Scham, auch „eine Laus zu sein wie alle andern“, und endlich die, Bezwingung dieses Hochmuts durch die fromme Liebe Sonjas, welche dem Sünder das Christentum aufschliesst. Wir müssen hier, obgleich wir das Werk als bekannt annehmen, dennoch die bezeichnenden Stellen bringen, um unsere Gedanken über die echt russische Auffassung des Dichters über menschliche Schuld und Sühne durch seine eigenen Worte zu bekräftigen.

„Nein! es ist wieder nicht so! .. ich erzähle abermals nicht recht! Siehst Du, ich habe mich damals immer gefragt: warum bin ich so dumm, wenn die andern dumm sind und ich sicher weiss, dass sie dumm sind — dass ich selbst nicht gescheiter sein will? Dann habe ich erkannt, Sonja, dass, wenn man warten wollte, bis alle gescheit werden, dies allzu lang dauern würde. — Dann habe ich weiter erkannt, dass das auch niemals geschehen wird, dass die Menschen sich nicht ändern werden und niemand da ist sie umzuarbeiten, und dass es nicht der Mühe wert wäre! Ja, so ist es! ... das ist ihr Gesetz ... ihr Gesetz, Sonja! So ist es! ... Und ich weiss jetzt, Sonja, dass der gescheit ist und stark im Geiste, der über sie mächtig ist! Wer viel wagt, der hat bei ihnen auch Rechte. Wer auf Grosses spucken kann, der ist ihr Gesetzgeber, und wer sich am meisten erdreistet, der hat am meisten Recht! So ist es bis heute gegangen und so wird es immer sein. Nur ein Blinder wird das nicht sehen!“

„Ich bin damals darauf gekommen“ — fuhr er in feierlichem Tone fort — „dass die Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu bücken und sie an sich zu nehmen. Hier ist nur Eines, nur Eines: es heisst nur wagen!“

„Es ist damals ein Gedanke in mir aufgetaucht, zum ersten Mal in meinem Leben — ein Gedanke, den noch niemand jemals vor mir ersonnen hat! Niemand! Es wurde mir plötzlich so klar wie die Sonne und stellte sich vor mich die Frage: wieso denn bis heute niemand gewagt habe, nicht wage, wenn er an all dieser Abgeschmacktheit vorübergeht, alles kurzweg beim Schwanz zu fassen und es zum Teufel zu schleudern! Ich ... ich habe mich dreist machen wollen und habe gemordet ... nur erdreisten wollte ich mich, Sonja — da hast Du die ganze Ursache!“

„O, schweigen Sie, schweigen Sie!“ rief Sonja, die Hände zusammenschlagend. — „Von Gott haben Sie sich entfernt, und Gott hat Sie getroffen, hat Sie dem Teufel übergeben!“

„Sage, Sonja, als ich im Finstern lag und alles vor mir so dastand, war es der Teufel, der mich zwang? Wie?“

„Schweigen Sie! wagen Sie es nicht, Gotteslästerer — nichts, nichts begreifen Sie! O, Herr! nichts, nichts wird er begreifen!“

„Schweige Du, Sonja, ich scherze durchaus nicht, ich weiss ja selbst, dass mich der Teufel gefasst hat. Schweige, Sonja, schweige!“ wiederholte er finster und nachdrücklich — „ich weiss alles. Alles das habe ich schon durchgedacht und mir vorgeflüstert, als ich dort im Dunklen lag .... Alles das habe ich schon mit mir selbst durchgestritten, bis zum letzten, kleinsten Zug, und weiss nun alles, alles! Und so überdrüssig ist mir damals dieses ganze Geschwätz geworden, so überdrüssig! Ich wollte alles vergessen und frisch anfangen, Sonja, und aufhören zu schwatzen! Und glaubst Du denn, dass ich hinging wie ein Dummkopf, aufs Geradewohl? Nein, ich ging hin, wie ein Kluger, und das ist’s, was mich zu Grunde gerichtet hat. Und meinst Du denn, ich hätte nicht z. B. wenigstens das gewusst, dass, wenn ich schon anfing mich selbst zu fragen: habe ich das Recht zur Macht? — ich schon kein Recht zur Macht mehr habe? Oder wenn ich die Frage stelle: ist der Mensch eine Laus? er für mich keine Laus mehr ist, sondern für den, dem das auch gar nicht in den Kopf kommt und der geradeaus hingeht .... Wenn ich mich schon so viele Tage mit der Frage herumquälte, ob Napoleon hingehen würde oder nicht, so fühlte ich ja schon deutlich, dass ich kein Napoleon war .... Die ganze, ganze Qual dieses Argumentierens habe ich ausgehalten, Sonja, habe alles das loswerden wollen, ich habe gewünscht, ohne Kasuistik umzubringen, für mich zu töten, für mich allein! Ich habe darin auch mich selbst nicht belügen wollen! Nicht um der Mutter zu helfen habe ich getötet — Unsinn! Nicht darum habe ich getötet, um, nachdem ich Geld und Macht erlangt hätte, ein Wohlthäter der Menschheit zu werden, Unsinn! Ich habe einfach getötet, für mich getötet, für mich allein, ob ich aber irgend jemandes Wohlthäter geworden wäre, oder mein Leben lang wie eine Spinne Alle in mein Netz gelockt und ihnen alle Lebenssäfte ausgesogen hätte, das hätte mir in jenem Augenblick ganz gleich sein müssen! Und nicht Geld war es, das ich hauptsächlich brauchte, Sonja, als ich mordete, nicht Geld hatte ich so sehr nötig als etwas anderes .... Jetzt weiss ich das alles .... Verstehe mich recht: Es kann sein, dass ich, diesen Weg verfolgend, niemals mehr einen Mord wiederholt hätte. Mich verlangte es, ein anderes zu erfahren, ein anderes stiess meine Hand dahin; ich musste wissen, so schnell als möglich wissen, ob ich auch eine Laus bin, wie alle anderen, oder ein Mensch? Werde ich es vermögen ein Verbrechen zu begehen, oder werde ich’s nicht vermögen? Werde ich es wagen mich um die Macht zu bücken oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht ...“

„Zu töten, das Recht zu töten habt Ihr?“ rief Sonja händeringend.

„Eh, Sonja!“ rief er gereizt aus, wollte schon etwas erwidern, hielt sich aber verächtlich zurück. — „Unterbrich mich nicht, Sonja! Ich wollte Dir nur Eines beweisen: dass mich damals der Teufel erfasst hatte, mir aber danach schon gezeigt hat, dass ich kein Recht hatte dahinzugehen, da ich eine ebensolche Laus bin, wie alle. Er hat mich ordentlich ausgelacht, und nun siehst Du, bin ich zu Dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich keine Laus wäre, käme ich da zu Dir? Höre: als ich damals zur Alten ging, da ging ich nur hin, um zu probieren ... das wisse!“

„Und gemordet haben Sie, gemordet!“

„Ja, wie habe ich denn gemordet? Mordet man denn so, geht man denn so hin, um jemanden zu ermorden, wie ich hinging? Habe ich denn die Alte umgebracht? Mich habe ich umgebracht und nicht die Alte! Mich hab ich zugleich mit ihr umgebracht, in alle Ewigkeit! Diese Alte hat der Teufel umgebracht, nicht ich ... Genug, genug, Sonja, genug. Lass mich“ — schrie er plötzlich mit krampfhafter Angst — „lass mich!“

Als er sie fragt: „Wirst Du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich dort sitzen werde?“ — und sie ihm antwortet: — „O ich komme, ich komme!“ da geht ihm ihre Liebe auf; er sieht sie an und, sonderbar, ihm war’s plötzlich schwer und leid, dass man ihn so liebe. Ja, das war eine seltsame und schreckliche Empfindung! Als er zu Sonja gegangen war, hatte er gefühlt, dass in ihr all seine Hoffnung und seine endgiltige Ruhe enthalten sei; er gedachte wenigstens einen Teil seiner Qualen hier niederzulegen, und nun, plötzlich, da ihr ganzes Herz sich ihm zugewendet hatte, da fühlte und erkannte er es plötzlich, dass er unendlich viel unglücklicher geworden war, als er früher gewesen.“

Der Epilog findet den auf neun Jahre zur Zwangsarbeit Verurteilten am Irtisch unter Missethätern. Wir sehen abermals dasselbe Bild wie im „Totenhause“. Auch auf Raskolnikow macht die Umgebung der Verbrecher denselben Eindruck, auch er fühlt, dass er nicht zu ihnen gehöre, fühlt es mit der künstlerisch hingesetzten Nuance, dass er „keinen Glauben“ hat. Anfangs fühlt er sich aber nur dadurch bedrückt, dass sie ihn ob seines freien Schuldgeständnisses nicht zu den Ihren zählen, weil sie ihre Verbrechen ausgehalten hatten, er aber das seine nicht ertrug. Auch fragte er sich, warum er sich damals nicht umgebracht habe.

„Er stellte sich unter Qualen diese Frage und konnte nicht begreifen, dass er vielleicht schon damals, als er am Flussufer stand, in sich und seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge ahnte. Er begriff nicht, dass diese Ahnung der Vorbote eines künftigen Umschlags in seinem Leben, der Vorbote einer einstigen Wiedergeburt, eines neuen Blicks auf das Leben sein konnte. Später erst erkannte er den Grund der Abneigung der Verbrecher gegen ihn, „Du bist ein Gottloser,“ sagen sie — „Du glaubst nicht an Gott, Dich soll man erschlagen.“ Sonja jedoch, welche ihm in die Verbannung gefolgt war und im Städtchen, wo die Festung lag, sich ihr kärgliches Leben eingerichtet hatte, nur um ihn, wenn er mit den anderen Sträflingen zur Arbeit ging, fünf Minuten sehen und sprechen zu können, Sonja wurde von allen geliebt. „Mütterchen, Sofia Semjonowna,“ sagten sie, „Du unsere Mutter, Du blasse, kranke usw.“ „Warum?“ fragt er sich, „warum lieben sie sie?“ Endlich erkrankt er und wird in das Sträflings-Spital gebracht. Dort besucht ihn Sonja nur zweimal, und als er einmal, Reconvalescent, am Fenster steht, sieht er ihre schmächtige Gestalt von weitem sich durch den Hofraum entfernen. Sie hatte, wie so oft, nur zu seinen Fenstern hinaufgeblickt. Nun erkrankt Sonja, er sieht sie längere Zeit nicht, und jetzt erst geht ihm an seinem Sehnen und Bedürfen nach ihrer weichen und starken Seele die Liebe und mit ihr die Erlösung auf. An einem schönen frühen Morgen, da er beim Alabaster-Ofen an der Arbeit ist, entfernt er sich für einen Augenblick aus dem Heizraum und setzt sich am Flussufer auf einem Balken nieder, da erscheint plötzlich Sonja und setzt sich still neben ihn. Anfangs bleiben sie schweigend neben einander, er senkt den Kopf und blickt starr auf die Erde, da:

„Wie dies geschah, wusste er selbst nicht, aber plötzlich packte ihn etwas und warf ihn zu ihren Füssen. Er weinte und umklammerte ihre Kniee. Im ersten Augenblick erschrak sie furchtbar, und ihr Gesicht wurde totenbleich. Sie sprang auf und sah ihn zitternd an. Allein sofort, im selben Augenblick hatte sie alles begriffen. In ihren Augen leuchtete ein unendliches Glück auf; sie verstand, und es gab für sie keinen Zweifel mehr, dass er sie liebe, sie grenzenlos liebe und dass sie endlich gekommen war, diese Minute.“ ...

„Sie versuchten zu sprechen, allein sie konnten es nicht. Thränen standen in ihren Augen. Sie waren beide blass und armselig, allein in diesen kranken und blassen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, der Wiedergeburt zu einem neuen Leben. — —

Zu Anfang seiner Strafzeit hatte er gefürchtet, dass sie ihn mit Religion quälen, ihm vom Evangelium reden und ihm Bücher aufnötigen werde. Aber zu seiner grossen Verwunderung sprach sie nicht ein einziges Mal davon, legte ihm nicht einmal das Evangelium vor. Er selbst hatte es sich kurz vor seiner Erkrankung erbeten, und sie hatte schweigend das Buch gebracht. Bis heute hatte er es nicht aufgeschlagen.

Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke durchzuckte ihn: „Kann es denn sein, dass ihre Überzeugungen von jetzt an nicht auch die meinigen sind? Ihre Gefühle, ihre Bestrebungen wenigstens.“

„Auch sie verbrachte diesen ganzen Tag in heftiger Erregung, in der Nacht aber erkrankte sie abermals. Allein sie war so überaus glücklich und so unerwartet glücklich, dass sie fast vor ihrem Glücke erschrak. Sieben Jahre, nur mehr sieben Jahre! Zu Anfang ihres Glückes in manchen Augenblicken waren beide imstande, auf diese sieben Jahre wie auf sieben Tage zu schauen. Er wusste es ja noch nicht, dass das neue Leben ihm nicht umsonst zufallen werde, dass er es noch werde teuer erkaufen, es mit einer grossen künftigen That bezahlen müssen.“

Hier schliesst der Roman. Wir haben es versucht, seine spezifisch russische Seite, die russischen Absichten des Dichters und das hervorzukehren, was die grösste Wirkung auf seine russischen Leser machen musste. Schon im „Totenhause“ hatte er es ausgesprochen, dass „in jedem russischen Menschen unserer Tage der Keim zu einem Scharfrichter enthalten sei.“ Das war wohl die Idee, zu deren künstlerischer Gestaltung er russischen Boden, russische Menschen brauchte. Wenn man hier einwenden wollte, dass für eine Nation schreiben, seine Probleme den Formen eines Volkes anpassen eine Beschränkung dichterischer Kraft sei, so muss darauf hingewiesen werden, dass Dostojewsky gerade der Russe immer als Allmensch vorschwebte und er ihn nicht ausser die anderen Nationen stellte, sondern als sie alle in sich zusammenfassend und im Christentum einigend dachte.

Dass wir es uns versagen mussten, auf vollendet ausgeführte Gestalten wie Porfiry Petrowitsch und Swidrigailow einzugehen, ist nach dem Gesagten selbstverständlich. Einheitlicher mit unserem Zweck, das Werk von der russischen „breiten“ Ethik aus zu beleuchten, ist es, einige Worte über eine weichere, weniger scharf gezeichnete Figur zu sagen. Dies ist Rasumichin, der harmlose „ehemalige Student“ und Freund Raskolnikows. Ihm legt der Dichter ohne viele künstlerische Umschweife zwei bedeutsame Aussprüche in den Mund. Einmal sagt Rasumichin in etwas angeheitertem Zustande: „Ich liebe es, wenn man lügt; das Lügen ist das einzige Privilegium, das der Mensch vor allen Organismen voraus hat. Lügst du — so wirst du schon zur Wahrheit kommen! Darum bin ich eben ein Mensch, weil ich lüge. Nicht zu einer Wahrheit ist man gekommen, wenn man nicht früher 14mal, ja vielleicht 114mal gelogen hat. Und das ist in seiner Weise ehrenhaft. Wir aber können nicht einmal ordentlich nach unserem Verstande lügen! Du lüge mich an, aber lüge nach deinem eigenen Wesen, und ich werde dich küssen. In seiner Weise lügen, das ist ja besser, als eine fremde Wahrheit nachreden; im ersten Falle bist du ein Mensch, im zweiten aber bist du nur ein Vogel! Die Wahrheit wird nicht verschwinden, das Leben aber kann man zerstören — es hat Beispiele gegeben.

Und was sind wir jetzt? Alle sitzen wir, alle (ohne Ausnahme), in unserem Wissen, unserer Entwickelung, unserem Denken, unseren Entdeckungen, Idealen, Wünschen, unserem Liberalismus, unserer Vernunft, Erfahrung, in allem, allem, allem noch in der ersten Vorbereitungsklasse des Gymnasiums. Es hat uns gefallen, uns mit fremden Gedanken die Zeit zu vertreiben — hineingefressen haben wir uns!“ —

„... Wir werden uns schon zur Wahrheit durchlügen.“ — Die zweite Stelle, an welcher der Leser nicht achtlos vorübergehen kann, ist die, wo Rasumichin mit grosser Wärme für die Unschuld des Zimmermalers eintritt, den man des Mordes beschuldigt, weil er ein Etui mit Ohrgehängen aus dem Raube der Alten für einen Rubel versetzt hatte. Dieser Bursche war auf derselben Stiege in einer leeren Wohnung mit dem Streichen der Wände beschäftigt gewesen, als der Mord im oberen Stockwerk geschah. Er war mit einem anderen jungen Burschen nach gethaner Arbeit schäkernd und Ulk treibend die Treppe hinabgelaufen, sie hatten sich im Hausflur, wie 8 Personen sehen konnten, gebalgt und er war noch einmal in den Arbeitsraum hinaufgelaufen und hatte sich hinter die Thüre gestellt. Dort hatte er das Etui gefunden. Nun wird er gesucht, um in Untersuchung gezogen zu werden, die Anzeichen sind gegen ihn, da er den Fund verheimlicht hat, und als er hört, dass er zur Verantwortung gezogen werde, sich zu erhängen versucht. Als man ihn fragt, warum er sich habe töten wollen, antwortet er: „weil man mich verurteilen wird“. Es ist etwas Ergreifendes in dieser russischen Schuldfurcht eines Unschuldigen, den später eine Art mystischer Täuschung dazu treibt, sich für den Thäter zu erklären, zum Glück in einem Augenblick, da Raskolnikows Thäterschaft schon so gut wie erwiesen ist. Rasumichin aber greift mit aller Hitze seines gütigen Wesens die Frage auf, um „unsere Jurisprudenz“ anzuklagen, welche „niemals, niemals die subjektive Thatsache der Stimmung, der psychologischen Unmöglichkeit, einen Mord zu begehen und im nächsten Augenblick sich mit einem Kameraden zu balgen,“ in Betracht ziehen wird, „weil man die Ohrgehänge bei ihm gefunden und er sich hatte erhängen wollen“, „was nicht möglich wäre, wenn er sich nicht schuldig gefühlt hätte.“ Dies ist, scheint uns, eine Stelle, wo das echt russische Verhältnis zur Schuld vom Dichter mit einer Selbstverständlichkeit benützt wird, wie sie an das Unbewusste grenzt, uns aber höchst bedeutsam und symptomatisch erscheinen muss. Es wäre wohl keinem europäischen Dichter in den Sinn gekommen, eine solche unbegründete Selbstanklage als glaubwürdiges retardierendes Motiv in einem Romane anzubringen.

Die Korrespondenz mit Wrangel scheint eine kurze Begegnung der Freunde in Kopenhagen eingeleitet zu haben und wieder durch diese aufgefrischt worden zu sein, und so finden wir den häufigsten Austausch von persönlichen und geschäftlichen Berichten aus jener Zeit zwischen dem Dichter und diesem Freunde im Gang. In einem dieser Briefe aus Wiesbaden heisst es unter anderem: „— diesmal will ich Ihnen über mich schreiben, eigentlich aber nur über eine Sache. Teilen Sie, was ich Ihnen sagen werde, niemand mit, denn ich fühle, dass es mich teilweise anschwärzt. Da aber in einem solchen Falle Phrasen vollkommen unfruchtbar und auch schwer sind, so will ich Ihnen offen bekennen, dass ich — in meiner Dummheit vor vierzehn Tagen alles im Spiel verloren habe, was ich hatte. Ich habe auch früher gespielt, gleich vom Anfang meines Wiesbadener Aufenthalts an, aber ich hatte Glück, sogar bedeutendes Glück (verhältnismässig gesprochen), habe mich aber dann in meiner Dummheit vergaloppiert, alles in drei Tagen verspielt und sitze nun in der abscheulichsten Situation, die man sich vorstellen kann, und kann aus Wiesbaden nicht heraus.“

Nun verlangt er für eine kurze Zeit 100 Thaler, um nur vom Hôtel loszukommen, nach Paris zu gehen, wo er jemand sicher zu finden hofft, der ihm helfen wird. In einem zweiten, ca. 14 Tage später datierten Briefe beklagt er sich darüber, keine Antwort erhalten zu haben. Er bittet, Wrangel möge ihm das Geld unverzüglich schicken, „obwohl es ihm nun nicht mehr radikal helfen könne“, und fügt hinzu, dass die Erzählung, die er eben schreibe, mindestens 1000 Rubel wert sei, dass er das Geld in einem Monat werde aus dieser Summe sicher abzahlen können, die er von Katkow, dem Redakteur des Russky Wjestnik, als Abschlagszahlung für seine Erzählung (Raskolnikow) erhalten werde. Ein dritter Brief vom 8. Nov. 1865, aus Petersburg datiert, bezieht sich auf eine inzwischen stattgehabte Begegnung in Kopenhagen. Er erzählt darin von seiner Rückkehr, von den drei Anfällen, die er sofort und im Verlauf einer Woche erlitten hatte, von den 300 R., welche Katkow nach Wiesbaden gesandt, die er nun daheim erst erhalten habe, von der vollkommenen Deroute in der Familie des Bruders, die ihn erwartet habe, und der er alles gleich gab, was er besass, und ausserdem 100 R., die er dazu aufnahm. Er bittet den Freund um Geduld, da er alle Schulden erst nach der Bezahlung des Romans abtragen könne, der wohl 2500 R. einbringen werde. Noch einmal aber von Katkow vorausnehmen will er nicht. Er findet es nicht politisch, unmöglich, hässlich; es seien durchaus die Beziehungen nicht solche, um das zu thun. Zum Schluss erwähnt er seines Stiefsohnes Pascha, Marja Dmitrjewnas Sohnes, für welchen er ebenfalls sorgt, der ihm aber niemals Freude gemacht hat, sowie eines kranken Bruders, der nicht mehr lange zu leben habe.

Nach einem sorgenvollen Winter schreibt er aus Petersburg am 18. Febr. 1866: „Bester alter Freund Alexander Jegorowitsch, ich bin durch mein langes Schweigen vor Ihnen schuldig geworden, aber schuldig ohne Schuld. Es würde mir jetzt schwer, Ihnen mein ganzes jetziges Leben, die Ursache meines langen Schweigens klar zu machen. Die Ursachen sind vielfach und kompliziert, und ich kann sie darum nicht beschreiben, will nur einiges andeuten. Erstens sitze ich über der Arbeit, wie ein Sträfling. Es ist das der Roman für den Russky Wjestnik; ein grosser Roman in sechs Teilen. Ende November war vieles aufgeschrieben und fertig; ich habe alles verbrannt, dass kann ich jetzt bekennen. Es hat mir selbst nicht gefallen. Eine neue Form, ein neuer Plan hat mich fortgerissen, und ich habe frisch angefangen. Ich arbeite Tag und Nacht und dennoch arbeite ich wenig. Nach meiner Berechnung kommt heraus, dass ich jeden Monat 6 Druckbogen an den Russkij Wjestnik abgeben muss. Das ist furchtbar, allein ich würde es leisten, wenn ich genug Seelenruhe hätte. Ein Roman ist ein poetisches Werk und bedarf zu seiner Vollendung der Ruhe für Seele und Phantasie. Mich aber quälen die Gläubiger, d. h. sie drohen, mich einsperren zu lassen. Ich habe bis heute noch nicht mit ihnen fertig werden können und weiss wirklich noch nicht, ob ich’s überhaupt werde, obgleich viele von ihnen ganz vernünftig sind und meinen Vorschlag annehmen, die Abzahlung auf 5 Jahre zu verteilen. Mit anderen aber konnte ich bis jetzt nicht in Ordnung kommen.

Sie können denken, wie beunruhigt ich bin; das zerreisst mir Kopf und Herz, verstimmt auf mehrere Tage. Da setze dich dann hin und schreibe! Manchmal ist das ganz unmöglich. Darum ist’s auch schwer, eine ruhige Minute zu finden, um mit einem alten Freunde ein wenig zu plaudern, weiss Gott! Dazu die Krankheiten! Anfangs, nach meiner Rückkunft, hat mich die Hinfallende schrecklich geplagt; es war, als hätte sie die drei Monate nachholen wollen, die sie mich nicht heimgesucht hatte. Jetzt aber plagen mich schon seit einem Monat Hämorrhoiden. Sie haben von dieser Krankheit und davon, wie ihre Anfälle sein können, wahrscheinlich keine Vorstellung. Nun sind es schon drei Jahre nacheinander, dass sie sichs eingerichtet hat, mich durch zwei Monate im Jahre, im Februar und März, zu quälen. Und, denken Sie, vierzehn Tage(!) war ich gezwungen auf meinem Divan zu liegen, vierzehn Tage habe ich keine Feder in die Hand nehmen können. Jetzt, während der letzten vierzehn Tage, muss ich fünf Druckbogen schreiben! Und liegen müssen, wenn man organisch ganz gesund ist, nur darum, weil man weder stehen noch sitzen kann, ohne dass sofort Krämpfe kommen, sobald man sich vom Divan erhebt! —

Nun beantworte ich Ihre Worte: Sie schreiben, es wäre besser, wenn ich in Staatsdienst träte; kaum. Mir ist dort besser, wo ich mehr Geld bekommen kann. In der Litteratur habe ich schon einen solchen Namen, dass ich (wären nicht die Schulden) immer ein sicheres Stück Brot, ja sogar ein süsses, reichliches haben könnte, wie es ja auch in continuo bis zum letzten Jahr der Fall war. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen von meinen gegenwärtigen litterarischen Geschäften erzählen, und Sie werden daraus ersehen, wie sich alles verhält. Vom Auslande aus, da ich durch die Umstände bedrängt war, stellte ich Katkow den für mich niedrigsten Preis, d. h. 125 Rubel für den Druckbogen ihres Blattes, 150 vom Format des „Sowremjennik“. Sie waren einverstanden. Später erfuhr ich, dass sie mit Freuden einstimmten, weil sie für dieses Jahr nichts Belletristisches hatten. Turgenjew schreibt nichts, und mit Leo Tolstoi haben sie sich zerstritten. Ich bin als Lückenbüsser erschienen (das alles weiss ich aus sicherer Quelle), sie haben mit mir aber schrecklich laviert und politisiert. Die Sache ist die, dass sie schreckliche Knicker sind. Der Roman kam ihnen gross vor, und es schreckte sie für 25, ja möglicherweise 30 Druckbogen zu 125 Rubel zu zahlen. Mit einem Wort: ihre ganze Politik lag darin (sie hatten schon zu mir geschickt), den Preis per Bogen herabzusetzen; die meine lag darin, ihn zu steigern. Und jetzt ist ein stummer Kampf zwischen uns, sie wollen offenbar, dass ich nach Moskau komme. Ich aber halte aus. Folgendes ist dabei mein Zweck: Hilft Gott, so wird dieser Roman ein grossartiges Ding. Ich möchte, dass nicht weniger als drei Teile davon (d. h. die Hälfte des Ganzen) gedruckt werden. Der Effekt wird damit erreicht sein, dann erst fahre ich nach Moskau und sehe zu, wie sie mir was abreissen wollen? Im Gegenteil, es kann sein, dass sie hinzufügen. — Das wird zu Ostern sein. Ausserdem trachte ich, dort gar kein Geld vorauszunehmen, drücke mich zusammen und lebe wie ein Bettler, werde nur das Nötigste verbrauchen; wenn ich aber vorausnehme, so bin ich moralisch nicht mehr frei, wenn ich später endgiltig über das Honorar mit ihnen verhandle. Vor zwei Wochen ist der erste Teil meines Romans im ersten Januarheft des Russkij Wjestnik erschienen. Er heisst: „Schuld und Sühne“. Ich habe schon viele entzückte Äusserungen darüber gehört. Es sind kühne und neue Sachen darin.“

Im weiteren Verlauf des Briefes thut Dostojewsky einiger Privatangelegenheiten Wrangels Erwähnung und schliesst: „Übrigens bin ich sehr froh darüber, dass Sie unser intimes russisches, geistiges und bürgerliches Leben so sehr interessiert. Mir ist das als Ihrem Freunde sehr angenehm, obwohl ich Ihnen nicht in allem beipflichte. Sie sehen vieles ein wenig exklusiv an. Schöpfen Sie Ihre Kenntnisse nicht aus ausländischen Zeitungen? Dort wird systematisch alles verunglimpft, was sich auf Russland bezieht. — Nun, das ist eine umfangreiche Frage. Man kommt meiner Ansicht nach, wenn man im Auslande lebt, thatsächlich unter den Einfluss der auswärtigen Presse. Sonst aber fühle ich, dass ich in vielem und sogar sehr mit Ihnen übereinstimme usw.“

Ein Brief vom 9. Mai 1866 lautet: „Bester Alexander Jegorowitsch! Ich habe mich mit der Antwort verspätet und eile nun, das Versäumte nachzuholen. Glauben Sie mir, Sie unveränderlicher Freund Alexander Jegorowitsch, das Gewissen plagt mich selber, und wäre Ihr Brief nur um 8 Tage früher gekommen — ich hätte Ihnen sofort alles geschickt. Lachen Sie nicht, wenn ich so spreche. Hier meine Situation. Den ganzen Winter habe ich wie ein Anachoret gelebt, habe gearbeitet, meine Gesundheit zerstört, von Kopeken gelebt und doch 1500 Rubel ausgegeben. — Wohin sind sie gekommen? Ja, man reisst alles nur so von mir! In der Charwoche bin ich zu Katkow nach Moskau gefahren, um 1000 Rubel voraus zu nehmen.[22] Mein Zweck war der, so schnell als möglich nach Dresden zu fahren, und dort drei Monate sitzen zu bleiben und meinen Roman ganz ungestört zu vollenden. Anderswo, hier in Petersburg, kann ich ihn unmöglich vollenden. Die Anfälle nehmen zu (was im Auslande nicht der Fall ist). Die Gläubiger aber, je mehr man ihnen zahlt, desto zudringlicher werden sie. Indessen sollten sie mir dafür dankbar sein, dass ich nach meines Bruders Tode die Wechsel auf meinen Namen schreiben liess und einen Teil schon bezahlt habe. Hätte ich aber die Wechsel nicht auf mich schreiben lassen, so hätten sie gar nichts bekommen. — Allein die Sache hat sich so gewendet, dass diesmal zur Erteilung des Passes ins Ausland besondere Formalitäten nötig wurden, sich dadurch alles hinauszog, der Kurs zu fallen begann und, was in der Osterwoche noch möglich war, jetzt undenkbar ist. Inzwischen haben die Gläubiger die Klage eingereicht und so ist mein Tausender in Rauch aufgegangen.

Ich kann unbedingt nicht in Petersburg leben. Dennoch sitze ich da und setze meinen Roman mit dem Aufgebot aller Kräfte fort. In diesem Augenblick ist er — meine einzige Hoffnung. Ich werde dafür noch 1500 Rubel zu bekommen haben, vielleicht auch mehr; später aber gebe ich ihn für die zweite Auflage auch durchaus nicht um weniger als 1500 (man handelt schon darum). Von Katkow aber werde ich nicht früher als im Juli Geld herausbekommen. So werde ich Ihnen das Ihre unbedingt im Juli schicken. Entsteht aber die geringste Möglichkeit es früher zu senden (das aber kann leicht geschehen, da die Buchhändler schon um die zweite Auflage handeln, ehe der Roman vollendet ist), so schicke ich gleich. Sie aber bitte ich, mir, wenn auch nur in zwei Worten, meine vorjährige Schuld in Reichsthalern zu notieren, da ich mein Notizbuch verloren habe und mich der Summe nur annähernd, aber nicht genau entsinne. Ich füge hinzu, dass es mir peinlicher ist, als Ihnen, dass ich es Ihnen jetzt nicht schicken kann. Sie werden mir gewiss den Vorwurf machen, warum ich andere befriedigt habe und nicht Sie? Alles was ich zu meiner Entschuldigung sagen kann ist, dass es ohne Vorbedacht geschehen ist; sie sind neben mir und haben mich so bedrängt, dass ich nicht zu Atem kam — so habe ich alles willenlos hingegeben usw.“ —

Anknüpfend an diesen Brief erzählt Strachow aus seiner Erinnerung, dass der Eindruck des Romans ein ungeheurer war, dass gesunde Leute fast krank davon wurden, nervenschwache aber die Lektüre des Buches aufgeben mussten. Was aber die grösste Sensation machte, war der Umstand, dass zur nämlichen Zeit, als der Teil des Romans erschien, in welchem sich die Beschreibung des Mordanschlages Raskolnikows befindet, ein junger Student in Moskau unter nahezu genau denselben Umständen einen Mord vollbrachte. Es ist dies wohl ein Hinweis auf die damals in der Luft schwebenden falschen Prinzipien, nach welchen alle Mittel erlaubt sind, um das Böse aus der Welt zu schaffen; ein Miasma, das Dostojewsky schon in Sibirien erkannt hatte, als er jene oben angeführten Worte schrieb.

Im Herbste des Jahres 1866 sollte eine Gesamtausgabe von des Dichters bis dahin erschienenen Werken veranstaltet werden. Der Herausgeber, Stellowsky, ein Mensch, welcher das Talent anderer auf die schändlichste Weise ausbeutete, hatte dem Dichter unter anderen folgende Bedingung gemacht: Dostojewsky reiht in diese Sammlung eine Erzählung ein, welche noch nirgends gedruckt worden ist, und sendet sie bis Ende Oktober ein. Für diese Gesamtausgabe samt der neuen Erzählung zahlt Stellowsky dem Dichter 3000 Rubel. Kommt aber das neue Werk um einen Tag später, so erhält Dostojewsky für die Gesamtausgabe kein Honorar, und das Recht, eine Gesamtausgabe zu veranstalten, bleibt für alle Zeiten Stellowsky. Der Dichter hatte nun die Erzählung „Der Spieler“ niederzuschreiben begonnen, war aber durch die Schuldenlast, welche seines Bruders Tod auf ihn gewälzt hatte, so beunruhigt, dass er fürchten musste, nicht die nötige Sammlung zur Arbeit zu finden. Ein Brief aus Dresden an N. Strachow, sowie die Erzählung, welche uns Anna Grigorjewna davon machte, mögen die Schilderung dieser Situation ergänzen. Er schreibt:

„Stellowsky hat im Sommer 1865 meine Werke auf die folgende Weise erworben: Ich war in entsetzlichen Verhältnissen. Nach dem Tode meines Bruders im Jahre 1864 hatte ich viele seiner Schulden auf mich genommen und hatte 10000 Rubel vom Eigenen (welche ich von einer Tante als Erbteil bekam) auf die Fortsetzung der Herausgabe der „Epocha“ — meines Bruders Journal — zu Gunsten seiner Familie verwendet, ohne den geringsten Anteil und ohne das Recht zu haben, meinen Namen als Redakteur auf dem Umschlag des Blattes anzubringen. Das Blatt aber fiel, es musste aufgegeben werden; dennoch setzte ich die Bezahlung der Schulden meines Bruders sowie des Blattes fort. Wie viele Wechsel habe ich da ausgestellt! Unter anderen (sofort nach meines Bruders Tode) einem gewissen D.... Dieser D.... war zu mir gekommen und hatte mich angefleht, des Bruders Wechsel (er war sein Papierlieferant) auf meinen Namen zu schreiben, und gab mir sein Ehrenwort, dass er so lange warten würde, als es mir beliebe. Aus Dummheit that ich es.

Im Sommer 1865 fängt man an, mich mit den Wechseln D.s und eines anderen (ich erinnere mich seines Namens nicht) zu verfolgen. Von der andern Seite präsentierte Gawrilow, der damals in der Druckerei des Pratz arbeitete, ebenfalls einen Wechsel auf 1000 R., den ich ihm ausgestellt hatte, da ich Geld für die Herausgabe jenes, nun fremden, Journals brauchte .... und da, plötzlich, zur selben Zeit, sendet Stellowsky zu mir und lässt mir vorschlagen, ob ich ihm nicht meine sämtlichen Werke, samt einem ganz neuen Roman, um 3000 Rubel verkaufen wolle usw. usw., d. h. also unter den demütigendsten Bedingungen. Wartete ich nur ein wenig, so bekam ich von den Buchhändlern für das Recht der Publikation wenigstens das Doppelte, liess ich mir aber ein Jahr damit Zeit, dann bekam ich sicher das Dreifache, denn ein Jahr später wurde die zweite Auflage von „Schuld und Sühne“ allein gegen 7000 Rubel Schulden eingetauscht (immer Journalschulden — an Bazunow, Pratz und einen Papier-Agenten). Auf diese Weise habe ich für des Bruders Zeitschrift und seine Schulden 22 oder 23000 Rubel verbraucht, d. h. mit meiner Arbeit ausgezahlt, und habe jetzt noch gegen 5000 auf mir lasten. Stellowsky gab mir damals 10-12 Tage Bedenkzeit. Das war auch die Klagefrist für den Schulden-Arrest. Dazu müssen Sie wissen, dass meine Wechsel an D.... von einem gewissen Staatsrat B. (er hatte ehemals auch geschriftstellert, Goethe übersetzt, ist jetzt, wie es scheint, Friedensrichter auf der Wassilewsky-Insel) präsentiert wurden. In diesen 10 Tagen schlug ich mich überall herum, um Geld für die Auslösung der Wechsel zu bekommen und mich dadurch von dem so schimpflichen Handel mit Stellowsky zu befreien. Auch bei B. war ich achtmal, fand ihn aber nie zu Hause. Endlich erfuhr ich durch den Viertelsvorsteher (Quartalnij), den ich kennen lernte, dessen Namen ich vergass, dass B. ein alter Freund Stellowskys sei, seine Geschäfte führe usw. Da willigte ich ein, und wir verfassten jenen Kontrakt, dessen Kopie in Ihren Händen ist. Ich bezahlte D...., Gawrilow und die anderen und reiste mit dem Rest von 35 Halbimperialen ins Ausland.

Im Oktober kam ich mit dem im Auslande begonnenen Roman „Schuld und Sühne“ zurück, nachdem ich mit dem Russkij Wjestnik (Katkow) in Verbindung getreten war und von diesem schon einiges Geld voraus erhalten hatte. Da ich im Sommer den Kontrakt mit Stellowsky unterfertigt hatte, sagte ich diesem geradeaus, dass ich nicht imstande sein würde, den ihm versprochenen Roman bis zum 1. November 1865 zu vollenden. Er erwiderte mir, dass er dies auch nicht verlange und nicht vor einem Jahre die Publikation zu veranstalten gedenke, bat mich aber, zum 1. November 1866 zuverlässiger zu sein. Dies alles wurde mündlich und unter vier Augen verabredet, aber das schreckliche Pönale, wenn ich zum 1. November 1866 nicht fertig werde, blieb im Kontrakt.“

Die Ergänzung zu dieser Kontraktsgeschichte erzählte uns Anna Grigorjewna selbst. Der Dichter hatte nämlich den schon im Jahre 1863 geplanten und in vielen kleinen Notizen, namentlich im Gedächtnisse festgehaltenen Roman „Der Spieler“ Anfang Oktober 1866 zu schreiben begonnen und verlor, da die fatale Frist immer näher heranrückte, so sehr den Mut, dass seine Freunde befürchteten, er werde die Arbeit gar nicht machen können. Da machte ihm Miljukow den Vorschlag, sich einer Hilfskraft zum Schreiben zu bedienen. Dostojewsky weigerte sich anfangs eigensinnig. Doch setzten sich die Freunde mit dem Professor der Stenographie P. M. Olchin in Verbindung, erfuhren von ihm den Namen seiner besten Schülerin A. G. Snitkina und besuchten deren Familie, um dem jungen Mädchen ihre Vorschläge zu bringen. Sie hatte kurz vorher ihre Lehrjahre im Mariengymnasium vollendet und bald darauf ihren Vater verloren. Aus dem Wunsche heraus, ihren Kummer durch Arbeit zu lindern und auch um etwas zu verdienen, entschloss sie sich dazu, des Professors Vorschlag, der ihr durch Dostojewskys Freunde zukam, anzunehmen. Als sie gar hörte, wem sie in der Arbeit helfen sollte, da war das Mädchen voll Freude und Begeisterung, allein auch voll Angst, ob sie wohl dem grossen Dichter, den sie schon sehr bewunderte, genügen würde. Sie trat zitternd bei ihm ein, wurde jedoch bald durch einige freundliche Worte, namentlich aber dadurch ermutigt, dass man sofort an die Arbeit ging und der Dichter sie als Person gar nicht bemerkte. Es waren vom 4. Oktober bis 1. November noch sieben Druckbogen zu schreiben und alle ins Reine zu bringen. Anna Grigorjewna pflegte gegen die Mittagsstunde zu Theodor Michailowitsch zu kommen, wo sie zwei bis drei Stunden miteinander arbeiteten. Zuerst las Dostojewsky das in der von ihr mitgebrachten Reinschrift durch, was er gestern diktiert hatte, dann diktierte er weiter. So ging es bis zum 30. Oktober fort.

Nun war die Erzählung vollendet und wurde an Stellowsky durch Eilboten gesandt. Er war verreist, unauffindbar. Sandte man das Päckchen durch die Post, so kam es einige Tage später in Stellowskys Hände, und Dostojewsky war verloren. Da verfiel die junge, sehr gewandte Stenographin auf die Idee, das Manuskript in das Polizeirayon-Amt zu tragen und sich dort eine Empfangsbestätigung für den Empfänger mit dem Tagesdatum ausstellen zu lassen. Das geschah und der Dichter war gerettet. Die dreitausend Rubel, welche kontraktlich festgesetzt worden waren, hatte Stellowsky mit einer Hand als Herausgeber bezahlt, mit der anderen als Gläubiger der aufgekauften Wechsel, die ihm dazu gedient hatten, den Dichter in die Enge zu treiben, wieder eingestrichen.

So war durch Anna Grigorjewnas flinke Arbeitskraft, mehr noch durch ihre kluge und findige Art, des Dichters Interessen zu fördern, ihm eine unentbehrliche Helferin erstanden, die er nicht mehr missen konnte. Gegen das Ende ihrer Arbeit sprach er einmal den Wunsch aus, sie in ihrem Hause zu besuchen, ihre Mutter und den Grossvater, der mit ihnen lebte, kennen zu lernen. Schon nach wenigen Besuchen erklärte der Dichter Anna Grigorjewna und ihren Angehörigen, dass er seine Gehilfin auch gern zur Lebensgefährtin machen möchte. Das junge Mädchen, das mit grosser Verehrung zum Dichter aufblickte, hatte sich niemals eine solche Annäherung träumen lassen. Auch war Dostojewsky physisch nichts weniger als anziehend. So rief der Antrag des 46 jährigen Mannes in der 20 jährigen, sicher auch lebenslustigen Stenographin anfangs ein erschrecktes Staunen hervor. Doch war es keine kleine Versuchung für sie, an der Seite eines Schriftstellers als Gattin zu wandeln, dessen Ruhm in stetem Steigen begriffen war, an dessen Arbeiten sie thatsächlich und praktisch so viel Anteil nehmen durfte, um ihnen auch Erfolg zuzuführen und ihn, den Dichter, mit der Hoffnung eines sorgenlosen Alters zu beglücken. Sie willigte also ein. „Als ich seine Gattin wurde“ — sagte sie uns —, „da empfand ich nur Verehrung für ihn, aber nach einem Jahre, als ich so viel Liebe und Güte von ihm erfahren hatte, da liebte ich ihn bereits.“ Die Vermählung fand am 15. Februar 1867 statt, nicht ohne vieles Abraten von Seiten der Familie Michael Michailowitsch, welche eine Heirat des Dichters als ihren Interessen schädlich betrachten musste. Auch hier wusste die Klugheit der Neuvermählten, welche eine böse Ehezeit fürchten musste, wenn man in Petersburg blieb, den Dingen eine energische Wendung zu geben, indem sie zur Abreise antrieb, welche ja ohnedies durch die Klagen der Gläubiger und den drohenden Schuldenarrest ratsam geworden war.

Dieser Ehe entsprossen vier Kinder: Sophie, welche am 22. Februar 1868 in Genf geboren wurde und ebenda am 12. Mai desselben Jahres starb. Die zweite Tochter, Ljubow, wurde am 14. September 1869 in Dresden geboren und lebt bei ihrer Mutter teilweise in Petersburg, teilweise auf einer Besitzung in Stara Russa. Ein Sohn Theodor, welcher am 16. Juli 1871 in Petersburg geboren wurde, ist heute der Besitzer eines Gutes in der Krim und eines Rennstalles, dessen Racestuten schon viele Ehren und Preise gewonnen haben. Ein viertes Kind, Alexei, wurde am 12. August 1875 in Stara Russa geboren und starb in Petersburg im Mai 1878.

Share on Twitter Share on Facebook