VI. Überlieferung und Textgeschichte des Liedes der Nibelunge.

Das Nibelungenlied ist uns erhalten in zehn vollständigen[49] Handschriften, außerdem in Bruchstücken von siebzehn verschiedenen Handschriften. Die Pergamenthandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts haben wir uns gewöhnt (seit Lachmann) mit großen, die Papierhandschriften des 14./15. Jahrhunderts und die einzige jüngere Pergamenthandschrift (d aus dem 16. Jahrhundert) mit kleinen lateinischen Buchstaben zu bezeichnen und zu benennen. Die vollständigen Handschriften sind A B C D I a b d h k, die Fragmente E F H K L M N O Q R S U Y Z g i l. In allen vollständigen Handschriften mit Ausnahme von k, die überhaupt eine Sonderstellung einnimmt, schließt sich die „Klage“ dem Liede unmittelbar an; von den Fragmenten bietet nur N auch ein Bruchstück der Klage; dafür sind uns Stücke dieses Gedichtes in Resten von drei andern Handschriften (G, W und X) noch erhalten, in denen natürlich auch das Nibelungenlied vorhanden gewesen sein muß[50].

[S. 102]

Die Handschrift k (im Besitze des Piaristen-Kollegiums zu Wien) ist eine völlige Neubearbeitung des alten Textes in Stil und Sprache des 15. Jahrhunderts, steht also im Grunde auf keiner andern Linie als z. B. Simrocks Übertragung ins Neuhochdeutsche; jedoch der Umstand, daß sie Vorlagen benutzt hat, die uns nicht mehr zugänglich sind, verleiht ihr auch für die Kritik des alten Textes einigen Wert.

Die übrigen 26 Handschriften ordnen sich nach dem Titel, den das Epos am Schlusse sich selbst gibt, leicht in zwei große Gruppen: der Nibelunge nôt heißt es in A B D H I K L M N O Q S Z b d g h i l (dazu W), der Nibelunge liet in C E F R U Y a (dazu G X). Noch eingehendere Gruppierung läßt sich durch genauere Betrachtung der vollständigen Handschriften gewinnen. Diese sind:

A aus dem 13./14. Jahrhundert, ursprünglich auf Schloß Hohenems, jetzt in München;

B aus dem 13. Jahrhundert, in St. Gallen;

C aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, ursprünglich auf Schloß Hohenems, dann im Besitze des Freiherrn v. Laßberg, jetzt auf der fürstenbergischen Bibliothek in Donaueschingen;

D aus dem 13./14. Jahrhundert, in München;

I aus dem 14. Jahrhundert, stammt aus Tirol, jetzt in Berlin;

a, früher in Wallerstein, jetzt in Maihingen (bayr. Regierungsbezirk Schwaben);

b, Hundeshagens Handschrift, jetzt in Berlin;

d, die im Auftrage Kaisers Maximilians I. 1502–17 hergestellte große Sammelhandschrift, früher auf Schloß Ambras, jetzt in Wien;

h, Meusebachs Handschrift, jetzt in Berlin; sie ist eine Abschrift von I und kommt deshalb für die Textkritik nicht in Betracht.

Während die Handschriften der Liet-Gruppe nur in unwesentlichen Dingen voneinander abweichen (so daß die junge a nur zur Ausfüllung der Lücken in der guten alten C herangezogen[S. 103] zu werden braucht), gehen die der Not-Gruppe vielfach stark auseinander: Db gehören zusammen und folgen in den ersten 270 Strophen des Liedes, ebenso im Anfange der Klage seltsamerweise dem Liet-Texte; Id sind einerseits im Eingange des Liedes nicht unwesentlich kürzer als alle übrigen Texte, haben aber andererseits im Verlaufe des Gedichtes im ganzen zwanzig Strophen, die sonst nur dem Liet-Texte eigen sind, in den zugrunde liegenden Not-Text aufgenommen; B gibt, von Kleinigkeiten abgesehen, den Not-Text am reinsten wieder; A hat ihn um volle 61 Strophen, die im Laufe des Gedichtes, hauptsächlich innerhalb der Strophen 340–720 (der Zählung von Bartsch) gestrichen sind, verkürzt.

Da A infolge dieser Streichungen den kürzesten Text bietet, hielt man sie lange Zeit für den Vertreter des ältesten vorhandenen Textes; seit es aber W. Braune (Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, 1900) gelungen ist, nachzuweisen, daß A mit dem Hauptteile von Db, der dem Not-Texte folgt, manche jüngere Änderungen und Fehler gemein hat, kann davon keine Rede mehr sein, vielmehr ist A der Not-Vorlage von Db auf das nächste verwandt und innerhalb der 270 Strophen, in denen Db einer Liet-Vorlage folgen, der alleinige Vertreter dieser Handschriftengruppe.

Die größte Schwierigkeit macht noch heute die richtige Einordnung der Gruppe Id; im Anfange ist sie kürzer, als alle übrigen Texte und in dieser Beziehung, wie ebenfalls Braune nachgewiesen hat, altertümlicher als alle diese. Wie aber soll man die zwanzig zum Liet-Texte stimmenden Strophen beurteilen? Sie sind im allgemeinen ganz lose in den Not-Text eingefügt; von den vierzehn Stellen, auf die sie sich verteilen, stimmen elf genau zur Strophenfolge des Liet-Textes; an den drei andern Stellen ist eine kleine Verschiebung eingetreten, die dem Zusammenhange nicht günstig ist: die Strophen stehen (nach der Zählung von Bartsch)

hinter  969 statt hinter  964 ( um 5 Strophen zu spät ),  
 998 1001 ( 3 früh ) und
1571 1573 ( 2 ).  

Eine Mittelstellung zwischen den beiden Hauptgruppen nimmt also Id auf jeden Fall ein, es fragt sich nur, ob eine durch Entwicklung der Texte bedingte oder eine äußerliche. Braune entscheidet sich für das erstere und erblickt in Id eine Vorstufe[S. 104] zu dem Liet-Texte; ich neige mich der andern Auffassung zu, hauptsächlich weil die Ordnung der Strophen an den drei erwähnten Stellen um ein weniges ohne ersichtlichen Grund abweicht; das scheint sich am besten aus äußerlicher Entlehnung zu erklären: der Besitzer der Grundhandschrift der Gruppe Id kannte den Liet-Text und vermißte in ihr einige diesem allein eigene Strophen; er trug sie auf den Blatträndern nach; beim Abschreiben wurden sie in den Text eingerückt, und dabei kamen nun jene kleinen Irrtümer vor, die sich jedenfalls innerhalb des Raumes einer Blattseite halten.

Einfacher ist die eigentümliche Textmischung der Gruppe Db zu erklären: in ihrer Grundhandschrift war der Anfang des Liedes (ebenso der Anfang der Klage) verloren gegangen und durch Abschrift aus einer andern Handschrift, die dem Liet-Texte angehörte, ersetzt worden. Das war möglich, da die beiden Haupttexte doch nicht so stark voneinander abweichen, daß man die Verschiedenheit auf den ersten Blick erkennen müßte; auch in neuerer Zeit ist solche Textmischung vorgekommen, vgl. S. 124. Das aus dem Liet-Texte entnommene Anfangsstück des Liedes umfaßt ungefähr doppelt soviel Raum wie das eben daher entnommene Anfangsstück der Klage; der den Not-Text bietende Hauptteil des Liedes ist annähernd achtmal so lang wie der Eingang; daraus darf man vermuten, daß von der Grundhandschrift die 1., 2. und 19. Lage verloren gegangen und ungenau ersetzt waren.

Die sechs Haupthandschriften des Not-Textes ordnen sich sonach in zwei Gruppen: auf der einen Seite Id mit altertümlich kurzem Eingang, aber zwanzig zugesetzten Strophen; auf der andern Seite ABDb mit längerm Eingang (wie ihn auch der Liet-Text bietet); Db, deren alter Eingang ja verloren ist, werden durch die nahe Verwandtschaft mit A bei dieser Gruppe festgehalten.

Wie verhalten sich nun aber die beiden Hauptgruppen „Liet“ und „Not“ zueinander? Geht die eine auf die andere zurück, oder weisen beide auf ein verlorenes Original? Von den drei möglichen Antworten, die alle drei ihre Vertreter gefunden haben, können wir eine von vornherein ablehnen: die „Not“ geht keinesfalls auf das „Liet“ zurück, denn sie ist altertümlicher als dies; vor allem aber steht im Not-Texte die „Klage“ noch ziemlich selbständig hinter dem Liede, während[S. 105] das „Liet“ die beiden Gedichte möglichst untereinander auszugleichen strebt; so gehen denn zahlreiche Mehrstrophen von Ca auf Anregungen der „Klage“ zurück. So bleiben zwei Möglichkeiten: entweder das „Liet“ beruhte auf der „Not“, oder beide nebeneinander auf einem verlorenen Original; der ersteren neigt sich Braune zu, während ich der zweiten den Vorzug gebe auf Grund folgender Überlegung: der Liet-Text muß spätestens zu Anfang des 13. Jahrhunderts abgeschlossen sein, denn er hat die alte einfache Angabe der Klage, daß Ute, die Mutter der burgundischen Könige, ihre alten Tage im Kloster Lorsch verbrachte, breit ausgesponnen und stellt die Behauptung auf, sie habe es ausgestattet (Holtzmann 1158)

mit starken rîchen urborn, als ez noch hiute hât,

daz klôster dâ ze Lôrse, des dinc vil hôhe an êren stât;

nun ist aber dies altberühmte Kloster durch seinen letzten Abt Konrad, der 1216 zuerst genannt wird, derartig heruntergebracht worden, daß er 1229 abgesetzt, und das Stift an Mainz übergeben wurde; ein so lautes Rühmen, wie wir es in C finden, war also in und nach dieser Zeit nicht wohl möglich[51]. Dagegen kann die Grundhandschrift des Not-Textes nicht älter als höchstens 1240 sein, denn sie hat 1331 und 1336 den richtigen Ortsnamen Treisenmûre durch den falschen Zeizenmûre ersetzt. Die Stellen fallen in die Partie, die Kriemhilts Reise zu Etzel schildert und dabei innerhalb Österreichs die Tag für Tag berührten Stationen in genauer Folge nennt: Everdingen, Ense, Bechelâren, Medelîche, Mûtâren, Treisenmûre, Tulne, Wiene, Heimburc, Miesenburc. Setzt man Zeizenmûre für Treisenmûre ein, so erhält man eine widersinnige Folge, denn Zeizenmûre liegt bereits östlich von Wien. Derjenige, der es eingeführt hat, kann von Österreichs Geographie keine persönliche Anschauung gehabt haben; nun ist aber Zeizenmûre ein unbedeutendes Dorf, das einem Nicht-Österreicher schwerlich bekannt ist, wenn es nicht einen besondern Ruf hat; einen solchen hat es dadurch erlangt, daß Nithart von Riuwental[S. 106] einen großen Teil seiner österreichischen Dorfgedichte dort spielen läßt; Nithart, dessen Dichten schätzungsweise in die Zeit von 1210–1240 fällt, lebte ursprünglich in Bayern und vertauschte es erst etwa 1230 mit Österreich; vor diesem Zeitpunkte können Nitharts österreichische Dorfgedichte nicht entstanden sein. Vorher dürfte also jener fälschlich in den Not-Text eingeführte Ort außerhalb Österreichs schwerlich bekannt gewesen sein[52].

Ist somit die Grundhandschrift des Not-Textes rund ein Menschenalter jünger als die Existenz des Liet-Textes, so kann dieser nicht auf jenen zurückgehen, und bleibt nunmehr nur die dritte Möglichkeit übrig: beide weisen nebeneinander auf ein verlorenes Original zurück. Dies Original kann nach Ausweis der nahen Übereinstimmung beider Texte vom Not-Texte nicht allzu verschieden gewesen sein; um 1200 erfuhr es zunächst eine Überarbeitung, die im Liet-Texte noch vorliegt. Sie hat den ohnehin schon stark vorherrschenden rittermäßigen Geist noch verstärkt, außerdem aber den Anhang, die Klage, mit dem Liede in größere Übereinstimmung versetzt; den nur auf den letzten Teil passenden Titel „der Nibelunge Nôt“ hat sie durch den richtigern „der Nibelunge Liet“ ersetzt. — Nicht vor 1240, zu einer Zeit, da der ritterliche Geschmack schon im Sinken war,[S. 107] hat ein Jüngerer eine Neubearbeitung des Gedichtes für angezeigt gehalten und dabei über den im allgemeinen Umlauf befindlichen Liet-Text weg auf das Original zurückgegriffen[53]; sein Werk liegt uns im Not-Texte vor. Er folgt dem Original im ganzen recht treu; nur einzelne in spielmannsmäßigem Geschmack gehaltene kleine Szenen dürften vielleicht auf ihn zurückzuführen sein (Dankwart als Verschwender bei der geizigen Brünhilt; Hagens grobes Verhalten gegenüber der jungvermählten Kriemhilt u. dgl.).

Charakteristisch für den spätern Ursprung des Not-Textes ist der Umstand, daß er in keiner seiner zahlreichen Handschriften rein erhalten, sondern überall mehr oder weniger durch den Liet-Text beeinflußt ist: die Gruppe Id bewahrt den alten Anfang, setzt aber die besprochenen zwanzig Strophen zu; die Gruppe ABDb hat umgekehrt (wenn auch nicht in allen Handschriften in gleichem Maße) den erweiterten Anfang von Ca aufgenommen; die Grundhandschrift von Db ist aus dem Liet-Texte ergänzt: die Handschrift B hat einmal zwei Strophen (102. 103 Bartsch) sowie am Schlusse der Klage den Abschnitt über Etzels Verbleib aus dem Liet-Texte aufgenommen u. s. f. Letzterer lag eben allen Schreibern und Hörern fortgesetzt im Ohre; es ist begreiflich, daß Berufsschreiber, die den Liet-Text bereits ein- oder mehrere Male abgeschrieben hatten, bei der Arbeit an einer Not-Handschrift unwillkürlich Lesarten jenes Textes anbrachten: so dürften sich auch die zahlreichen Kreuzungen in den Varianten erklären, die aus keinem organisch entwickelten Handschriftenstammbaum verständlich sind.

Unter Berücksichtigung aller zugehörigen Bruchstücke dürfte sich die spätere Geschichte des Not-Textes etwa in folgender Weise abgespielt haben: zunächst trennte sich vom Hauptzweige der Entwicklung die Stammhandschrift der Gruppe Id; in ältester reinster Form liegt uns diese Textgestalt annähernd vollständig nur in der späten Handschrift d vor; ihr zur Seite stehen das alte Fragment H und das dürftige Fragment O, das der direkten Vorlage von d angehört. Die Handschrift I und die[S. 108] nahe stehenden Fragmente K und Q ändern den alten Text der Gruppe Id in vielen Punkten selbständig; ihnen ist vielleicht noch das Fragment l beizuzählen, das ebenfalls zahlreiche Textänderungen aufweist. — Von der andern Hauptgruppe des Not-Textes stellt B eine vollständige, sehr alte Form dar; ihr zunächst verwandt ist die Grundhandschrift aller übrigen Nothandschriften, auf die zunächst die lückenhafte A und die Fragmente L (daraus abgeschrieben g) und M, sowie die Grundlage der Db-Gruppe zurückgehen; diese wird gebildet durch die recht nahe verwandten Handschriften D und b und Fragmente S, N und Z (wohl auch W der Klage). — Das unbedeutende Fragment i ist nicht sicher einzuordnen.

Die vorgetragene Meinung vom Verhältnis der beiden Nibelungentexte und ihrer Handschriften erhält eine wesentliche Stütze durch das relative Alter der zugehörigen Pergamentcodices. Dies läßt sich bestimmen durch die Art der Einrichtung derselben: die älteste Weise ist, den Text (des Liedes und der Klage) ohne Absetzen von Vers oder Strophe einspaltig über die ganze Seite zu schreiben; so sind C und E (vom Liet-Text) sowie H (von der Id-Gruppe) verfahren. Etwas mehr Übersicht bei größter Ausnutzung des Pergamentes gestattet zweispaltige Einrichtung, bei welcher im Liede die Strophen abgesetzt werden, aber nicht die Verse; sie liegt vor in FRY, B, DNSZ, sowie in auffallend kleinem Format in Q; innerhalb der Klage verfahren diese Codices, entsprechend der andern Versart, verschieden: zweispaltig ohne Absetzen schreibt B (ältere Weise), zweispaltig mit abgesetzten Versen G, DNW (jüngere Weise). Schließlich setzt man auch im Liede die Verse ab; zweispaltig verfahren so AMI, einspaltig LU (kleines Format); innerhalb der Klage schreibt A zweispaltig mit abgesetzten Doppelversen, I dreispaltig mit abgesetzten Versen, beides sichtlich aus räumlichen Gründen; das in kleinem Format gehaltene X schreibt einspaltig mit abgesetzten Versen. Ganz großes Format, dreispaltig eingerichtet, haben O und K; jenes setzt gar nicht ab und bringt hundert, dies setzt nur Strophen ab und bringt sechzig Strophen auf einem Blatte unter; K bringt also das ganze Nibelungenlied auf fünf Quaternionen, O gar nur auf drei Quaternionen unter; das weist darauf hin, daß sie beide (wie das aus O abgeschriebene d) Sammelhandschriften waren; ihre Einrichtung hat mit derjenigen der übrigen Handschriften nichts gemein, und sie sind gewiß nicht so alt, wie ihr Einrichtungsprinzip anzudeuten scheint.

[S. 109]

Der in der Handschrift k vorliegende, im 15. Jahrhundert modernisierte Text beruht in der Hauptsache auf einem Exemplare des Liet-Textes, das im Anfange zwei größere Lücken aufwies; diese sind ersetzt aus einer Handschrift des Not-Textes, die in nächster Verwandtschaft zu A stand, wie der gleiche Strophenbestand des Einganges zeigt.

Das den beiden um 1200 und 1240 entstandenen Bearbeitungen zu Grunde liegende Original hat, wie wir gesehen haben, die angehängte Klagedichtung bereits besessen; auch war es in bezug auf die Technik der Metrik und des Reimes schon ziemlich hoch entwickelt, denn die überwältigende Mehrzahl aller Verse der beiden Bearbeitungen hat ihm bereits angehört. Es kann also seine Gestalt nicht allzulange vor der ersten Bearbeitung und keinesfalls vor dem Jahre 1170 gewonnen haben; die um 1200 vorgenommene Bearbeitung ist nicht durch formale, sondern durch inhaltliche Bedenken, in erster Linie durch das Streben, Lied und Klage miteinander auszugleichen, veranlaßt worden.

Derjenige, der das durch Vergleichung der beiden Bearbeitungen uns noch im wesentlichen erreichbare Original geschaffen hat, ist nun noch nicht derjenige, den wir als den eigentlichen Nibelungendichter zu betrachten haben, sondern es ist vermutlich derselbe, der die Klage angehängt hat; dieser „Klagedichter“ hat gewiß auch seine Tätigkeit auf das Lied selbst ausgedehnt; sicher hat er ihm die vierzehn[54] Strophen eingefügt, die den Bischof Pilgrim erwähnen (1295–99. 1312. 1330. 1427. 1428. 1495. 1627–30 Bartsch); sie lassen sich ohne jede Schwierigkeit herausheben.

Ein Nibelungenlied mit Anhang (Klage) setzt notwendig ein Nibelungenlied ohne einen solchen voraus; wir kommen also ohne Schwierigkeit noch um eine Stufe weiter zurück und erreichen damit endlich die Tätigkeit des Mannes, den wir als den eigentlichen Nibelungendichter ansprechen dürfen. Von ihm dürfen wir behaupten, daß er ein Mann ritterlichen Standes und ein Österreicher war, da auf ihn doch wohl die genaue und sachkundige Beschreibung der Reise Kriemhilts zurückgeht; auch die oft durchblickende Abneigung gegen die Bayern macht das wahrscheinlich. Wien ist ihm eine wichtige und bedeutende Stadt, in ihr läßt er Kriemhilts zweite Hochzeit gefeiert werden; es ist aber, wenn auch alt, doch erst durch den ersten Herzog Österreichs,[S. 110] Heinrich († 1177), wieder aus jahrhundertelangem Verfall erhoben worden; Heinrichs Sohn und Nachfolger war der bekannte Leopold I. († 1194), der Gönner Reinmars des Alten, des Lyrikers; unter ihm erlangte der Wiener Hof jene Bedeutung als Pflegstätte edler Kunst, als welche er in der deutschen Literaturgeschichte bekannt ist. So werden wir schwerlich weit neben das Ziel treffen, wenn wir annehmen, daß der eigentliche Nibelungendichter unter Leopold I. und dem Einflusse seines Hofes gewirkt hat, also etwa 1180–1190. An seinem Werke ist manches auffällig, was schon bei der Besprechung des Inhalts erörtert worden ist; sein Anteil an der Stoffmasse ist bedeutend: der ganze erste Teil des Liedes und der Anfang des zweiten bis gegen Str. 1526 (vgl. nachher) ist formal ganz von ihm gestaltet und auch inhaltlich von ihm mit Ausnahme der Grundzüge im wesentlichen erst geschaffen; auf ihn gehen u. a. das Prinzentum Siegfrieds und die durch dasselbe bedingten Szenen, auf ihn die Umschaffung des Spielmanns Volker in einen ritterlichen Sänger zurück. In der Schlußpartie des Epos benutzte er offenbar eine im wesentlichen bereits fertig vorliegende Darstellung (die älteste „Nibelunge Not“), die auch dem Verfasser der Thidrikssaga bekannt gewesen ist; er hat sie stark überarbeitet und durch Einfügung neuer Szenen und Personen (besonders des Dankwart) beträchtlich erweitert. Sein Anteil läßt sich mit Hilfe der Thidrikssaga ziemlich genau bestimmen: den Fährmann hat er aus einem einfachen, um Lohn arbeitenden Manne in einen Grenzwächter der Bayernfürsten umgeschaffen; die Verfolgung durch die Bayern und der daraus sich ergebende Kampf ist sein Werk, ebenso die Angabe, daß die Burgunden mit einem Heere von zehntausend Mann nach dem Hunnenlande gezogen seien; endlich gehört ihm im wesentlichen die Reihe von Szenen, die im einzelnen so prächtig ausgeführt sind, jedoch mit dem Geiste der ganzen Geschichte vielfach im Widerspruch stehen: sie setzen ein unmittelbar nach dem feindseligen Empfang durch Kriemhilt mit der Erzählung, daß Hagen und Volker sich dem Palaste der Königin gegenüber herausfordernd hingesetzt hätten, und schließen mit der unbegreiflichen Entlassung der Hauptgegner aus dem Saale; innerhalb dieser Partie blickt nur selten die alte Grundlage durch, deren Gang etwa der folgende gewesen sein muß: die Nibelunge richten sich, nachdem man sie nächtlicherweile zu überfallen versucht hat, in dem ihnen angewiesenen Hause zur[S. 111] Verteidigung ein; um Etzel zum Angriff fortzureißen, opfert Kriemhilt ihr Söhnchen, indem sie Hagen zu seiner Tötung reizt, und nun folgt unter Hohnreden der Nibelunge der Angriff der hunnischen Scharen. Der Rest der Dichtung, im wesentlichen aus den vier Abschnitten: Irings Kampf, Saalbrand, Rüdegers Kampf, Dietrichs Kampf bestehend, muß im großen und ganzen der Vorlage entnommen sein.

Dieser eigentliche Nibelungendichter ist nun natürlich eben derjenige, der die auffällige lyrische Form für das Epos gewählt hat, eine Form, die nicht sein Eigen ist, sondern in den nicht lange vorher entstandenen Liedchen des sogenannten Kürnbergers bereits vorliegt. Pfeiffer hat aus dieser Übereinstimmung der Formen geschlossen, eben dieser Kürnberger sei der Dichter unseres Liedes; wäre dies richtig, so wäre uns damit nicht weiter geholfen, denn wir wissen vom Kürnberger nur, daß er ein Österreicher war, und kennen nicht einmal seinen Personennamen. Der Schluß ist aber nicht zwingend, denn seine Voraussetzung, daß eine bestimmte Strophenform Eigentum ihres Schöpfers sei, hat nie in dem angenommenen Umfang gegolten, vor allem nicht in so alter Zeit; endlich aber erklärt er ja die Sonderbarkeit, daß ein Epos lyrische Form aufweist, überhaupt nicht. Die einzige plausible Erklärung ist vielmehr die, daß der Nibelungendichter die benutzte Form in seinen Quellen, denen er mehr oder weniger wörtlich folgt, bereits vorgefunden hat, und daß die Quellen volkstümliche Balladen gewesen sind.

Daß das Nibelungenlied auf derartige Volksgesänge zurückgehe, hat bereits der erste Gelehrte, der sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigte, Karl Lachmann, 1816 in seiner Schrift „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ behauptet. In der Durchführung des Gedankens ist er dann freilich weit über das Erreichbare und sogar über das Wahrscheinliche hinausgegangen: das Gedicht sollte entstanden sein aus einer Sammlung von zwanzig ursprünglich selbständigen Liedern, alle von ein und derselben Form, die inhaltlich aufeinander folgten[55] und durch Verbindungsstücke zu einem Ganzen zusammengeschlossen worden seien. Die Verteidiger und Ausgestalter dieser Liedertheorie (Müllenhoff, Rieger, Busch, Henning) haben die großen Unwahrscheinlichkeiten, die darin liegen, daß die[S. 112] Lieder alle die gleiche Form haben, alle im wesentlichen unverändert im Epos stecken sollen, und zum Teil Erzählungsabschnitte ohne selbständigen Wert behandeln, nicht zu beheben vermocht; in der Form, wie Lachmann seine Theorie durchzuführen versucht hat, muß sie heute als überwunden gelten. Anerkannt aber darf heute noch werden, mit welch sicherem Gefühl Lachmann die einzelnen Unebenheiten des großen Gedichtes erkannt und benutzt hat.

Eine Quelle, und zwar die wichtigste, die der Nibelungendichter benutzt hat, ist mit unsern Mitteln noch leidlich zu erkennen; ihr Anfang wird markiert durch das plötzliche Auftreten des Namens „Nibelunge“ im Sinne von Burgunden Str. 1526 (Bartsch); sie umfaßt den ganzen letzten Teil vom Auszuge der Burgunden auf ihre letzte Fahrt bis zu ihrem Untergange; auf sie allein paßt der alte, in der letzten Strophe gegebene Titel „der Nibelunge nôt“.

Diese älteste „Nibelunge nôt“ muß als ein Werk volkstümlichen Ursprunges von geringem Umfange aus der Zeit von 1150–1180 gelten; ihr muß die Strophenform bereits eigen gewesen sein. Sie scheint dasselbe Werk zu sein, dem der Verfasser des Grundstocks der Thidrikssaga seine Kenntnis unserer Sage verdankt; denn wie der erste alte Bestandteil des Liedes Siegfrieds Erscheinen in Worms ist, so schließt in der Saga sich an die Isungsgeschichte Siegfrieds Bekanntwerden mit den Nibelungen an, und von diesem Augenblicke an geben beide Quellen trotz aller beiderseitigen Überarbeitungen und Zusätze bis zum großen Schlußkampfe durchaus parallel laufende Darstellungen. Bis zum Auszuge der Nibelunge nach dem Hunnenlande kann diese alte „Nibelunge nôt“ allerdings kaum mehr als eine notdürftig orientierende Einleitung gegeben haben. Der Nibelungendichter hat sie, überarbeitet und erweitert, seinem Epos zugrunde gelegt; neben ihr hat er vielleicht auch noch andere Quellen gehabt, deren Form und Umfang aber unbestimmt bleibt. Jedenfalls hat er den bei weitem größten Teil des übrigen Gedichtes selbst geschaffen, wie die zahlreichen rein höfischen Szenen ohne echten Sagengehalt beweisen.

Noch eine Frage wäre zu beantworten: wie verhält sich die alte Ballade zu der lateinischen Aufzeichnung unseres Stoffes im 10. Jahrhundert, von der wir durch die „Klage“ Kunde haben? G. Roethe hat die Annahme aufgestellt, daß das Werk des Schreibers Konrad ein Gedicht gewesen sei wie Eckehards Waltharius[S. 113] (eine „Nibelungias“), und daß das Nibelungenlied in seiner Grundlage eine deutsche Nachdichtung jenes Werkes sei; die Möglichkeit ist zuzugeben, aber groß ist sie nicht, denn 1. spricht der Klagedichter nur von einer lateinischen Niederschrift und seitdem entstandenen deutschen Gedichten, was darauf führt, Konrads Arbeit für Prosa zu halten, und 2. ist die Klage ja ein verhältnismäßig junges Anhängsel zum Liede und dürfte eine Verbindung zwischen diesem und Konrads Niederschrift überhaupt erst herstellen (Einfügung des Bischofs Pilgrim).

Die Schicksale unseres großen Epos lassen sich nun im Schema folgendermaßen darstellen:

älteste Nibelunge nôt,
volkstümliche, balladenartige Dichtungen aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts.

 

 

Ritterliches Epos gleichen Titels, in Österreich entstanden etwa 1180–1190.

 

 

Dasselbe um die „Klage“ erweitert und vielleicht etwas überarbeitet, ungefähr 1190–1200.

 

 

 

 

 

 

Vollkommenste Überarbeitung in rein höfischem Sinne, etwa 1200–1210 (der Nibelunge liet), uns durch die Handschriftengruppe Ca erhalten.

 

 

 

 

 

 

Jüngere, treuere und volkstümlichere Überarbeitung, etwa 1240–1250 entstanden, löst das „liet“ in seiner Geltung ab (daher Vulgata), bleibt aber fortgesetzt von ihm beeinflußt.

 

 

 

 

 

 

Handschriftengruppe Id.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unveränderter Zweig derselben, hauptsächlich durch d repräsentiert.

 

 

Handschrift B.

 

 

 

 

Zweig mit selbständigen Änderungen, hauptsächlich durch I repräsentiert.

 

Die Mehrzahl der Vulgata-Handschriften (vollständig, aber verkürzt, nur A.

 

Handschriftengruppe Db.

 

[S. 114]

Kurze Erwähnung verdient noch eine formale Eigentümlichkeit, die für die Beurteilung des Verhältnisses der beiden Hauptzweige nicht ohne Bedeutung ist: nicht selten sind die Cäsuren eines Verspaares durch Reim miteinander verbunden (Cäsurreim); solange innerhalb einer zwei Verspaare umfassenden Strophe nur eins Cäsurreim aufweist, kann er zufällig sein; sobald aber beide Verspaare ein und derselben Strophe gereimte Cäsuren haben, muß das auf Absicht des Verfassers beruhen. Nun sind im Nibelungenliede vereinzelte Cäsurreime zwar nicht gerade häufig, kommen aber doch ab und an vor, und zwar auch so, daß sie für die Vorlage beider Bearbeitungen gesichert sind. Durchgereimte Strophen aber finden sich, vergleichsweise häufig, nur in den Zusatzstrophen des Liet-Textes. Nun sind solche Strophen eigentlich keine Vierzeiler mehr, sondern Achtzeiler mit überschlagenden Reimen, also eine andre Kunstform; mischt sie der Liet-Bearbeiter dem alten Texte unbedenklich ein, so zeigt er damit, daß ihm das Verständnis für ihre Besonderheit noch nicht aufgegangen ist. Dies Verständnis fand sich erst gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts ein; der Not-Bearbeiter bedient sich daher nie der durchgereimten Strophen, und der Interpolator der Gruppe Id hat es vermieden, solche aus dem Liet-Texte herüberzunehmen; dagegen hat derjenige, der den erweiterten Anfang des Liet-Textes in den Not-Text übertrug, nicht dieselbe Zurückhaltung bewahrt: von den beiden durchgereimten Strophen dieses Stückes findet sich 17 in B und A, 1 nur in A.

[S. 115]

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