XXIV

Du hast mir strenger geschrieben, als ich ertragen kann, und ich glaube auch, als ich verdiene. Du sagst, ich hätte mit unheiligen Händen das Heilige zerfleischt, ich hätte getan wie ein Kind, das sein Spielzeug entzwei macht, um zu sehn, wie es inwendig aussieht; dann starrt es entsetzt auf seine leeren Hände und die Fetzen. Ja, es ist wahr, ich habe häßliche Verstandesarbeit getan; aber ich tat sie doch für dich. Erinnere dich, daß du mir schriebest, ich solle dir Gott beweisen; du tatest es wohl nur so leichthin, und doch können wir uns nicht verhehlen, daß wir beide an der Krankheit unseres Zeitalters teilhaben, und selbst wenn wir unserem Herzen trauen – was die allerwenigsten tun –, denken wollen, was wir glauben. Gott ist ja auch kein Spielzeug, überhaupt kein Ding, dem ich etwas anhaben könnte; habe ich das je vergessen? Zurück können wir nicht; da wir einmal angefangen haben, das Wort von der Lippe abzulösen und Menschenworte, grundlose, unfruchtbare, in der Luft schwebende und darum endlose Gedanken daraus zu machen, müssen wir bis zur Verzweiflung weiterdenken: darin waren sich alle Reformatoren einig, daß der Glaube beginnt, wenn wir an uns selbst verzweifeln. Ich meine, die Verzweiflung durchbricht schon das laute Pochen auf die eigene Kraft. Jetzt müßte ein Johannes kommen, der predigte: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Wie schön ist dieses „denn“! Wäre das Himmelreich nicht nah, so verzweifelten wir auch nicht, die Gnade begegnet schon der Buße.

Auch Luther wirfst du eine gewisse Zweideutigkeit vor; er habe einem den alten, weihnachtlichen Gottvater im Himmel geraubt, zugleich aber geahnt, was er den Menschen damit nehme, und darum das letzte Wort zurückbehalten. Mir scheint, er war nicht zweideutig, sondern zweiseitig: er stand auf einer schmalen Grenzscheide zwischen dem Reich der Phantasie und des Glaubens und dem der Wissenschaft und des Denkens, in das seine Zeitgenossen sich begierig ergossen. Er faßte das Unsichtbare und das Sichtbare noch einmal gewaltig zusammen; das aber konnte er freilich nicht ändern, daß es eine natürliche Einheit für ihn auch nicht mehr war. Er konnte und mußte denken wie alle Gebildeten seiner Zeit; aber er konnte auch glauben und lieben und aus Liebe handeln, was die andern nicht konnten. Daß hier und da eine Ritze klaffte, das ihm vorzuwerfen, sollte die Ehrfurcht vor seiner Größe und Güte verbieten.

Im Anfange seiner Laufbahn disputierte Luther einmal über Sätze der Platonischen Philosophie und gab sich auch Mühe, die Heilige Schrift mit der scholastischen Philosophie in Einklang zu bringen. Nach seiner eigenen Aussage gab er es auf, weil es zu schwer sei, die „mehr als tartarische Verwirrung“ zu lösen, die daraus hervorgeht, daß gleiche Ausdrücke für ganz verschiedene Begriffe gebraucht werden. Die Neigung, den Ideengehalt der Religion wissenschaftlich zu begründen, das Sein zu beweisen, welches doch eine bloße Fiktion des Gedankens ist, blieb trotzdem mächtig in ihm und tobte sich in Anfechtungen aus, da er sie möglichst unterdrückte. Mit Bezug auf seine gelegentlichen Versuche, von göttlichen Dingen wissenschaftlich zu reden, haben ihm sogar begeisterte Anhänger vorgeworfen, er tue zuweilen dasselbe, wofür er die Scholastiker gescholten habe, daß sie von Gott sprächen wie der Schuster vom Leder.

Wie hätte er das aber ändern können? Seine Gemeinde bestand aus „rohen Bauern und einfältiger Jugend“ und Männern, die überwiegend mit Verstand begabt waren, Verstand, der nur trennen und deshalb Gott, der gerade im Zusammenhang ist, gar nicht begreifen kann. Er kannte die Zudringlichkeit und Indiskretion solcher Menschen, die erst das Geistige, das Hörbare, vom Sichtbaren trennen, und es dann, weil es unsichtbar ist, für ein Loch halten, durch das sie eindringen und alles zerstören und zerkleinern zu können meinen, was sich ihrer Fassungskraft entzieht. Darum war er ängstlich, das Denken an die göttlichen Dinge herankommen zu lassen, und beim Abendmahlstreit brach es aus ihm heraus: „Das weiß Gott, ich schreibe solche hohe Dinge sehr ungern, weil es muß unter solche Hunde und Säue kommen.“

Hast du die Erfahrung nicht auch schon gemacht, daß die Kritik sich am dreistesten an die höchsten Dinge macht, weil sie ja sie am wenigsten versteht und deswegen am meisten haßt?

Daß Luther Deutschland vom Papste losriß und das Recht der freien Forschung verkündete, das begriffen seine Zeitgenossen, und Theologen, Soziologen, Juristen und Politiker zogen ihre Folgerungen daraus; daß er die Hand auf die Bibel legte, um die zentrifugalen Kräfte durch das geoffenbarte Wort an den Mittelpunkt zu binden, das übersahen sie geflissentlich oder legten es buchstäblich aus. In seiner liebevollen Sorge um die Menschen, als deren Genius er sich fühlte, entrollte er sein großes Göttergemälde wie einen Vorhang, der nicht Gott vor ihrer Dreistigkeit, aber sie vor dem Schicksal derer behüten sollte, die sich erkühnen, die Majestät mit unheiligen Fingern zu berühren.

Auf die Ausbildung einer Art Geheimlehre gänzlich verzichtend, erklärte sich Luther einverstanden mit der Art der Behandlung des Christentums, die Melanchthon in seinen loci communes ausarbeitete: danach sollte über die göttliche Majestät, Dreieinigkeit, Schöpfung, Menschwerdung nicht spekuliert werden, sondern man sollte sich an Christus allein halten und mit den Forderungen des Gesetzes und Verheißungen des Evangeliums begnügen. Luther, der Gläubige und Wissende, konnte das tun; für die Menge aber hieß das, aus dem Göttlichen eine Historie machen; man schnitt Christus und sein Wort ab von seiner mystischen Verbindung mit dem Unsichtbaren, wodurch er immer blutleerer, flacher und fader wurde. Es hätte nicht aus der Religion Moral werden können, wenn man das Geheimnis nicht zugedeckt hätte. Das Evangelium, der Ausdruck des Gottbewußtseins, rauschte nicht mehr wie ein Strom durch die Welt, sondern lag wie ein erratischer Block darin, losgelöst von Gott, und der Welt nicht einverleibt. Nicht Luthers Schuld war das, sondern die seiner Zeitgenossen, die, wie Zwingli, es für geboten hielten, die beiden Naturen, die göttliche und menschliche, zu trennen, und damit Gott aus der Welt schafften.

Diese Trennung zu vermeiden, gebot Luther, man solle Gott nur in seinem Wort und Werk suchen. „Gott ist entweder sichtlich oder unsichtlich. Sichtlich ist er in seinem Wort und Werk; wo aber sein Wort und Werk nicht ist, da soll man ihn nicht haben wollen, denn er läßt sich anderswo nicht finden, denn wie er sich offenbart hat. Sie aber wollen Gott mit ihrem Spekulieren ergreifen, da wird nichts aus; ergreifen den leidigen Teufel dafür, der will auch Gott sein.“

Hier sehe ich einen einzigen Fehler darin, daß Luther hätte sagen müssen: sichtlich ist er in seinem Werk und unsichtlich in seinem Wort.

Unter Spekulieren verstand Luther die Beschäftigung mit einem von der Erscheinung losgelösten Gott, dem Ding an sich, ein Hantieren mit Begriffen oder ein angebliches Philosophieren, das nichts als ein Ausspinnen eigener, willkürlicher Gedanken ist. Daß er gegen ein vernunftmäßiges, das heißt mit der Idee zusammenhängendes Denken nichts hatte, geht unter anderem aus folgender Briefstelle hervor; sie ist der Antwort auf die Frage eines adligen Herrn entnommen, ob der Mensch auch ohne Glauben selig werden könne.

„Denn da muß der Natur Auge ganz ausgerissen sein und lauter Glaube da sein. Es gehet sonst ohne gräuliche fährliche Ärgernis nicht ab, und wo hierein fallen (wie denn gemeiniglich geschieht, daß jedermann am höchsten will anfahen), die noch jung und ungeübt im Glauben sind und mit der Natur Licht dies ansehn wollen, die stehen gar nahe dabei, daß sie einen großen Sturz und Fall nehmen, und in heimlich Widerwillen und Haß auf Gott geraten, dem darnach schwerlich zu raten ist. Deshalb ihnen zu raten ist, daß sie mit Gottes Gerichten unverworren bleiben, bis sie baß im Glauben erwachsen, und dieweil, wie S. Petrus sagt, der Milch sich nähren und soliden, starken Wein sparen, sich in den Leiden und der Menschheit Christi üben, und sein leiblich Leben und Wandel ansehn; sonst wird ihnen geschehen nach dem Spruch Salomonis: Quis scrutator est Majestatis opprimetur a gloria. Wer nach der Majestät forschet, den wird die Herrlichkeit verdrucken. Sind es Naturvernünftige, hohe, verständige Leute, so meiden sie nur bald diese Frage; sind es aber einfältige, tiefe, geistliche und versuchte Menschen im Glauben, mit denen kann man nichts Nützlichers denn solichs handeln. Denn wie der stark Wein den Kindern der Tod ist, also ist er der Alten Erquickung des Lebens. – Wer nicht glaubt, der ist schon gericht.“

Du siehst, unter naturvernünftigen, hohen, verständigen Leuten versteht Luther solche, die nur kritisch denken und infolgedessen nur einzelnes erfassen können; einfältige, tiefe, geistliche, im Glauben versuchte Menschen sind ihm die, welche das Ganze ergreifen und in der Erscheinung das ewige Sein sehen können. Jene können sich nur einen außerweltlichen Gott denken, also etwas, was eigentlich gar nicht ist, etwas Erdichtetes, womit sie sich gegenseitig täuschen; diese, daß Gott lebt, und Leben ist Wirken, Wirken der Kraft auf den Stoff, also gerade die Einheit von beidem. Der kritische Verstand betritt den heiligen Bezirk Gottes ohne Nutzen, höchstens zu seinem Schaden; aber „der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“, wie es in den Korintherbriefen heißt. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit und kann es nicht erkennen, denn es muß geistig gerichtet sein. Der geistige aber richtet alles und wird von niemand gerichtet.“

Wovor Luther besonders warnte, war das Spekulieren über die Absichten Gottes in der Führung der Menschen; warum es einem Guten schlecht ginge, warum einem Bösen gut, warum überhaupt der Mensch so viel leiden müsse, warum der eine die Gnade habe, der andere nicht. Man sieht aus der Häufigkeit derartiger Fragestellungen, wie weit entfernt die Zeitgenossen Luthers davon waren, was Gott überhaupt sei, zu begreifen. Sie sahen im Grunde doch alle einen gutbürgerlichen Vater in ihm, der die Pflicht hat, für ein standesgemäßes, das heißt wohlhabendes Auftreten seiner Kinder zu sorgen und ihnen ein reichliche Zinsen abwerfendes Vermögen zu hinterlassen. Er war der Gott des großen Haufens, der für Erhaltung jedes einzelnen und Erhaltung der Art aufzukommen hat. Es ist rührend, zu sehen, wie Luther diese einseitige Auffassung zu berichtigen suchte voll Besorgnis, sie könnten dann von Gott gar nichts mehr wissen wollen. Es war ihm lächerlich, daß die Leute Gott und den Heiligen beständig mit den allerweltlichsten Gebeten in den Ohren lagen, und er stellte ihnen vor, daß ihm diese Angelegenheiten unmöglich so wichtig sein könnten; aber er unterließ nicht, freundlich hinzuzufügen, daß er das alles wohl auch noch überflüssig dazu gebe. Er erinnerte daran, daß schon Sokrates, der Heide, gesagt habe, man solle die Gottheit nicht um bestimmte Dinge bitten, sondern daß sie einem das gebe, wovon sie wisse, daß es einem gut und dienlich sei; aber er wußte, daß die „verkehrte Art“ Wunder und Zeichen verlangte, durch die Gott seine Gottheit beweise, und, wenn er sagte, daß der Allwissende schon alles zuvor versehen habe, einwandten, Gott müsse doch den Weltlauf ändern können, wenn er allmächtig sei. Er erklärte, wenn geschrieben stehe, daß Gott die Niedrigen erhebe, sei das nicht so zu verstehen, als ob er die Hoffärtigen absetze und die Niedrigen auf ihre Plätze stelle; sondern es sei ein Erheben in Gott gemeint, wodurch sie innerlich und im Geiste über die Hohen der Welt erhoben würden. Er suchte stets die Logik des Geschehens nachzuweisen, durch die Gott sich dartue; aber zugleich glaubte er und wollte geglaubt haben, daß das Folgerichtige gut sei. Er wich deshalb niemals davon ab, von Gott als von einer persönlich menschlichen Kraft zu sprechen, nicht etwa vom Schicksal oder von der Weltseele, nicht einmal von der Vorsehung. Davon war die Folge bei anderen eine Vermenschlichung der Idee Gottes, die ihn selbst immer wieder in Staunen und Schrecken setzte. „Darum“, sagte er, „wenn wir der Gottheit gedenken, so müssen wir Ort und Zeit aus den Augen tun, denn unser Herrgott und Schöpfer muß etwas Höheres sein denn Ort, Zeit und Raum.“ Immer wieder stieß er sich an seinen Zeitgenossen, die Gott entweder grobsinnlich sich vorstellten oder ihn in leere Begriffe auflösten.

Gott als Person erfassen kann nur ein phantasievolles Kind oder ein Mann, in dessen kraftvollem Ich das göttliche Ich sich spiegelt. Deshalb ist in kraftvollen Zeiten, wo der Mann männlich und deshalb die Frau weiblich und das Kind kindlich ist, der Glaube an Gott selbstverständlich: der Mann erkennt ihn in seinem eigenen Selbst, Frauen und Kinder ergreifen ihn mit der Phantasie. Das ändert sich in den Zeiten des Alterns, wo die Kraft sich in Denken auflöst. Wenn Luther sagte, daß Gott in jedem Menschen sei, so erregte das grobe Mißverständnisse, und man warf ihm vor, er wolle, wie man sich ausdrückte, die Kreatur zum Schöpfer machen. Die Verbindung des einzelnen mit Gott fühlt der, den sie betrifft; mit Gottlosen davon zu sprechen ist gefährlich.

Erst unsere Klassiker haben das inzwischen vorgerückte Weltbewußtsein wieder mit dem Gottesbewußtsein zu vereinigen gesucht; aber, besonders Schiller, doch im Geiste ihrer Zeit vom Gedanken ausgehend. Schiller sagte: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst. – Und warum keine? Aus Religion.“ Goethe empfand zwar viel einheitlicher, doch war auch seine Überzeugung: „Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: ich glaub ihn? Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.“ Das ist durch und durch antilutherisch. Wenn das Brot überkommt das Nennen von Gott, dann wird es der Leib Christi. Dadurch, daß Gott die Welt nannte, ward sie. Ich hasse die Flattergeister, sagte Luther mit David, und liebe deine Gesetze. Gott ist nicht im Unsichtbaren und nicht im Sichtbaren, sondern in der Wirkung des Unsichtbaren auf das Sichtbare, woraus Form, Tat oder Wort entsteht. Was nicht Form, Tat oder Wort geworden ist, das ist im Werden, aber nicht im Sein. In der bildenden Kunst muß die Kraft Form werden, in der Liebe Tat, in der Erkenntnis Wort, in der Religion Kult. Luther wußte, daß dem wahren Christen jeder Tag und jede Erscheinung göttlich und darum heilig ist; trotzdem wollte er den Glauben an das Abendmahl gebunden haben, weil Gott sein Wort eben mit diesem Zeichen verbunden hatte. Der einzelne kann Gott immer und überall anbeten; aber die Gemeinde soll es in dem von Gott gestifteten Kult tun, und jeder einzelne ist ein Teil der Gemeinde.

Übrigens hat Goethe, dessen Wesensart Luther von den Späteren doch am nächsten stand, das Fehlen einer Kirche begriffen und tief beklagt. In seinem Märchen hat er von den drei Bildern der Weisheit, der Schönheit und der Kraft gesprochen, die aus der Liebe hervorgehen: der göttlichen Dreieinigkeit, die in der Liebe eins ist. „Ach! warum steht der Tempel nicht am Flusse!“ Wenn es aber an der Zeit ist, wird er aus der Tiefe an das Licht des Tages auftauchen.

Ich habe vorhin eins nicht erwähnt, was es Luther erschwerte, das Innere am Äußeren zu demonstrieren; das war nämlich die geringe Kenntnis der Natur zu seiner Zeit. Die einseitige Richtung auf das Äußere, die den Glauben aufhob, mag notwendig gewesen sein, damit der Glauben ins Schauen übergehen könnte. Die Idee, Gott in seiner Majestät, wird immer im heiligen Dunkel bleiben; aber die Schöpfung, in der die Idee sich offenbart, ihr mannigfaches Kleid, das ist der Forschung zugänglich, und je besser man das erkennt, desto besser erkennt man Gott, der es trägt. Da die Form, in der eine Idee sich ausprägt, diese Idee selbst ist, nur von außen gesehen, so muß man durch die Form die Idee selbst erkennen, und zwar ohne sie zu betasten und zu entweihen. Durch die Erkenntnis der Natur nähert man sich Gott mit dem Verstande und den Sinnen, den Luther fast nur intuitiv durch das Herz und die Sinne begreifen konnte; insofern haben vielleicht die Jahrhunderte der Naturwissenschaft der tieferen Gottesverehrung den Weg bereitet.

Wenn ich sagte tiefere Gottesverehrung, so meinte ich das nicht in bezug auf Luther. Ein genialer Mensch, ein solcher, dessen großes Herz Geist und Natur zusammenbinden kann, hat immer das allertiefste Gottesbewußtsein, weil Gott in ihm ist; er erkennt unmittelbar und weiß, daß der mittelbare Zusammenhang da ist. Für die Allgemeinheit mußte die Möglichkeit dieses mittelbaren Zusammenhanges erst erobert werden, bevor sie sich dem Glauben wieder hingeben konnte. Die Menschen scheinen jetzt aus dem unterirdischen Gange, den sie sich gegraben haben, wieder ans Licht zu wollen; vom umgekehrten Standpunkte aus gesehen, sehnen sie sich aus dem Vorhofe wieder ins Dunkel des Allerheiligsten. Wer wohl, wenn die Kirche neu, siebenmal geglüht aus der feurigen Tiefe steigt, Haushalter über den göttlichen Geheimnissen, Diener am Wort und Sakrament sein wird? Kein Geistlicher, sondern ein Geistmensch.

Die Kirche als Gebäude hat sich vom Dunkel zur Helligkeit entwickelt: in dem vorchristlichen Tempel verhüllte Finsternis die Götterbilder, und die altchristliche Kirche war im Innern der Erde, woran die Krypta der romanischen Kirche noch erinnerte. Noch in der gotischen Kathedrale, wenn sie auch farbig gebrochenes Licht durch hohe Fenster einließ, die ihre Mauern auflösten, wogte es chaotisch; erst die Kirchen der Renaissance, des Barock und Rokoko ließen das Licht ganz einströmen und das Allerheiligste in einen Festsaal verwandeln. Wo die sinnliche Schönheit fehlte, wie in der reformierten Kirche, herrschte statt der Weltfreudigkeit die schamlose Nüchternheit des bloßen Verstandes. Nun gibt es nur zwei Wege, die zum Berge der Seligkeiten, wo der Herr die Freiheit der Liebe verkündete, das ist außerhalb der sichtbaren Kirche, oder zurück in das Dunkel heiliger Mauern. Man muß sich klar sein, daß nicht beides zusammenfallen kann, daß „die wahren Göttersöhne“ unter den Sternen anbeten, daß die sichtbare Kirche begrenzt ist. Was hatte Luther im tiefsten Grunde mit Konfessionen zu tun! Er schrieb einmal einen wundervollen Brief an den bayrischen Hofmusiker Ludwig Senfel, in dem er um die Komposition des Psalms bat, den er vor allen liebte. „Obwohl mein Name verhaßt ist, so daß ich fürchten muß, daß dieser Brief, den ich dir schreibe, liebster Ludwig, nicht sicher von dir empfangen und gelesen werden kann, so hat doch meine Liebe zur Musik, mit der ich dich von meinem Gott begabt und geschmückt sehe, diese Furcht überwunden. Diese Liebe gibt mir auch Hoffnung, daß dir dieser Brief nicht Gefahr bringt: denn wer außer in der Türkei würde es tadeln, wenn einer die Kunst liebt und den Künstler rühmt? Lobe ich doch auch deine bayrischen Herzöge sehr, obwohl sie mir gar nicht gnädig sind, und verehre sie vor andern, weil sie die Musik so schützen und ehren. Denn es ist kein Zweifel, daß viel Samen des Guten in den Gemütern ist, die die Musik lieben; die sie aber nicht lieben, halte ich Stümpfen und Steinen für ähnlich.“ So dachte und sprach Luther in seiner unsichtbaren Kirche, da, wo er heimisch war. Das Reich des Geistes ist jenseit von Katholizismus und Protestantismus; aber gerade weil es unsichtbar ist, kann es in der Welt nie verkörpert und umgrenzt sein. In jeder sichtbaren Kirche oder Akademie oder was für eine Korporation es sonst sei, wird der Geist immer nur Gast sein, die schwebende Taube, das Feuer, das in Flocken tropft wann und wohin es will.

Folgt aber daraus, daß keine sichtbare Kirche sein könnte? Mir scheint, nur das, daß die eine, allgemeine, sichtbare Kirche sich mächtig auf die Erde gründen, mit der Spitze aber in den Himmel ragen sollte, Menschen ihre Diener, Christus ihr Haupt.

Eben fällt aus dem Allerheiligsten der Nacht von dem Götterbild, das sie verbirgt, ein Glänzen in den erschaudernden Raum. Der Augenblick der Schöpfung ist bald da, der zugleich ein Augenblick des Scheidens ist. Es bleibt noch so viel Zeit übrig, auf die letzte und heikelste Bemerkung zu antworten, die du mir in deinem Briefe machtest. Du schreibst, die Nutzanwendung meiner Fabeln lasse sich in dem Verse Goethes zusammenfassen:

Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich.

Nun hätte ich aber selbst gesagt, nichts schlage so sehr in ein häßliches Gegenteil um, wenn man es bewußt sein oder ausüben wolle, als Kindlichkeit, Naivität. Ich müßte, wenn ich folgerichtig wäre, eher dazu tun, daß alles geschriebene und gedruckte Wort verbrannt würde, als seine Masse vermehren. Das wäre wohl richtig, wenn meine Worte etwas anderes sein wollten, als Wegweiser zum Worte von Gott. An dich richtete ich überhaupt nur die Fabeln, nicht die Nutzanwendung, da ich nicht denke, daß du ihrer bedarfst; ich schreibe an einen Wissenden, sie sollten dir nicht mehr als ein Spiegel sein, in dem man sich zur Kurzweil einmal betrachtet. Läse sie sonst jemand, sollten sie ihm nur Mut machen, den Adlerweg des Glaubens zu betreten, der, pfeilerlos und geländerlos, doch der sicherste zum Ziel ist.

In meiner Ausgabe der Märchen von Tausendundeine Nacht gibt es ein Titelbild, wo zu sehen ist, wie der Sultan der vor ihm knienden Scheherazade verzeiht. Darüber mußte ich immer lachen, denn es schien mir, als hätte er ihr vielmehr für die schönen Geschichten zu danken, die sie ihm erzählt hatte. Märchen indessen haben immer recht, und so bittet denn auch dich, nun der unerbittliche Luzifer, mit dem Schwerte trennend, ihr den redseligen Mund endgültig schließt, Scheherazade um Verzeihung. Es ist die Flutzeit des Lichtes, schon donnert es an den Strand der Erde, und die summenden Sterne verlieren sich; nun rede du, nein, vielmehr nun handle du!

 

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