XXIII

Als von dem Kampfe zwischen Menschenwort und Gotteswort die Rede war, erwähnte ich, glaube ich, daß man beobachtet hat, wie es die unwillkürlichen Vorgänge im Menschen stört, wenn man die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Das geht so weit, daß die Wünsche erst dann in Erfüllung zu gehen pflegen, wenn man aufgehört hat zu wünschen, wie das Sprichwort wohl weiß: Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle. Nietzsche bemerkte sehr gut und richtig, denn er hatte es wohl an sich selbst erfahren, daß eine gewisse „feurige Pressiertheit“ dem Erfolge im Wege stehe. Das mag daher kommen, daß der Wille sich besonders nachdrücklich auf die Stellen wirft, die er im tiefsten Grunde als schwach erkannt hat: wer zutiefst weiß, daß ihm der Ruhm versagt ist, sucht heftig den Ruhm, ein anderer ebenso die Liebe, ein anderer anderes, das ihm nicht werden kann. Wie dem auch sei, man muß Gott „Raum lassen“, man muß überhaupt die selbsttätigen Kräfte zuweilen von sich werfen, damit sie einen nicht auffressen. Man muß in der Formlosigkeit, in der Bewußtlosigkeit, im Schweigen, im Gehorchen, im Nichtstun, in der Willenlosigkeit sich zuweilen von aller Selbsttätigkeit erholen, sonst würde sie eines Tages ganz abgenützt sein. Es ist eine Weisheit von der Gasse, daß nur wer gehorchen gelernt hat, befehlen kann, und wer nicht im Nichtstun versinken kann, wird keine Taten tun. Das ist ja eben der Glaube, die Passivität im Menschen, die uns fast ganz, ja sogar den Frauen abhanden gekommen ist; nicht die Ruhe der Erschöpfung, sondern lebendiges Ruhen, Aufnehmen Gottes. Das köstlichste und unentbehrlichste Verjüngungsbad des Menschen ist der Schlaf: tränke er nicht den Lethe aus dieser Schale, würde er nicht täglich neu erleben können. Der Schlaf ist dem Tagesleben gegenüber göttlich, und so ist es der Tod dem ganzen Leben gegenüber: er ist der tiefste Brunnen der Vergessenheit, aus dem der berauschte Schläfer dereinst ganz neu und jung auftauchen wird. Allerdings ist dieser letzte Schlaf unendlich viel tiefer als der zwischen einer unter- und aufgehenden Sonne, und er wird tiefer auflösen, tiefer verwandeln.

Erinnerst du dich, daß ich erwähnte, man habe die Entdeckung von der Unsterblichkeit der Amöbe, des einzelligen Lebewesens oder der lebendigen Substanz, gemacht? Diese Amöben pflanzen sich durch Teilung fort und können das, bei richtiger Behandlung, ins Unendliche fortsetzen; aber sie sind auch keine Personen, sie sind und haben nichts für sich. Wenn eine Amöbe sich teilt, so ist es unmöglich, zu sagen, welche die Mutter und welche die Tochter sei: es ist immer nur lebendige Substanz. Im Maße, wie die Substanz selbsttätig, also geschlechtlich gespalten wird, entwickelt sich die Notwendigkeit des Sterbens. Das einzellige Wesen hat es noch leicht, seine Schlacken abzusondern; dem vielzelligen wird das immer schwerer und schwerer gemacht: wir sterben, weil wir ein Selbst, weil wir Person sind. Unsterblichkeit ist dem Menschen in der Heiligen Schrift auch niemals zugesprochen; im Gegenteil, es heißt von Gott: Qui solus habet immortalitatem – Der allein Unsterblichkeit hat.

Die Tatsache, daß die lebendige Substanz unsterblich ist, war Luther wohl bekannt; er drückte sie mit den Worten aus: Gott in seiner Natur kann nicht sterben. Ebenso hat die Bibel das Gesetz von der Erhaltung der Kraft gepredigt, daß Gott in seinem Wesen nicht sterben kann, welches die Kraft ist. Nur in seiner Person muß er sterben; das ist die große Tragödie des Menschen, auf welche das Alte Testament hinweist, und die im Neuen Testament unter Teilnahme der erbebenden Natur sich vollzieht.

Daß der Mensch sterben muß, obwohl göttlichen Geschlechts, und daß nur die göttliche Kraft bleibt, die sich in ihm offenbarte, das ist in der Geschichte vom Kreuzestode des Herrn das Herz zerreißend unauslöschlich dargestellt. Alles, was man als heidnische Sinnenfreude rühmt, kann doch die Herrlichkeit des persönlichen Lebens nicht inbrünstiger ausdrücken, als diese Stunde des ewigen Abschieds. Allerdings ist es ja gerade die Schönheit des verhältnismäßig unbewußten und unpersönlichen Lebens, die wir heidnisch nennen und die uns zum Heidentum hinzieht; erst mit Christus konnte die ganze Furchtbarkeit des persönlichen Todes Erlebnis werden.

Luther sagt in seinen Tischreden, Gott hasse den Tod so, daß er nicht einmal seinen Namen genannt habe, sondern er habe zu Adam gesagt: von Erde bist du genommen und sollst wieder Erde werden. „Ach, wenn Adams Fall nicht alles verderbt hätte, wie eine schöne, herrliche Kreatur Gottes wäre doch der Mensch, gezieret mit allerlei Erkenntnis und Weisheit! Wie seliglich hätte er gelebt ohne alle Mühe, Unglück, Krankheit, und wäre danach ohne alles Fühlen des Todes verwandelt worden, hätte dies zeitliche Leben abgelegt, an allen Kreaturen seine Lust und Freude gehabt und wäre eine feine, lustige Veränderung und Verwechselung aller Dinge gewesen. Wie in diesem elenden Leben Gott in vielen Kreaturen die Auferstehung der Toten entworfen und abgemalet hat.“

Ja, wenn wir kein Selbstbewußtsein hätten, würden wir nicht sterben; aber gerade um Erhaltung unseres Selbst, das des Sterbens Ursache ist, ist es uns zu tun. Der dringende Wunsch, unser persönliches Selbst erhalten zu wissen, ist jedenfalls die Ursache, daß viele Menschen aus der Bibel und der christlichen Lehre die Verheißung eines Himmels herauslesen, in welchem sie persönlich weiterleben dürfen.

Himmel, Hölle, Reich Gottes sind für Luther innerliche Zustände. Schon in den Thesen, die Herold seines Lebenswerkes waren, stellte er folgende Sätze auf: „Ist ein Sterbender von Sünden nur unvollkommen genesen oder ist seine Liebe nur unvollkommen, so empfindet er notwendigerweise große Furcht, und zwar um so größere, je geringer jene ist. Diese Furcht und dies Grauen sind an sich selbst hinreichend, um die Pein des Fegefeuers zu bereiten, da sie dem Grauen der Verzweiflung ganz nahe kommen. Wie mich dünkt, unterscheiden sich Hölle, Fegefeuer, Himmel genau so wie Verzweifeln, beinahe Verzweifeln und des Heils gewiß sein. Augenscheinlich bedürfen die Seelen im Fegefeuer Milderung des Grauens und Mehrung der Liebe.“

Ebenso deutlich spricht sich Luther in seinem Trostschreiben an den sterbenskranken Kurfürsten Friedrich aus: „Denn wenn der Mensch sein [inneres] Übel empfände, so würde er die Hölle empfinden; denn er hat die Hölle in sich selbst.“ Dementsprechend über den Himmel: „Alle diese Güter sind leibliche Güter und allen Menschen gemein. Aber ein Christenmensch hat viel bessere und vortrefflichere Güter inwendig in sich; das ist, er hat in sich den Glauben an Christum … Denn wenn ein Christenmensch dasselbige Gut sichtbar empfände, so wäre er bereits im Himmel; denn das Himmelreich, wie Christus sagt, ist in uns selbst. Denn wer den Glauben hat, hat die Wahrheit und das Wort Gottes, wer das Wort Gottes hat, hat Gott, den Schöpfer aller Dinge. Und wenn der Seele offenbar würde, was das für große Güter wären, so würde sie im Augenblick von dem Leibe abgesondert vor überschwenglicher Gnadenfülle.“

Die vielen Worte Christi über das Wesen des Reiches Gottes, daß es nicht in äußerlichen Gebärden stehe, daß es inwendig in uns sei, sind bekannt; und wie er den Juden vorwarf, daß sie einen Weltkönig wollten, der äußerliche Güter bringe, nicht einen Erlöser, der die Herrlichkeit des Inneren auftut. Dies ist so klar und oft betont, daß die Menschen, die sich ein Studium aus Gott und den göttlichen Dingen gemacht haben, es notwendigerweise eingesehen haben müssen; trotzdem schleicht sich offenbar wider besseres Wissen immer die Vorstellung ein, als handle es sich um etwas teils mit den Sinnen Ergreifbares, teils außer der Erscheinungswelt Bestehendes. So hat man zum Beispiel es Zwingli hoch angerechnet, als ein Zeichen seines umfassenden, vorurteilsfreien Geistes, daß er den großen Männern des Altertums einen Platz im Himmel einräumte, was Luther nicht tat. Und doch hat gerade Luther immer hervorgehoben, daß die Alten in weltlichen Dingen, die Sittlichkeit inbegriffen, den Christen weit überlegen waren, in allem, was Staat, Vaterland, Schule, Bildung, Kunst, wir würden sagen, was Kultur betrifft. Diesen Vorzug in der Kultur räumte er ihnen unbedingt ein; was er ihnen absprach, war die Kraft des Glaubens, alles, was mit dem stärkeren Persönlichkeitsbewußtsein, den inneren Spaltungen und der überwindenden Liebe zusammenhängt. Zwingli stellte sich unter Himmel etwas wie eine verklärte Wiese oder Wandelhalle vor, wo sich große Männer und edle Frauen im Gespräch ergingen, und er mochte unter ihnen die ihm aus der Geschichte vertrauten Helden und Philosophen des Altertums nicht missen. Davon abgesehen sprach er über die vorchristlichen Menschen ein Werturteil aus, welches sie von den Christen nicht wesentlich unterschied, während Luther einen wesentlichen Unterschied sah. Luther fragte zum Beispiel: Ist die Seligkeit des unbewußt Schaffenden so groß wie die dessen, der zwar auch unbewußt, zugleich aber unter Mitwirkung und im Gegensatz zu seinem bewußten Selbst schafft? Kann das Gefühl des naiven Menschen so innig sein, wie das dessen, der durch alle Kämpfe des Selbstseins und Selbstwollens hindurchgegangen ist? Kennt einer den Himmel, der ihn nicht der Hölle abgerungen hat? Hat man die Welt, wenn man sie nur von außen sieht, nicht auch in ihr Inneres eingedrungen ist? Antike Helden nahmen unerhörte Qualen auf sich, um das Vaterland zu retten oder ein gegebenes Wort nicht zu brechen, also um der Ehre willen; empfanden sie aber eine solche Seligkeit wie der christliche Märtyrer, der, während sein Körper brannte, über sich den Himmel offen sah? Hier entschied Luther, die Harmonie der höheren Kultur der Antike willig zugestehend, zugunsten des modernen persönlichen, des aus Liebe sich opfernden Menschen. Von jener überschwenglichen Gnadenfülle, die den Menschen töten würde, wenn er sie ganz erfaßte, ahnte Zwingli nichts und begriff infolgedessen auch nicht, was für Probleme Luther stellte.

Denkt man daran, wie deutlich in der Bibel das Himmelreich als im Inneren des Menschen liegend gekennzeichnet ist, wie deutlich ferner öfters gesagt wird, daß Gott die Person nicht ansehe, so scheint es fast unbegreiflich, daß doch vielfach ein persönliches Weiterleben nach dem Tode als Lehre der Bibel angenommen wird. Dies liegt nun zum Teil daran, daß die Menschen geneigt sind, zu glauben, was sie wünschen, daß sie durch das gefärbte Glas der Persönlichkeit sehen, die ihr eigenes Weiterleben natürlich zumeist wünscht; daneben aber auch an der Bildersprache der großen Dichter, denen wir die Heilige Schrift verdanken. In bezug auf die Schilderung der Auferstehung der Toten im Thessalonicherbriefe sagte Luther, daß das eitel verba allegorica wären. Das geht auf das Blasen der Posaune und das Hinaufgerücktwerden der Toten in die Wolken, dem Herrn entgegen. Etwas anderes ist es mit der Lehre des Paulus vom unverweslichen Fleische, die natürlich wörtlich und nicht bildlich zu nehmen ist. Luther sagte, man würde sich richtiger ausdrücken, wenn man von der Auferstehung des Leibes und nicht von der Auferstehung des Fleisches spräche; woraus hervorgeht, daß es sich für ihn nur um die Dauer der Form oder der Idee des Menschen handelte. Er gebrauchte für Form in der Regel das Wort Gestalt, wie zum Beispiel an der Stelle im Evangelium, daß Christus, obwohl er voll göttlicher Gestalt gewesen sei, doch Knechtsgestalt angenommen habe. Er war, heißt das, das vollendete Ebenbild Gottes im Fleische oder die vollendete Idee des Gottmenschen. Im Anfange seiner Laufbahn disputierte Luther einmal über Platos Ideenlehre, deren Verwandtschaft mit der christlichen er jedenfalls erkannte; er gab aber seine ursprüngliche Absicht, die Lehre des Christentums philosophisch zu begründen, aus Instinkt vielleicht mehr als aus bewußten Gründen gänzlich auf. Doch spricht er in den Tischreden mit vieler Liebe und Bewunderung von Cicero, und wie ihm das Argument zu Herzen gegangen sei: „Daß er aus dem, daß die lebendigen Kreaturen, Vieh und Menschen, eins das andere, das ihm ähnlich und gleich ist, zeuget und gebieret, beweiset, daß ein Gott sei.“ Gott ist die Einheit in der Vielheit, das Bleibende im Wandel. „Ich bin, der sich nicht verändert.“

Nach christlicher Lehre nun offenbart sich Gott ganz und gar im Stoffe, ohne etwas zurückzubehalten, die bloße Majestät außer der Erscheinung, das Ding an sich, ist ein bloßer, vom Verstande ausgesparter Begriff. So weit wir auch die Erscheinung zerkleinern und teilen, um zur Idee zu gelangen, sie bleibt immer körperlich, wenn auch, wie Paulus es unvergleichlich klar und schön auseinandersetzt, in einer anderen Körperlichkeit, als die unseren Sinnen vertraut ist. Unverwesliches Fleisch nennt er eine letzte Einheit des Stoffes, die unser Verstand annimmt, von der wir uns aber keine Vorstellung machen können. Soweit der Mensch schon während seines persönlichen Lebens göttlich, also unvergänglich und unwandelbar ist, soweit bleibt er auch in jener ätherischen Körperlichkeit, über deren Natur wir nichts aussagen können. Diese Auffassung hat mit Spiritismus natürlich nichts zu tun; denn der Geisterglaube beruht ja gerade auf der Annahme persönlicher Fortdauer, während der Christ glaubt, daß nur die Substanz unsterblich ist. Luther lehnte den in seiner Zeit verbreiteten Glauben an die Möglichkeit des Wiedererscheinens Verstorbener scharf ab und sah nichts als Teufelwerk darin; das heißt, er hielt alle Geistererscheinungen, auch wenn er selbst sie sah, für absichtliche Täuschung oder Selbsttäuschung.

Denke dir bitte Gott als einen Künstler, der die Idee eines Bildes hat, seines Ebenbildes; denn welcher Künstler schüfe im Grunde jemals etwas anderes als sein Ebenbild, wenn auch in unendlich vielen, immer neuen Gestaltungen. In einer einzigen Gestalt, nämlich in Christus, spiegelte Gott sich ganz, er faßte oder band die göttliche Idee ganz und gar; trotzdem er, soweit er historisch war, an einem gewissen Orte und zu einer gewissen Zeit erschien, unterstand er auch dem Gesetze der Vielheit und ist mit der Menschheit verbunden als ihr Haupt, ohne sie kein ganzer Körper, wie sie ohne ihn ein toter Rumpf wäre. Daß sich Christus bewußt war, Gott zu verkörpern, das macht seine Unsterblichkeit, seine Himmelfahrt aus; soweit wir Christus anziehen, das heißt sein Gottesbewußtsein teilen können, teilen wir auch seine Unsterblichkeit. Ein Bild besteht aus zahllosen Farbentupfen, die für sich nichts sind, da nur das Bild etwas ist und sie, soweit sie im Bilde sind. Wären die einzelnen Farbentupfen lebendig, so könnten sie, je mehr das Bild sich der Vollendung näherte, desto mehr sich des ganzen Bildes bewußt werden, vollständig aber erst könnte es der letzte, mit dem das Bild fertig wäre. In ihm lebte die Idee des Bildes und durch ihn könnten alle anderen an der ewigen Idee teilhaben, wenn sie sich mit ihm identifizierten. „Es fährt niemand gen Himmel, denn der herabgefahren ist, Jesus Christus.“ Die Idee allein ist ewig, wir können nur ewig sein, soweit wir uns mit der Idee identifizieren. Darum wird gesagt, daß wir Christus anziehen müssen, wenn wir das ewige Leben haben wollen, und daß das ewige Leben bereits in diesem Leben beginnen muß. Nicht daß wir Christus nachfolgen, seine Werke tun, ist das wichtigste, wenigstens nicht das erste; das erste ist, daß wir selbst Christen werden, denn dadurch werden wir „Mitgenossen der göttlichen Natur“. Diese Identifikation der Menschen mit Christus liegt nun einerseits darin, daß Christus sich in der Menschheit entwickelt hat, andererseits darin, daß sie an ihn glauben, was die Bibel so ausdrückt, daß Christus der Menschheit Haupt sei. Insofern, sagt Luther, daß Christi Auferstehung täglich sich vollende, wenn wir hernach kämen. „Denn Christi Auferstehung und unsere muß man zusammenbinden und aneinanderhängen als für eine, weil er unser Haupt ist.“ Er ist der Erstling der Kreatur und der Erstling derer, die schlafen: die Menschheit ist in ihm verewigt.

„Summa, der tolle Geist geht mit Kindergedanken um, als fahre Christus auf und nieder“, sagte Luther einmal. Der Geist bewegt sich nicht von einem Orte zum anderen, wie Menschen tun, denn er ist ja schon überall gegenwärtig. Das Auffahren Christi gen Himmel ist ein Bild, welches ausdrückt, daß sein persönliches Dasein aufgehört hat, daß er aber nie aufhört, im Geiste zu sein. Daß dies Bild des Auffahrens nach oben sich unwillkürlich einstellt, kommt daher, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist, und daß das Gehirn, das Organ, durch welches der Heilige Geist sich offenbart, das Organ des bewußten Geisteslebens, der Erinnerung, in unserem Körper oben liegt.

Viele Menschen werden sagen, das wäre eine windige Unsterblichkeit, und ich gebe zu, uns eingefleischte Menschen kann nichts über den Verlust des Persönlichen trösten. Luther selbst, als mächtige Person, erklärte den Tod für die größte Anfechtung des Menschen. Bei der Stärke und Durchsichtigkeit seiner Äußerungen sieht man ihn oft mit dem Tode ringen, ihn herausfordern und verachten, dann wieder mit wunderschönen Phantomen ihn beschwören, wie man Schlangen tut mit Musik.

Ich sagte gelegentlich, Gott, die pure Aktivität, hätte die Welt vernichten müssen, wenn sie nur leidend gewesen wäre; er habe deswegen eine Aktivität in sie gesetzt, die seine eigene hemmte, und habe sich dadurch ermöglicht, trotz beständigen Vernichtens schaffend zu bleiben. Ein Tun, bei welchem ebensoviel vernichtet wie geschaffen wird, nennt man verwandeln. „Ich sage euch ein Geheimnis“, sagt Paulus, „wir werden nicht ganz entschlafen, sondern wir werden verwandelt werden.“ Dies Geheimnis eröffnet eine fabelhafte Aussicht.

Ich bitte dich, dir Gott jetzt wieder als den Künstler zu denken, der inwendig voller Figur ist, und weil er ewiglich lebt, ewig etwas Neues ausgießt aus den Ideen durch das Werk. Er wird nie ruhen, sein Wesen ist ja Schaffen, und im selben Augenblick, wo er sein Bild, Christus, vollendet hat, beginnt er es von neuem. Christus ist immer da, sei es im Fleisch persönlich erscheinend, sei es im Fleisch sich entwickelnd. „Ich bin bei euch bis an das Ende der Tage.“ Insofern hatte Nietzsche recht mit der Mahnung, wir sollten den Alp von uns werfen, als wären wir Epigonen. Die Menschheit ist immer zugleich nachchristlich und vorchristlich, wie Christus immer zugleich künftig und vergangen. Zwar gibt es immer irgendwo Epigonen, aber auch immer irgendwo Vorläufer. Daß Christus wiederkommen werde, ist in der Heiligen Schrift ausdrücklich gesagt; nur hebt das den Christus, den wir aus der Schrift kennen, nicht auf.

Was Nietzsche die Ewige Wiederkunft nannte, ist dasselbe wie die christliche Lehre von der Restitution aller Dinge. Es ist sehr wohl möglich, daß Nietzsche darin nicht von Luther beeinflußt war, denn Ideen offenbaren sich nicht nur einmal, sondern immer wieder; jedenfalls haben seine schönen darauf bezüglichen Phantasien dem Wesen nach große Ähnlichkeit mit denen Luthers in den Tischreden. „Dieser Finger, daran dieser Ring steckt, muß mein wieder werden“, sagt er da. Und die Erde werde nicht leer, wüste und einödig sein, sondern alles werde da sein, was dazu gehört, „Schafe, Ochsen, Vieh, Fische, ohne welche die Erde und Himmel oder Luft nicht sein kann“. Indessen nahm Luther bei der Restitution der Dinge doch eine Veränderung an, wie er denn sagt, auf dieser neuen Erde werde Gott Hündlein schaffen, deren Haut werde golden sein und ihre Haare oder Locken von Edelstein. Das Wesen der Veränderung soll aber nach seiner Auffassung offenbar im Menschen liegen. „Denn ein Herz, das voll Freuden ist, was es siehet, das ist ihm alles fröhlich; aber ein traurig Herz, dem ist alles traurig, was es siehet. Änderung des Herzens ist eine große Änderung.“ Er pflegte oft zu klagen, daß er schwach im Glauben sei und darum so wenig vermöchte, während der wahre Christ in Gott allmächtig sein sollte. In einer Vermehrung der Kraft sollte wesentlich die Seligkeit bestehen. „Wenn ich werde zum Ziegelstein sagen, daß er ein Smaragd werde, so wirds von Stund an geschehen.“ Luther hatte viele Augenblicke im Leben, wo er aus Ziegelsteinen Smaragden machte, so wie die Griechen aus ihrem schäbigen Purpur die Götterfarbe machten. „Änderung des Herzens ist eine große Änderung.“ In einer Kräftigung des Herzens liegt jede Vergöttlichung, und wenn Luther sagt, Gott werde einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, viel weiter und breiter als heute, so wird er das auch nur durch Erneuerung des Herzens tun.

Ich erwähnte vorhin, daß Luther den Heiden die Seligkeit absprach. Doch äußert er sich gelegentlich auch anders, so in den Tischreden über Cicero: „Cicero, ein weiser und fleißiger Mann, hat viel gelitten und getan. Ich hoffe, unser Herrgott werde ihm und seinesgleichen gnädig sein. Wiewohl uns nicht gebührt, das gewiß zu sagen noch zu definieren und schließen, sondern sollen bei dem Wort, das uns offenbart ist, bleiben: ‚Wer glaubet und getauft wird, der wird selig‘; daß aber Gott nicht könnte dispensieren und einen Unterschied halten unter anderen Heiden und Völkern; da gebühret uns nicht zu wissen Zeit und Maße. Denn es wird ein neuer Himmel und eine neue Erde werden, viel weiter und breiter, denn sie jetzt ist. Er kann wohl einem jeglichen geben nach seinem Gefallen.“

Das sind Phantasien über die Einheit des Menschengeschlechtes, wie Luther auch gern über die Zugehörigkeit des Tierreichs zu den Menschen, ja, über die Einheit der ganzen Schöpfung phantasierte.

Gewiß ist eins: das dereinstige Ende unserer Erde im Feuer. „Der Herr unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.“ Das Feuer, Gott in seiner Majestät, wird am Jüngsten Tage alle seine Offenbarungen wieder zu sich nehmen; aber er wird sie auch wiederbringen, der ewig Schaffende, nie Ruhende, der zugleich Feuer und Geist ist, lebendige Kraft. Wird er alles wiederbringen so wie es war? Gibt es ewige Höllenstrafen? ewige Vernichtung dessen, was einmal war? Das sind Fragen, über denen Luther wohl einmal träumte, um sich schließlich doch gläubig der allmächtigen Gotteshand anzuvertrauen. Er hatte ein bewundernswert feines Gefühl für die Grenze des Allerheiligsten, jenseit welcher das heilige Dunkel herrschen soll; Scheu und Ehrfurcht hielten ihn dort zurück, und er verbot eindringlich, darüber zu grübeln, was Gott mit den Menschen nach ihrem Tode tun werde. Deutlich sagte er hingegen, was er nicht glaubte, nämlich eine Fortdauer der Person; ist doch Erweiterung, das ist Überwindung des Persönlichen, unsere irdische Aufgabe. Wenn er trotzdem sagt, daß dieser selbe Finger ihm wieder werden müsse, so ist das wohl nicht so aufzufassen, als werde er wissen, daß dies der Finger Martin Luthers sei; sondern es bedeutet, daß alles, was erschienen ist, stets wieder erscheinen müsse, als ewige Spiegelung des Seienden, der Idee, im Werdenden. Jedenfalls gibt es kein gröberes Mißverständnis, als wenn jemand sich einbildete, er wäre der wiedererschienene Martin Luther oder der wiedererschienene Christus. Für uns kann es keinen anderen Martin Luther geben als den historischen und keinen anderen Christus als den historischen; fühlen doch auch wir, wenn anders wir eine Person sind, daß die Wurzel unseres Selbst zwar jenseit unseres stetig sich verändernden Körpers, daß es aber doch unzertrennlich mit ihm verbunden ist.

Der Schauder der Frühe überläuft die Erde schon; doch bitte ich dich, mir noch ein Weilchen zuzuhören: es ist süß, den Abschied hinauszuschieben, indem man vom Abschied plaudert.

Die Kraft, Gott, das ewig wirkende Feuer, verdichtet sich zum Stoffe und im Stoffe zur Person, damit dieser Kern seine Strahlen zurückwerfen kann, damit Gott seiner bewußt wird, sich in seinem Ebenbild erkennt. Der Kern muß sich vom Ganzen absondern, sonst wäre er ja Gott selbst und könnte Gott sich nicht in ihm spiegeln: er hüllt sich in eine Kruste oder Haut, die ihn vom Nicht-Ich abschließt, zugleich aber mit dem Nicht-Ich verbindet. Die Haut ist reizbar, empfindlich; als ein Teil der Einheit, die in der Vielheit erscheint, ist das Einzelwesen berührbar durch die Kraft, die in zahllosen anderen Einzelwesen sich offenbart. Die Sinnlichkeit, durch welche die Haut den einzelnen mit der Welt verbindet, verteilt sich allmählich auf verschiedene Zonen: der Mensch empfindet die Außenwelt nicht nur mehr als Ganzes, sondern er sieht, er hört sie, er schmeckt, riecht und fühlt sie. Mit der Zeit aber, im Maße, wie das göttliche Feuer, welches das Einzelwesen für sich von der feurigen Gottheit zugeteilt bekam, verbraucht und verwandelt wird, erstarrt die Kruste und wird mürbe; die Haut wird runzlig, der Körper zerfällt. Wenn das Gehäuse, durch welches wir von Gott, dem Ganzen, dem Unsichtbaren, abgesondert und mit der erscheinenden Welt verbunden waren, zerbricht, so ist unsere Verbindung mit der erscheinenden Welt abgerissen, wir sind wieder eins mit der unsichtbaren Kraft. Wir sind wie Prinzen, die aus ihrem Königreich verbannt wurden. Damit man nicht erkennt, welchen Geblüts sie sind, tragen sie eine schützende Maske, bald diese, bald jene, und es kann vorkommen, daß sie in einem Kostüm heimisch werden und die Krone und den Purpur, der ihnen gebührte, fast vergessen. Sollten sie aber in dem Augenblick, wo sie jenes abwerfen dürfen, um ihre königliche Herrlichkeit anzulegen, um die bunte Maske traurig sein, die sie in der Verbannung vermummte? Ach, ich gestehe dir, ich kenne Masken, die so schön sind, daß der Gedanke an ihre Vergänglichkeit mir das Herz zerreißt. Aber kommt das vielleicht daher, daß ich diese durchsichtigen Verkleidungen liebe, durch welche der Stern, der die göttliche Abkunft verrät, verhängnisvoll hindurchscheint? Schon erfaßt sein strenges Feuer das farbenselige Gewand, das im Staube der Verbannung schleppte; das, was unerreichbar über allem Irdischen steht, wird gegenwärtig. Das Vollendete macht glücklich und traurig zugleich; trotz der morgendlichen Helle kann ich dich nicht sehen vor Tränen.

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