Es gab zwar immer Psychologie, solange die geschichtliche Welt besteht, aber eine objektive Psychologie gibt es erst seit kurzem. Für die Wissenschaft früherer Zeit gilt der Satz: Der Gehalt an subjektiver nimmt zu mit dem Mangel an objektiver Psychologie. Daher die Werke der Alten zwar voll Psychologie sind, aber nur weniges davon ist als Objektiv-Psychologisches zu bezeichnen. Dies dürfte in nicht geringem Masse bedingt sein durch die Eigentümlichkeit der menschlichen Beziehung in Antike und Mittelalter. Die Antike hatte, wenn man so sagen darf, eine beinahe ausschliesslich biologische Bewertung des Mitmenschen, wie aus den Lebensgewohnheiten und den Rechtsverhältnissen des Altertums überall hervorleuchtet. Das Mittelalter hatte, insofern ein Werturteil überhaupt Ausdruck gefunden hat, eine metaphysische Bewertung des Mitmenschen, die ihren Anfang mit dem Gedanken des unverlierbaren Wertes der Menschenseele nahm. Diese, den Standpunkt der Antike compensierende Bewertung, ist der persönlichen Wertschätzung, welche allein die Grundlage einer objektiven Psychologie sein kann, ebenso ungünstig wie die biologische Bewertung. Es gibt zwar nicht wenige, welche meinen, eine Psychologie sei auch ex cathedra zu schreiben. Heutzutage sind allerdings die meisten überzeugt, dass eine objek[S. 18]tive Psychologie sich zu allererst auf Beobachtung und Erfahrung zu stützen habe. Diese Grundlage wäre ideal, wenn sie möglich wäre. Das Ideal und der Zweck der Wissenschaft bestehen aber nicht darin, eine möglichst genaue Beschreibung der Tatsachen zu geben — die Wissenschaft kann doch nicht konkurrieren mit kinematographischen und phonographischen Aufnahmen —, sondern sie erfüllt ihren Zweck und ihre Absicht nur in der Aufstellung des Gesetzes, welches nichts ist als ein abgekürzter Ausdruck für mannigfaltige und doch als irgendwie einheitlich erfasste Prozesse. Dieser Zweck erhebt sich mittelst der Auffassung über das schlechthin Erfahrbare und wird immer trotz allgemeiner und erwiesener Gültigkeit ein Produkt der subjektiven psychologischen Konstellation des Forschers sein. In wissenschaftlicher Theorie- und Begriffsbildung liegt viel von persönlicher Zufälligkeit. Es gibt auch eine psychologische persönliche Gleichung, nicht bloss eine psychophysische. Wir sehen Farben, aber keine Wellenlängen. Diese wohlbekannte Tatsache muss nirgends mehr beherzigt werden, als in der Psychologie. Die Wirksamkeit der persönlichen Gleichung fängt schon an bei der Beobachtung. Man sieht, was man am besten aus sich sehen kann. So sieht man zu allererst den Splitter in seines Bruders Auge. Kein Zweifel, der Splitter ist dort, aber der Balken sitzt im eigenen und — dürfte den Akt des Sehens einigermassen behindern. Ich misstraue dem Prinzip der „reinen Beobachtung“ in der sogen. objektiven Psychologie, es sei denn, man beschränke sich auf die Brille des Chronoskopes, des Tachistoskopes und anderer „psychologischer“ Apparate. Man sichert sich damit auch gegen eine zu grosse Ausbeute an psychologischen Erfahrungstatsachen. Noch viel mehr kommt aber die persönliche psychologische Gleichung zur Geltung bei der Darstellung oder Mitteilung des Beobachteten, gar[S. 19] nicht zu sprechen von der Auffassung und Abstraktion des Erfahrungsmaterials! Nirgends, wie in der Psychologie, ist es eine unerlässliche Grundanforderung, dass der Beobachter und Forscher seinem Objekt adäquat sei, in dem Sinne, dass er imstande sei, nicht nur das eine, sondern auch das andere zu sehen. Die Forderung, dass er nur objektiv sehe, ist gar nicht zu erheben; denn das ist unmöglich. Wenn man nicht zu subjektiv sieht, so dürfte man schon zufrieden sein. Dass die subjektive Beobachtung und Auffassung mit den objektiven Tatsachen des psychologischen Objektes übereinstimmt, ist nur insofern für die Auffassung beweisend, als die Auffassung keine allgemeine zu sein prätendiert, sondern nur gültig sein will für das in Betracht gezogene Gebiet des Objektes. Insofern befähigt der Balken im eigenen Auge geradezu die Auffindung des Splitters in des Bruders Augen. In diesem Fall beweist, wie gesagt, der Balken im eigenen Auge nicht, dass der Bruder keinen Splitter im Auge habe. Aber die Behinderung des Sehens könnte leicht Anlass zu einer allgemeinen Theorie werden, dass alle Splitter Balken seien. Die Anerkennung und Beherzigung der subjektiven Bedingtheit der Erkenntnisse überhaupt, und ganz besonders der psychologischen Erkenntnisse, ist eine Grundbedingung für die wissenschaftliche und gerechte Würdigung einer vom beobachtenden Subjekt verschiedenen Psyche. Diese Bedingung ist nur dann erfüllt, wenn der Beobachter über den Umfang und die Art seiner eigenen Persönlichkeit hinreichend unterrichtet ist. Er kann aber nur dann hinreichend unterrichtet sein, wenn er sich in hohem Masse von den ausgleichenden Einflüssen der Collektivurteile und Collektivgefühle freigemacht hat und dadurch zu einer klaren Auffassung seiner eigenen Individualität gelangt ist.
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto mehr sehen wir, dass die Persönlichkeit unter der Decke[S. 20] der Collektivität verschwindet. Und wenn wir gar zur primitiven Psychologie hinuntergehen, so finden wir, dass dort vom Begriffe des Individuums überhaupt nicht zu reden ist. Statt der Individualität finden wir nur collektive Bezogenheit oder „participation mystique“ (Lévy-Bruhl). Die Collektiveinstellung verhindert aber die Erkenntnis und die Würdigung einer vom Subjekt verschiedenen Psychologie, indem der collektiv eingestellte Geist eben unfähig ist, anders als projizierend zu denken und zu fühlen. Das, was wir unter dem Begriff „Individuum“ verstehen, ist eine verhältnismässig junge Errungenschaft der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte. Es ist darum kein Wunder, dass die früher allmächtige Collektiveinstellung eine objektive psychologische Würdigung der Individualdifferenzen sozusagen gänzlich verhindert hat, wie überhaupt jede wissenschaftliche Objektivierung individualpsychologischer Vorgänge. Gerade wegen dieses Mangels an psychologischem Denken war die Erkenntnis „psychologisiert“, d. h. angefüllt mit projizierter Psychologie. Dafür bieten die Anfänge philosophischer Welterklärung treffende Beispiele. Hand in Hand mit der Entwicklung der Individualität und der dadurch bedingten psychologischen Differenzierung der Menschen geht die Entpsychologisierung der objektiven Wissenschaft. Diese Erörterungen dürften erklären, warum die Quellen objektiver Psychologie in den uns aus dem Altertum überlieferten Stoffen äusserst spärlich fliessen. Die Unterscheidung der vier Temperamente, die wir vom Altertum übernommen haben, ist eine kaum noch psychologische Typisierung, indem die Temperamente beinahe nichts anderes als psycho-physiologische Komplexionen sind. Der Mangel an Nachricht will nun aber nicht sagen, dass wir von der Wirksamkeit der in Frage stehenden psychologischen Gegensätze keine Spuren in der antiken Geistesgeschichte besässen.
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So hat die gnostische Philosophie drei Typen aufgestellt, vielleicht entsprechend den drei psychologischen Grundfunktionen, Denken, Fühlen und Empfinden. Dem Denken entspräche der Pneumatiker, dem Fühlen der Psychiker, dem Empfinden der Hyliker. Die mindere Schätzung des Psychikers entspricht dem Geiste der Gnosis, welche gegenüber dem Christentum auf dem Werte der Erkenntnis insistierte. Die christlichen Prinzipien der Liebe und des Glaubens aber waren der Erkenntnis abhold. Innerhalb der christlichen Sphäre wäre demnach der Pneumatiker der Minderschätzung unterlegen, insofern er sich bloss durch den Besitz der Gnosis, der Erkenntnis, auszeichnete.
Wir dürfen an die Typendifferenz auch denken, wenn wir den langen und nicht gefahrlosen Kampf betrachten, den die Kirche seit den ersten Anfängen gegen den Gnostizismus führte. Bei der unzweifelhaft überwiegend praktischen Richtung des ersten Christentums kam der Intellektuelle, insofern er nicht, seinem Kampftriebe folgend, sich in der apologetischen Polemik verlor, kaum auf seine Rechnung. Die „regula fidei“ war zu enge und erlaubte keine selbständige Bewegung. Zudem war sie arm an positivem Erkenntnisinhalt. Sie enthielt wenige Gedanken, die zwar praktisch ungeheuer wertvoll waren, aber dem Denken einen Riegel vorschoben. Vom sacrificium intellectus war der Intellektuelle weit schwerer betroffen als der Fühlmensch. Es ist daher sehr begreiflich, dass die überwiegenden Erkenntnisinhalte der Gnosis, welche im Lichte unserer heutigen Geistesentwicklung nicht nur nicht an Wert verloren, sondern sogar bedeutend gewonnen haben, für den Intellektuellen innerhalb der Kirche von grösster Anziehung sein mussten. Sie waren für ihn recht eigentlich die Versuchung der Welt. Besonders machte der Doketismus der Kirche zu schaffen mit seiner Behauptung, dass Christus[S. 22] nur einen Scheinleib besessen habe, und dass sein ganzes Erdendasein und Leiden ein Schein gewesen sei. In dieser Behauptung drängt sich das rein Denkmässige gegenüber dem menschlich Erfühlbaren übermächtig in den Vordergrund. Wohl am deutlichsten tritt uns der Kampf mit der Gnosis in zwei Gestalten entgegen, die nicht nur als Väter der Kirche, sondern auch als Persönlichkeiten überaus bedeutend waren. Es sind dies Tertullian und Origenes, ungefähre Zeitgenossen vom Ende des 2. Jahrhunderts. Von ihnen sagt Schultz [2]: „Der eine Organismus vermag den Nährstoff fast restlos in sich aufzunehmen und seiner eigenen Beschaffenheit zu assimilieren, der andere scheidet ihn unter stürmischen Abwehrerscheinungen ebenfalls wieder fast restlos aus. So gegensätzlich hat sich Origenes auf der einen Seite verhalten, Tertullianus auf der andern. Ihre Reaktion auf die Gnosis kennzeichnet nicht nur die beiden Charaktere und ihre Weltanschauungen, sondern sie ist auch von grundsätzlicher Bedeutung für die Stellung der Gnosis in dem Geistesleben und den religiösen Strömungen von damals.“
Tertullian wurde etwa um 160 in Karthago geboren. Er war ein Heide, dem lüsternen Leben seiner Stadt ergeben bis etwa zu seinem 35. Lebensjahre, wo er ein Christ wurde. Er wurde der Verfasser zahlreicher Schriften, aus denen sein Charakter, der uns besonders interessiert, unverkennbar hervortritt. Vor allem deutlich ist sein beispielloser edler Eifer, sein Feuer, sein leidenschaftliches Temperament und die tiefe Innerlichkeit seiner religiösen Auffassung. Er ist fanatisch und genial einseitig um einer erkannten Wahrheit willen, unduldsam, eine Kampfnatur ohnegleichen, ein erbarmungsloser Streiter, der seinen Sieg nur in der totalen Vernichtung seines Gegners sieht,[S. 23] seine Sprache ist wie eine funkelnde Klinge, von grausamer Meisterschaft geführt. Er ist der Schöpfer des auf mehr als 1000 Jahre hinaus gültigen Kirchenlateins. Er prägt die Terminologie der jungen Kirche. „Hatte er einen Gesichtspunkt aufgegriffen, so musste er ihn, gleichwie gepeitscht von einem Heere der Hölle, in alle seine Konsequenzen hinein auch durchführen, selbst wenn das Recht schon lange nicht mehr auf seiner Seite stand und alle vernünftige Ordnung zerfetzt vor ihm lag.“ Die Leidenschaftlichkeit seines Denkens war so unerbittlich, dass er sich immer und immer wieder gerade davon entfremdete, wofür er eigentlich sein Herzblut hergegeben hatte. Dementsprechend ist auch seine Ethik von herber Strenge. Er gebot, das Martyrium aufzusuchen, statt es zu fliehen, er erlaubte keine zweite Ehe und verlangte die stete Verschleierung der Personen weiblichen Geschlechts. Die Gnosis, die eben eine Leidenschaft des Denkens und Erkennens ist, bekämpfte er mit fanatischer Unnachsichtigkeit, und mit ihr die von ihr eigentlich wenig verschiedene Philosophie und Wissenschaft. Ihm wird das grossartige Bekenntnis zugeschrieben: Credo quia absurdum est (Ich glaube um des Widersinns willen). Dies dürfte historisch allerdings nicht ganz stimmen, er sagte bloss: (De carne Christi. 5.): „Et mortuus est dei filius, prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est, quia impossibile est.“
Vermöge der Schärfe seines Geistes durchschaute er die Kläglichkeit philosophischen und gnostischen Wissens und wies es verächtlich von sich. Er berief sich dagegen auf das Zeugnis seiner eigenen innern Welt, auf seine eigenen innern Tatsachen, welche eins waren mit seinem Glauben. Sie gestaltete er aus und wurde so zum Schöpfer der begrifflichen Zusammenhänge, welche noch heute dem katholischen System zu Grunde liegen. Die irrationale innere Tatsache, die ihm wesentlich dynamischer Natur ist, war das Prinzip[S. 24] und die Grundlegung gegenüber der Welt und der collektiv gültigen oder rationalen Wissenschaft und Philosophie. Ich zitiere seine Worte:
„Ich rufe ein neues Zeugnis an, oder vielmehr ein Zeugnis, welches bekannter ist als irgend ein Schriftdenkmal, mehr verhandelt als irgend ein Lebenssystem, weiter verbreitet als irgend eine Veröffentlichung, grösser als der ganze Mensch, nämlich das, was den ganzen Menschen ausmacht. So tritt denn herzu, o du Seele, magst du nun etwas Göttliches und Ewiges sein, wie manche Philosophen glauben — du wirst dann umso weniger lügen — oder durchaus nicht göttlich, weil nämlich sterblich, wie freilich Epikuros allein meint — du wirst dann umso weniger lügen dürfen — magst du vom Himmel gekommen oder aus der Erde geboren, magst du aus Zahlen oder Atomen gefügt sein, magst du zugleich mit dem Leibe dein Dasein beginnen oder nachträglich in ihn eingefügt werden, gleichviel woher immer du auch stammst und wie immer du auch den Menschen zu dem machst, was er ist, nämlich ein vernünftiges Wesen, der Wahrnehmung fähig und auch der Erkenntnis. Aber nicht dich rufe ich, du Seele, die du in Schulen abgerichtet, in Bibliotheken bewandert, in Akademien und attischen Säulenhallen gespeist und gesättigt, Weisheit verkündest, nein, dich will ich sprechen, du Seele, die du schlicht und ungebildet, unbeholfen und unerfahren bist, sowie du bei denen bist, die nichts weiteres haben als dich, ganz wie du da eben von der Gasse, von der Strassenecke, von der Werkstatt kommst. Ich bedarf gerade deiner Unwissenheit.“
Die im sacrificium intellectus vollbrachte Selbstverstümmelung Tertullians führte ihn zur rückhaltlosen Anerkennung der irrationalen innern Tatsache, der wirklichen Grundlage seines Glaubens. Die Notwendigkeit des religiösen Prozesses, den er in sich[S. 25] empfand, fasste er in die unübertreffbare Formel: anima naturaliter christiana. Mit dem sacrificium intellectus fielen für ihn Philosophie und Wissenschaft, konsequenterweise auch die Gnosis.
Im weitern Fortschritt seines Lebens verschärften sich die geschilderten Züge. Als die Kirche mehr und mehr genötigt war, Kompromisse mit der Masse zu schliessen, empörte er sich dagegen und wurde ein Anhänger jenes phrygischen Propheten Montanus, eines Ekstatikers, der das Prinzip der absoluten Verneinung der Welt und der vollständigen Vergeistigung vertrat. In heftigen Pamphleten begann er die Politik des Papstes Calixtus I. anzugreifen und geriet so mit dem Montanismus mehr oder weniger extra ecclesiam. Nach einem Berichte des Augustin soll er später sogar noch mit dem Montanismus sich überworfen und eine eigene Sekte gestiftet haben.
Tertullian ist sozusagen ein klassischer Vertreter des introvertierten Denkmenschen. Sein beträchtlicher, überaus scharf entwickelter Intellekt ist flankiert von unverkennbarer Sinnlichkeit. Der psychologische Entwicklungsprozess, den wir als den christlichen bezeichnen, führte ihn zum Opfer, zur Abschneidung des wertvollsten Organes, welcher mythische Gedanke im grossen und vorbildlichen Symbol der Opferung des Gottessohnes wiederum enthalten ist. Sein wertvollstes Organ war eben der Intellekt und die durch ihn vermittelte klare Erkenntnis. Durch das sacrificium intellectus wurde ihm der Weg über eine rein verstandesmässige Entwicklung unmöglich, wodurch er sich gezwungen fand, die irrationale Dynamis seines Seelengrundes als Fundament seines Wesens anzuerkennen. Das Denkmässige der Gnosis, ihre spezifische intellektuelle Ausmünzung dynamischer Phänomene des Seelengrundes, musste ihm notwendigerweise verhasst sein, denn es war eben der Weg, den er zu verlassen hatte, um das Prinzip des Fühlens anzuerkennen.
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In Origenes lernen wir den absoluten Gegensatz zu Tertullian kennen. Origenes wurde um 185 in Alexandria geboren. Sein Vater war ein christlicher Märtyrer. Er selber wuchs auf in jener ganz eigentümlichen geistigen Atmosphäre, in der sich die Gedanken von Orient und Okzident mischten. Mit grosser Wissbegier eignete er sich alles Wissenswerte an, und so nahm er alles auf, was die überreiche alexandrinische Gedankenwelt jener Zeit bot, Christliches, Jüdisches, Hellenistisches, Ägyptisches. Er tat sich als Lehrer an einer Katechetenschule hervor. Der heidnische Philosoph Porphyrius, ein Schüler Plotins, sagte von ihm: „Sein äusseres Leben war das eines Christen und widergesetzlich; in Bezug auf seine Ansicht von den Dingen und von der Gottheit aber hellenisierte er und schob die Vorstellungen der Griechen den fremden Mythen unter.“ Schon vor 211 fällt seine Selbstkastration, deren nähere Motive zwar zu erraten, aber historisch unbekannt sind. Er war persönlich von grossem Einfluss, von gewinnender Rede. Er war stets umgeben von Schülern und einer ganzen Schar von Stenographen, welche die kostbaren Worte, die aus dem Munde des verehrten Lehrers fielen, auffingen. Er war schriftstellerisch ausserordentlich fruchtbar und entfaltete eine grossartige Lehrtätigkeit. In Antiochia hielt er selbst der Kaiserin-Mutter Mammaea Vorlesungen über Theologie. In Caesarea war er Haupt einer Schule. Seine Lehrtätigkeit war vielfach unterbrochen von ausgedehnten Reisen. Er war von ausserordentlicher Gelehrsamkeit und hatte eine erstaunliche Fähigkeit, den Dingen sorgfältig nachzugehen. Er spürte alte Bibelhandschriften auf und erwarb sich um die Textkritik besondere Verdienste. „Er war ein grosser Gelehrter, ja, der einzige wahrhafte Gelehrte, den die alte Kirche besessen hat“, sagt Harnack. Origenes, ganz im Gegensatz zu Tertullian, verschloss sich dem Einfluss des Gno[S. 27]stizismus nicht, im Gegenteil, er führte ihn sogar in gemilderter Form in den Schooss der Kirche über; wenigstens richtete sich darauf sein Streben. Ja, er war sozusagen selber ein christlicher Gnostiker, seinem Denken und seinen Grundanschauungen nach. Seine Stellung zu Glauben und Wissen schildert Harnack mit folgenden psychologisch bedeutsamen Worten: „Die Bibel ist in gleicher Weise beiden nötig: die Gläubigen empfangen aus ihr die Tatsachen und Gebote, die sie brauchen, und die Wissenden entziffern aus ihr die Ideen und ziehen aus ihr die Kräfte, die sie bis zur Anschauung und Liebe Gottes führen — also dass alles Stoffliche durch geistliche Deutung (allegorische Auslegung, Hermeneutik) umgeschmolzen erscheint zu einem Kosmos von Ideen, ja, zuletzt alles durch den „Aufstieg“ überwunden und als Stufe zurückgelassen ist, und allein das selige ruhende Verhältnis des von Gott ausgegangenen kreatürlichen Geistes zu Gott übrig bleibt (amor et visio).“ Seine Theologie war zum Unterschied von der des Tertullian eine wesentlich philosophische, die sich sozusagen ganz in den Rahmen einer neuplatonischen Philosophie schmiegt. In Origenes durchdringen sich die Sphären griechischer Philosophie und Gnosis einerseits und der christlichen Ideenwelt andererseits in friedlicher und harmonischer Weise. Diese weitgehende einsichtsvolle Duldsamkeit und Gerechtigkeit führten aber auch Origenes zum Schicksal der Verdammung durch die Kirche. Allerdings fand die endgültige Verdammung erst posthum statt, nachdem Origenes als Greis in der Christenverfolgung des Decius gemartert worden und an den Folgen der Tortur bald nachher gestorben war. 399 sprach Papst Anastasius I. seine Verdammung aus, und 543 wurde seine Irrlehre von einer von Justinian einberufenen Synode verflucht, woran sich auch die Urteile späterer Konzilien hielten.
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Origenes ist ein klassischer Vertreter des extravertierten Typus. Seine Grundorientierung geht auf das Objekt; das zeigt sich in der gewissenhaften Berücksichtigung der objektiven Tatsachen und ihrer Bedingungen, und es zeigt sich in der Formulierung jenes höchsten Prinzips, des amor und der visio Dei. Der christliche Entwicklungsprozess traf bei Origenes auf einen Typus, dessen ursprüngliche Grundlage die Beziehung zu Objekten ist, welche sich von jeher symbolisch in der Sexualität ausdrückt, weshalb gewisse Theorien auch alle wesentlichen Seelenfunktionen eben auf die Sexualität reduzieren. Die Kastration ist daher der adäquate Ausdruck des Opfers der wertvollsten Funktion. Es ist durchaus charakteristisch, dass Tertullian das sacrificium intellectus vollbringt, Origenes aber das sacrificium phalli, denn der christliche Prozess will eine vollständige Aufhebung der sinnlichen Bindung an das Objekt, genauer gesagt: er will das Opfer der bislang am höchsten gewerteten Funktion, des teuersten Gutes, des stärksten Triebes. Das Opfer ist, biologisch betrachtet, im Dienste der Domestikation gebracht, psychologisch betrachtet aber, um durch Auflösungen alter Bindungen neue Entwicklungsmöglichkeiten für den Geist einzuführen. Tertullian opferte den Intellekt, weil es der Intellekt war, der ihn am stärksten an die Weltlichkeit band. Er bekämpfte die Gnosis, weil sie für ihn den Abweg in das Intellektuelle darstellte, das zugleich auch die Sinnlichkeit bedingt. Dieser Tatsache entsprechend finden wir, dass der Gnostizismus auch in Wirklichkeit in zwei Richtungen geteilt ist: die eine Richtung der Gnostiker strebt nach einer über alles Mass hinausgehenden Vergeistigung, die andere Richtung verliert sich im ethischen Anomismus, in einem absoluten Libertinismus, der von keiner Unzucht und keiner noch so abscheulichen Perversität und Schamlosigkeit zurückschreckt. Man unterschied geradezu Enkratiten[S. 29] (Enthaltsame) und Antitakten oder Antinomisten (Ordnungs- und Gesetzesgegner), welche prinzipiell sündigten und sich absichtlich, gewissen Lehrsätzen entsprechend, zügelloser Ausschweifung ergaben. Zu den letztern gehören die Nicolaiten, Archontiker etc. und die treffend benannten Borborianer. Wie nahe die anscheinenden Gegensätze beisammen lagen, zeigt das Beispiel der Archontiker, wo dieselbe Sekte in eine enkratitische und in eine antinomistische Richtung zerfiel, welche beide logisch und konsequent blieben. Wenn man wissen will, was ein kühn und grosszügig durchgeführter Intellektualismus ethisch bedeutet, der studiere die gnostische Sittengeschichte. Man wird das sacrificium intellectus durchaus begreifen. Jene Leute waren eben auch praktisch konsequent und lebten ihr Erdachtes bis zur Absurdität. Origenes aber opferte die sinnliche Bindung an die Welt, indem er sich selbst verstümmelte. Ihm war offenbar der Intellekt keine spezifische Gefahr, sondern eher ein an das Objekt bindendes Fühlen und Empfinden. Durch die Kastration befreite er sich von der mit dem Gnostizismus gepaarten Sinnlichkeit und konnte sich darum ungescheut dem Reichtum gnostischen Denkens ergeben, während Tertullian durch sein intellektuelles Opfer sich der Gnosis verschloss, damit aber auch eine Tiefe des religiösen Gefühls erreichte, die wir bei Origenes vermissen. „Vor Origenes zeichnet ihn aus, dass er jedes seiner Worte in tiefstem Gemüte erlebt hat, dass ihn nicht, wie jenen, der Verstand fortriss, sondern das Herz. Dagegen steht er hinter ihm dadurch zurück, dass er, der leidenschaftlichste aller Denker, knapp daran war, das Wissen überhaupt zu verwerfen und seinen Kampf gegen die Gnosis zu einem solchen gegen das menschliche Denken überhaupt zu erweitern“, sagt Schultz.
Wir sehen hier, wie sich im christlichen Prozess der ursprüngliche Typus recht eigentlich umgedreht[S. 30] hat: Tertullian, der scharfe Denker, wird zum Gefühlsmenschen; Origenes wird zum Gelehrten und verliert sich an das Denkmässige. Es ist natürlich ein Leichtes, die Sache auch logisch umzudrehen und zu sagen, Tertullian sei von jeher der Gefühlsmensch gewesen und Origenes der Intellektuelle. Abgesehen von der Tatsache, dass damit der typische Unterschied nicht aus der Welt geschafft ist, sondern nach wie vor besteht, erklärt aber die umgekehrte Anschauungsweise nicht, wieso es kommt, dass Tertullian seinen gefährlichsten Feind im Denkmässigen, Origenes aber in der Sexualität gesehen hat. Man könnte sagen, sie hätten sich beide getäuscht, und man könnte dafür als Argument das fatale Resultat des Lebens beider ins Feld führen. In diesem Falle müsste man annehmen, dass beide das ihnen weniger Wichtige geopfert, also gewissermassen einen Kuhhandel mit dem Schicksal gemacht hätten. Das ist auch eine Ansicht, deren Prinzip von anerkennenswerter Gültigkeit ist. Gibt es doch sogar unter den Primitiven solche Schlaumeier, die vor ihren Fetisch treten mit einem schwarzen Huhn unter dem Arm und sagen: „Siehe, ich opfere dir ein schönes schwarzes Schwein.“ Ich bin aber der Ansicht, dass die entwertende Erklärungsweise, trotz der unverkennbaren Erleichterung, die der gewöhnliche Mensch beim Herunterreissen von etwas Grossem verspürt, nicht unter allen Umständen die richtige sei, auch wenn sie sich sehr „biologisch“ anlässt. Soweit wir diese beiden Grossen im Reiche des Geistes persönlich kennen, müssen wir aber sagen, dass ihre ganze Art dermassen ernsthaft ist, dass ihre christliche Umkehrung weder Erschleichung noch Betrug war, sondern Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit.
Wir verlieren uns nicht auf einen Nebenweg, wenn wir uns bei dieser Gelegenheit vergegenwärtigen, was die Brechung der natürlichen Triebrichtung, als welche der christliche (Opfer-) Prozess erscheint, psycho[S. 31]logisch bedeutet: Aus dem Obengesagten ergibt sich nämlich, dass die Umkehrung zugleich auch den Übergang in eine andere Einstellung bedeutet. Damit wird auch klar, woher das treibende Motiv zur Umkehrung stammt, und inwiefern Tertullian recht hat, die Seele als „naturaliter christiana“ aufzufassen: Die natürliche Triebrichtung folgt, wie alles in der Natur, dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses. Nun hat der eine Mensch etwas mehr Veranlagung hier, der andere dort. Oder die Anpassung an die erste Umgebung der Kindheit erfordert etwas mehr Zurückhaltung und Nachdenken oder etwas mehr Einfühlung, je nach der Art der Eltern und der Umstände. Dadurch bildet sich automatisch eine gewisse Vorzugseinstellung aus, welche verschiedene Typen ergibt. Insofern nun jeder Mensch als relativ stabiles Wesen alle psychologischen Grundfunktionen besitzt, so wäre es auch eine psychologische Notwendigkeit hinsichtlich einer vollkommenen Anpassung, dass der Mensch sie auch gleichmässig verwende. Denn es muss einen Grund haben, warum es verschiedene psychologische Anpassungswege gibt: offenbar genügt der eine allein nicht, indem das Objekt beispielsweise als bloss Gedachtes oder als bloss Gefühltes nur teilweise erfasst zu sein scheint. Durch einseitige („typische“) Einstellung bleibt ein Fehlbetrag in der psychologischen Anpassungsleistung, der sich im Laufe des Lebens aufhäuft, wodurch sich früher oder später eine Anpassungsstörung entwickelt, welche das Subjekt zu einer Compensation drängt. Die Compensation kann aber nur erreicht werden durch eine Abschneidung (Opfer) der bisherigen einseitigen Einstellung. Dadurch entsteht eine temporäre Aufstauung der Energie und ein Überfluten in bisher bewusst nicht benützte, aber unbewusst bereitliegende Kanäle. Das Anpassungsdefizit, welches die causa efficiens zum Prozess der Umkehrung ist, macht sich subjektiv bemerkbar als Gefühl einer unbestimmten[S. 32] Unbefriedigung. Eine solche Atmosphäre herrschte um die Wende unserer Zeitrechnung. Ein ausserordentliches und erstaunliches Erlösungsbedürfnis überkam die Menschheit und bewirkte jenes unerhörte Aufblühen von allen möglichen und unmöglichen Kulten im alten Rom. Es mangelte auch nicht an Vertretern der Auslebetheorie, die anstatt mit „Biologie“, mit Gründen damaliger Wissenschaft operierten. Auch konnte man sich nicht genug tun mit Spekulationen darüber, woher es komme, dass es den Menschen so schlecht gehe; nur war der Kausalismus jener Zeit etwas weniger beschränkt, als der unserer Wissenschaft; man griff nicht bloss in die Kindheit zurück, sondern gleich in die Kosmogonie und ersann zahlreiche Systeme, welche nachwiesen, was alles in der Vorzeit passiert war, wodurch dann unleidliche Folgezustände für die Menschheit herauskamen.
Das Opfer, das Tertullian und Origenes brachten, ist drastisch, zu drastisch für unsern Geschmack, aber es entsprach dem Geiste jener Zeit, der durchaus concretistisch war. Aus diesem Geiste heraus nahm die Gnosis ihre Visionen für schlechthin real oder doch wenigstens als direkt auf Reales bezüglich, und Tertullian setzt die Tatsache seines Fühlens für objektiv gültig. Der Gnostizismus projizierte die subjektive innere Wahrnehmung des Prozesses der Einstellungsänderung als ein kosmogonisches System und glaubte an die Realität seiner psychologischen Figuren.
In meinem Buch über „Wandlungen und Symbole der Libido“ liess ich die Frage offen, woher die eigentümliche Libidorichtung im christlichen Prozesse stamme. Ich sprach damals von einer Zerspaltung der Libidorichtung in zwei gegeneinander gerichtete Hälften. Die Erklärung hiefür ergibt sich aus der Einseitigkeit der psychologischen Einstellung, die so einseitig geworden war, dass die Compensation aus[S. 33] dem Unbewussten herauf sich aufdrängte. Es ist gerade die gnostische Bewegung in den ersten christlichen Jahrhunderten, welche das Hervorbrechen unbewusster Inhalte im Momente der Compensierung aufs klarste dartut. Das Christentum selber bedeutete die Zertrümmerung und Opferung antiker Kulturwerte, d. h. der antiken Einstellung. In gegenwärtiger Zeit ist beinahe überflüssig zu bemerken, dass es gleichgültig ist, ob wir von heute oder von der Zeit vor 2000 Jahren reden.