2. Die theologischen Streitigkeiten der alten Kirche.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir dem Typengegensatz auch sonst in der Geschichte der Schismen und Häresieen der an Streitigkeiten so reichen frühchristlichen Kirche begegnen. Die vielleicht mit den Urchristen überhaupt identischen Ebioniten oder Judenchristen glaubten an die ausschliessliche Menschlichkeit Christi und hielten ihn für den Sohn der Maria und des Joseph, der erst nachträglich seine Weihe durch den heiligen Geist empfangen habe. Die Ebioniten sind somit in diesem Punkte das den Doketen gegenüber liegende Extrem. Dieser Gegensatz wirkte noch lange nach. In veränderter Form trat der Gegensatz in kirchenpolitisch verschärfter aber inhaltlich gemilderter Form um 320 in der Häresie des Arius wieder zu tage. Arius leugnete die von der orthodoxen Kirche proponierte Formel τῷ Πατρὶ ὁμοούσιος (dem Vater gleich). Wenn wir die Geschichte des grossen arianischen Streites um Homousie und Homoiusie (Wesengleichheit und Wesensähnlichkeit Christi mit Gott) genauer ansehen, so scheint uns zwar die Homoiusie deutlich den Akzent auf das Sinnliche und menschlich Erfühlbare zu legen, gegenüber dem rein Denkmässigen und Abstrakten des Standpunktes der Homousie. Gleichermassen möchte[S. 34] es uns scheinen, als ob die Empörung der Monophysiten (welche die absolute Einheit der Natur Christi vertraten) gegen die dyophysitische Formel des Konzils von Chalcedon (welches die unzertrennbare Doppelnatur Christi, nämlich seine geeinte menschliche und göttliche Natur vertrat) wiederum den Standpunkt des Abstrakten und Unvorstellbaren gegenüber dem Sinnlich-Natürlichen der dyophysitischen Formel zur Geltung brächte. Zugleich aber tritt uns die Tatsache überwältigend vor Augen, dass an der arianischen Bewegung, sowohl wie am Monophysitenstreit, die subtile dogmatische Frage zwar für diejenigen Köpfe, welche sie ursprünglich herausbrachten, die Hauptsache war, nicht aber für die grosse Masse, welche sich parteinehmend des Dogmenstreites bemächtigte. Für sie hatte auch zu jenen Zeiten eine so subtile Frage keine Motivkraft, sondern sie war bewegt durch Probleme und Ansprüche politischer Macht, die mit der theologischen Differenz nichts zu tun hatten. Wenn die Typendifferenz hier überhaupt eine Bedeutung hatte, so war es die, dass sie die Schlagworte lieferte, welche die groben Masseninstinkte in schmeichelhafter Weise etikettierten. Damit soll aber keineswegs die Anerkennung der Tatsache ausgelöscht sein, dass für die, die den Streit entfachten, Homousie und Homoiusie, eine ernsthafte Sache war. Denn dahinter verbarg sich historisch wie psychologisch das ebionitische Bekenntnis zum reinen Menschen Christus mit relativer („scheinbarer“) Göttlichkeit, und das doketische Bekenntnis zum reinen Gott Christus mit nur scheinbarer Körperlichkeit. Und unter dieser Schicht wiederum liegt das grosse psychologische Schisma. Einerseits die Behauptung, der Hauptwert und die Hauptbedeutung liege bei dem sinnlich Erfassbaren, dessen Subjekt, wenn auch nicht immer menschlich-persönlich, so doch immer ein projiziertes menschliches Empfinden ist; anderer[S. 35]seits die Behauptung, der Hauptwert liege bei dem Abstrakten und Aussermenschlichen, dessen Subjekt die Funktion ist, das heisst: der objektive Naturprozess, der in unpersönlicher Gesetzmässigkeit abläuft, jenseits menschlicher Empfindung, ja sogar als deren Grundlage. Ersterer Standpunkt übersieht die Funktion zu Gunsten des Funktionskomplexes, als welcher der Mensch erscheint; letzterer Standpunkt übersieht den Menschen als den unerlässlichen Träger zu Gunsten der Funktion. Beide Standpunkte leugnen einander gegenseitig ihren Hauptwert. Je entschiedener sich die Vertreter der beiden Standpunkte mit ihrem Standpunkt identifizieren, desto mehr versuchen sie auch, in bester Absicht vielleicht, sich gegenseitig den eigenen Standpunkt aufzudrängen und vergewaltigen dadurch den Hauptwert des andern.

Eine andere Seite des Typengegensatzes scheint im pelagianischen Streit im Beginn des 5. Jahrhunderts hervorzutreten. Die von Tertullian tiefempfundene Erfahrung, dass der Mensch auch nach der Taufe die Sünde nicht vermeiden kann, wurde bei Augustin, der in vielen Beziehungen Tertullian nicht unähnlich ist, zu jener durchaus charakteristischen, pessimistischen Lehre der Erbsünde, deren Wesen in der seit Adam vererbten Concupiscentia besteht.[3] Der Tatsache der Erbsünde gegenüber stand bei Augustin die erlösende Gnade Gottes mit der durch sie geschaffenen Institution der Kirche, welche die Erlösungsmittel verwaltete. In dieser Auffassung steht der Wert des Menschen sehr tief. Er ist eigentlich nichts als ein armseliges, verworfenes Geschöpf, das dem Teufel unter allen Umständen verfallen ist, wenn er nicht durch das Medium der alleinseligmachenden Kirche der göttlichen Gnade[S. 36] teilhaftig wird. Damit fiel nicht nur der Wert, sondern auch die sittliche Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen mehr oder weniger weg, wodurch allerdings der Wert und die Bedeutung der Idee der Kirche umsomehr stieg, was dem in der augustinischen civitas Dei ausgesprochenen Programm entsprach.

Einer solch erdrückenden Auffassung gegenüber erhebt sich immer wieder das Gefühl der Freiheit und des sittlichen Wertes des Menschen, das auf die Länge sich von keiner noch so tiefen Einsicht oder noch so scharfen Logik unterdrücken lässt. Das Recht des menschlichen Wertgefühles fand seinen Verteidiger in Pelagius, einem britannischen Mönch und seinem Schüler Caelestius. Ihre Lehre gründete sich auf die sittliche Freiheit des Menschen als einer gegebenen Tatsache. Für die psychologische Verwandtschaft des pelagianischen Standpunktes mit der dyophysitischen Auffassung ist bezeichnend, dass die angefeindeten Pelagianer bei Nestorius, dem Metropoliten von Konstantinopel, Aufnahme fanden. Nestorius betonte die Trennung der beiden Naturen Christi gegenüber der Cyrillischen Lehre der φυσιχὴ ἕνωσις, der physischen Einheit Christi als Gottmenschen. Nestorius wollte auch Maria durchaus nicht als θεοτόκος (Gottesgebärerin), sondern bloss als Χριστοτόκος (Christusgebärerin) aufgefasst wissen. Er nannte den Gedanken, dass Maria Gottesmutter sei, mit gutem Recht sogar heidnisch. Von ihm aus ging der nestorianische Streit, der schliesslich mit der Abspaltung der nestorianischen Kirche endete.

Share on Twitter Share on Facebook