VI Das Typenproblem in der Psychiatrie.

[S. 383]

VI.
Das Typenproblem in der Psychiatrie.

Wir gelangen nunmehr zu dem Versuch eines Psychiaters, zwei Typen herauszuheben aus der verwirrenden Mannigfaltigkeit der sog. psychopathischen Minderwertigkeiten. Diese ungemein umfangreiche Gruppe vereinigt alle psychopathischen Grenzzustände, die nicht mehr dem Gebiete der eigentlichen Psychosen zuzurechnen sind, also alle Neurosen und alle Degenerationszustände, wie intellektuelle, moralische, affektive, und sonstige psychische Minderwertigkeiten. Dieser Versuch stammt von Otto Gross, der unter dem Titel: „Die zerebrale Sekundärfunktion“, 1902 eine theoretische Studie veröffentlichte, deren Grundhypothese ihn zur Aufstellung von zwei psychologischen Typen veranlasst hat.[247] Obschon das ihn beschäftigende empirische Material dem Gebiete der psychischen Minderwertigkeit entnommen ist, so hindert doch nichts, die dort gewonnenen Gesichtspunkte auch auf das weitere Gebiet der normalen Psychologie zu übertragen, indem nämlich der unbalancierte seelische Zustand dem Forscher nur eine besonders günstige Gelegenheit gewährt, gewisse psychische Phänomene in fast übertriebener Deutlichkeit zu sehen, Phänomene, die innerhalb der normalen Grenzen oft nur undeutlich wahrzunehmen sind. Der abnorme Zustand wirkt gelegentlich wie ein Vergrösserungsglas. Gross selber dehnt[S. 384] in seinem Schlusskapitel seine Folgerungen auch auf weitere Gebiete aus, wie wir unten sehen werden.

Gross versteht unter der „Sekundärfunktion“ einen zerebralen Zellvorgang, der nach stattgehabter „Primärfunktion“ einsetzt. Die Primärfunktion entspräche der eigentlichen Leistung der Zelle, nämlich der Erzeugung eines positiven psychischen Vorganges, sagen wir, einer Vorstellung. Die Leistung entspricht einem energetischen Vorgange, nämlich vermutlich der Auslösung einer chemischen Spannung, d. h. einem chemischen Zerfall. Nach dieser akuten Entladung, welche Gross als Primärfunktion bezeichnet, setzt die Sekundärfunktion ein, d. h. eine Restitution, ein Wiederaufbau durch Ernährung. Diese Funktion wird je nach der Intensität des vorausgegangenen Aufwandes an Energie kürzere oder längere Zeit in Anspruch nehmen. Die Zelle ist während dieser Zeit in einem gegenüber vorher veränderten Zustand, in einer Art Reizzustand, der den weitern psychischen Ablauf nicht unbeeinflusst lassen kann. Namentlich hochbetonte, affektvolle Vorgänge dürften einen besondern Energieaufwand, und daher eine besonders verlängerte Restitutionsperiode oder Sekundärfunktion bedeuten. Die Wirkung der Sekundärfunktion auf den psychischen Ablauf denkt sich Gross als eine nachweisbare spezifische Beeinflussung des nachfolgenden Associationsverlaufes, und zwar im Sinne einer Einschränkung der Associationsauswahl auf das in der Primärfunktion dargestellte „Thema“, der sog. „Hauptvorstellung“. Tatsächlich habe ich etwas später in meinen eigenen experimentellen Arbeiten — und ebenso mehrere meiner Schüler in entsprechenden Untersuchungen — auf die Perseverationsphänomene [248] nach hochbetonten Vorstellungen hinweisen können, Phänomene, die zahlenmässig nachzuweisen sind. Mein Schüler Eberschweiler hat in einer sprachlichen Unter[S. 385]suchung dieses selbe Phänomen in den Assonanzen und Agglutinationen nachgewiesen.[249] Aus der pathologischen Erfahrung weiss man überdies, wie häufig gerade bei schweren Gehirnläsionen wie Apoplexien, Tumoren, atrophischen und sonstigen Entartungszuständen die Perseverationen sind. Sie sind wohl eben dieser erschwerten Restitution zuzuschreiben. Die Gross’sche Hypothese hat daher viel Wahrscheinlichkeit für sich. Es ist nun ganz natürlich, die Frage aufzuwerfen, ob es nicht Individuen oder sogar Typen gibt, bei denen die Restitutionsperiode, die Sekundärfunktion, länger dauert als bei andern, und ob nicht daraus eventuell gewisse eigenartige Psychologien abzuleiten wären. Eine kurze Sekundärfunktion beeinflusst in einer gegebenen Zeitspanne weit weniger konsekutive Associationen, als eine lange. Die Primärfunktion kann daher im erstern Fall viel häufiger stattfinden. Das psychologische Bild dieses Falles zeigt daher die Eigentümlichkeit einer rasch immer wieder erneuten Bereitschaft der Aktion und der Reaktion, also eine Art von Ablenkbarkeit, eine Neigung zur Oberflächlichkeit der Verbindungen, ein Mangel an tiefern, geschlossenem Zusammenhängen, eine gewisse Inkohärenz, soweit Bedeutsamkeit des Zusammenhanges erwartet wird. Dagegen drängen sich in der Zeiteinheit viele neue Themata auf, ohne sich aber irgendwie zu vertiefen, sodass auch Heterogenes und Verschiedenwertiges à niveau auftritt, wodurch der Eindruck der sog. „Nivellierung der Vorstellungen“ (Wernicke) hervorgerufen wird. Dieses rasche Aufeinanderfolgen der Primärfunktionen schliesst eo ipso ein Erleben der Affektwerte der Vorstellungen aus, daher die Affektivität nicht anders als oberflächlich sein kann. Zugleich sind dadurch aber auch rasche Anpassungen[S. 386] und Einstellungsänderungen ermöglicht. Der eigentliche Denkvorgang, oder besser gesagt, die Abstraktion, leidet natürlich unter der Kürze der Sekundärfunktion, indem der Vorgang der Abstraktion ein länger andauerndes Verweilen von mehreren Ausgangsvorstellungen und deren Nachwirkungen verlangt, also eine längere Sekundärfunktion. Ohne sie kann keine Vertiefung und Abstraktion einer Vorstellung — oder Vorstellungsgruppe — erfolgen. Die schnellere Wiederherstellung der Primärfunktion bedingt eine höhere Reagibilität, allerdings nicht in intensivem, sondern in extensivem Sinne, daher eine prompte Auffassung der unmittelbaren Gegenwart, aber nur ihrer Oberfläche und nicht ihrer tiefern Bedeutung nach. Dieser Umstand erweckt den Eindruck der Kritiklosigkeit oder je nachdem auch den der Vorurteilslosigkeit, des Entgegenkommens und Verstehens oder gegebenenfalls auch den Eindruck der unverständlichen Rücksichtslosigkeit, der Taktlosigkeit oder gar der Gewalttätigkeit. Das zu rasche Hinweggleiten über tiefere Bedeutungen veranlasst den Eindruck einer gewissen Blindheit für alle nicht an der äussersten Oberfläche liegenden Dinge. Die rasche Reagibilität erscheint auch als sog. Geistesgegenwart, Verwegenheit bis Tollkühnheit, die ihre Voraussetzung in der Kritiklosigkeit, im Nichtrealisieren der Gefahr hat. Die Raschheit der Aktion täuscht Entschlossenheit vor, ist aber mehr blinder Impuls. Der Eingriff in fremdes Gebiet erscheint als selbstverständlich und ist erleichtert durch die Unkenntnis des Affektwertes der Vorstellung, der Handlung und ihrer Wirkung auf den Mitmenschen. Durch die rasch wieder erneute Bereitschaft wird die Verarbeitung der Wahrnehmungen und Erfahrungen gestört, sodass das Gedächtnis in der Regel erheblich leidet, denn meistens können nur diejenigen Associationen leicht reproduziert werden, die massenhafte Verbindungen eingegangen sind. Relativ isolierte Inhalte[S. 387] versinken rasch, daher es unendlich viel schwerer ist eine Reihe von sinnlosen (inkohärenten) Worten sich zu merken, als ein Gedicht. Rasche Entflammbarkeit, Enthusiasmus, der bald erlöscht, sind weitere Charakteristika, ebenso gewisse Geschmacklosigkeiten, die durch die allzu rasche Aufeinanderfolge heterogener Inhalte und durch Nichtrealisierung ihrer zu differenten Affektwerte entstehen. Das Denken hat repräsentativen Charakter, also mehr die Art des Vorstellens und des Aneinanderreihens von Inhalten, als den der Abstraktion und Synthese. Ich bin bei dieser Schilderung des Typus mit kurzer Sekundärfunktion im wesentlichen Gross gefolgt unter Beifügung einiger Transskriptionen ins Normale. Gross nennt nämlich diesen Typus: Minderwertigkeit mit verflachtem Bewusstsein. Wenn wir aber die allzu krassen Züge bis zum Normalen abmildern, so erhalten wir ein Gesamtbild, in welchem der Leser unschwer den „less emotional type“ Jordans wieder erkennt, also den Extravertierten. Gross gebührt daher das nicht unbeträchtliche Verdienst, der Erste zu sein, der eine einheitliche und einfache Hypothese für das Zustandekommen dieses Typus aufgestellt hat.

Den entgegengesetzten Typus bezeichnet Gross als Minderwertigkeit mit verengtem Bewusstsein. Die Sekundärfunktion dieses Typus ist besonders intensiv und verlängert. Durch ihre Verlängerung wird die konsekutive Association in höherm Masse beeinflusst als beim oben erwähnten Typus. Es liegt nahe, in diesem Falle auch eine verstärkte Primärfunktion anzunehmen, also eine umfangreichere und völligere Leistung der Zelle als beim Extravertierten. Die verlängerte und verstärkte Sekundärfunktion wäre die natürliche Folge davon. Die verlängerte Sekundärfunktion bewirkt ein längeres Haftenbleiben der von der Ausgangsvorstellung angeregten Wirkung. Dadurch entsteht ein Effekt, den Gross als „Kontraktivwirkung“[S. 388] bezeichnet, nämlich eine besonders (im Sinne der Ausgangsvorstellung) gerichtete Auswahl der konsekutiven Associationen. Dadurch wird eine umfangreiche Realisierung oder Vertiefung des „Themas“ erzielt. Die Vorstellung wirkt nachhaltig, der Eindruck geht tief. Eine ungünstige Folge ist die Einschränkung auf ein engeres Gebiet, worunter die Mannigfaltigkeit und der Reichtum des Denkens leiden. Jedoch wird die Synthese wesentlich unterstützt, da die zusammenzusetzenden Elemente lange genug konstelliert bleiben, um ihre Abstraktion zu ermöglichen. Des weitern bewirkt die Einengung auf ein Thema zwar eine Anreicherung an zugehörigen Associationen und eine feste innere Verknüpfung und Geschlossenheit eines Vorstellungskomplexes, aber zugleich auch wird dieser Komplex gegen alles Nichtzugehörige abgeschlossen und gerät dadurch in eine associative Isolierung, welches Phänomen Gross (in Anlehnung an Wernickes Begriff) als „Sejunktion“ bezeichnet. Eine Folge der Sejunktion der Komplexe ist die Anhäufung von Vorstellungsgruppen (oder Komplexen), die unter sich in keinem oder einem nur lockern Zusammenhang stehen. Nach aussen zeigt sich dieser Zustand als eine disharmonische, oder, wie Gross sie nennt, eine sejunktive Persönlichkeit. Die isolierten Komplexe bestehen zunächst ohne gegenseitige Einwirkung nebeneinander, infolgedessen sie sich auch nicht gegenseitig ausgleichend und korrigierend durchdringen. Sie sind zwar in sich selbst streng und logisch geschlossen, aber entbehren des korrigierenden Einflusses andersgerichteter Komplexe. Es kann daher leicht vorkommen, dass ein besonders starker und daher auch besonders abgeschlossener und unbeeinflussbarer Komplex sich zur „überwertigen Idee“ erhebt, d. h. zu einer Dominante wird, welche jeder Kritik trotzt und völliger Autonomie geniesst, sodass sie sich zur allbeherrschenden Grösse, zum „spleen“ auf[S. 389]schwingt.[250] In krankhaften Fällen wird sie zur Zwangsidee oder zur paranoischen Idee, d. h. zu einer absolut unerschütterlichen Grösse, welche das ganze Leben des Individuums in ihren Dienst zwingt. Dadurch wird die ganze Mentalität anders orientiert, der Standpunkt wird „verrückt“. Aus dieser Auffassung der Entstehung einer paranoischen Idee könnte auch die Tatsache erklärt werden, dass in gewissen Anfangszuständen durch geeignete psychotherapeutische Prozeduren die paranoische Idee auch korrigiert werden kann, nämlich dann, wenn es gelingt, sie mit andern erweiternden und daher korrigierenden Vorstellungskomplexen zu verbinden.[251] Es besteht auch eine unzweifelhafte Behutsamkeit, ja sogar Ängstlichkeit hinsichtlich der Associierung getrennter Komplexe. Die Dinge müssen reinlich gesondert bleiben, die Brücken zwischen den Komplexen werden sozusagen möglichst abgebrochen durch rigorose und rigide Formulierung des Komplexinhaltes. Gross nennt diese Tendenz „Associationsangst“. (Psychopath. Minderw. p. 40.) Die strenge innere Geschlossenheit eines solchen Komplexes erschwert jeden Beeinflussungsversuch von aussen. Ein solcher Versuch hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es ihm gelingt, entweder die Prämisse oder den Schluss des Komplexes ebenso streng und logisch, wie sie unter sich verbunden sind, an einen andern Komplex anzuschliessen. Die Anhäufung von ungenügend verbundenen Komplexen bewirkt natürlich eine starke Ab[S. 390]schliessung nach aussen und, wie wir sagen würden, eine starke Aufstauung der Libido innen. Daher findet man regelmässig eine ausserordentliche Konzentration auf innere Vorgänge, je nach der Art des Menschen entweder auf physische Sensationen bei einem mehr empfindungsmässig Orientierten oder auf geistige Vorgänge bei einem mehr Intellektuellen. Die Persönlichkeit erscheint gehemmt, absorbiert oder zerstreut, „in Gedanken versunken“ oder intellektuell einseitig oder hypochondrisch. Auf jeden Fall findet sich eine geringe Anteilnahme am äussern Leben und eine deutliche Neigung zu Menschenscheu und Einsamkeit, die sich oft durch eine besondere Liebe zu Tieren oder Pflanzen compensiert. Dafür sind die innern Vorgänge umso reger, weil von Zeit zu Zeit bisher wenig oder gar nicht verbundene Komplexe plötzlich „zusammenstossen“ und dadurch wieder Anlass geben zu einer intensiven Primärfunktion, die eine lange, zwei Komplexe amalgamierende Sekundärfunktion auslöst. Man könnte meinen, dass auf diese Weise einmal alle Komplexe zusammenstossen und dadurch eine allgemeine Einheitlichkeit und Geschlossenheit der psychischen Inhalte erzeugen könnten. Diese heilsame Folge würde natürlich nur dann eintreten, wenn man unterdessen den Wechsel des äussern Lebens stillstellen könnte. Weil dies aber nicht möglich ist, so treffen doch immer wieder neue Reize ein, die Sekundärfunktionen erzeugen, welche die innern Linien durchkreuzen und verwirren. Dementsprechend hat dieser Typus die ausgesprochene Tendenz, äussere Reize fernzuhalten, dem Wechsel aus dem Wege zu gehen, das Leben in seinem konstanten Flusse womöglich anzuhalten, bis er alle innern Amalgamierungen vollzogen hat. Wenn es sich um einen Kranken handelt, so wird er diese Tendenz auch deutlich zeigen, er wird sich möglichst von allem zurückziehen und ein Einsiedlerleben zu führen suchen. Er wird aber nur in leichten Fällen auf diese Weise[S. 391] seine Heilung finden. In allen schwereren Fällen bleibt nichts anderes übrig, als die Intensität der Primärfunktion herabzusetzen, welche Frage allerdings ein Kapitel für sich ist, das wir aber doch schon in der Besprechung der Schillerschen Briefe gestreift haben. Es ist ohne weiteres klar, dass dieser Typus durch ganz besondere Affektphänomene ausgezeichnet ist. Wie wir sahen, realisiert dieser Typus die der Ausgangsvorstellung zugehörigen Associationen. Er associiert das dem Thema zugehörige Material in vollem Masse, d. h. insofern es sich nicht um bereits an andere Komplexe gebundene Materialien handelt. Trifft ein Reiz auf solches Material, d. h. auf einen Komplex, so entsteht entweder eine gewaltige Reaktion, eine affektvolle Explosion oder gar nichts, wenn die Abgeschlossenheit des Komplexes nichts hereinlässt. Wenn die Realisierung aber stattfindet, so werden alle Affektwerte ausgelöst; es findet eine starke affektive Reaktion statt, welche eine lange Nachwirkung hinterlässt, die sehr häufig aussen unbemerkt bleibt, sich aber dafür innen umso tiefer einbohrt. Die Nachschwingungen des Affektes erfüllen das Individuum und machen es unfähig, neue Reize aufzunehmen, bis der Affekt verklungen ist. Eine Häufung von Reizen wird unerträglich, weshalb dann heftige Abwehrreaktionen eintreten. Bei starker Komplexanhäufung entsteht überhaupt eine chronische Abwehreinstellung, die sich zu Misstrauen, ja sogar bis zu Verfolgungswahn in pathologischen Fällen steigern kann. Die plötzlichen Explosionen, abwechselnd mit Schweigsamkeit und Abwehr, können der Persönlichkeit einen bizarren Anstrich geben, sodass solche Menschen ihrer Umwelt zum Rätsel werden. Die wegen innerer Inanspruchnahme verminderte Bereitschaft bewirkt Mangel an Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit. Dadurch entstehen öfters verlegene Situationen, in denen man sich nicht zu helfen weiss — wiederum ein Grund mehr, sich von der Gesellschaft zurückzuziehen. Durch ge[S. 392]legentliche Explosionen wird zudem Verwirrung gestiftet in den Beziehungen zu andern, und wegen der Verlegenheit und Ratlosigkeit fühlt man sich ausser Stande, die Beziehungen wieder ins richtige Geleise zu bringen. Diese Schwerfälligkeit der Anpassung führt zu einer Reihe schlechter Erfahrungen, die unfehlbar ein Gefühl der Minderwertigkeit oder Bitterkeit erzeugen, wenn nicht gar Erbitterung, die sich dann gerne gegen diejenigen richtet, die die wirklichen oder vermeintlichen Urheber des Unglückes waren. Das affektive Innenleben ist sehr intensiv, und wegen der vielen nachklingenden Affekte ergibt sich auch eine äusserst feine Abstufung der Töne und ihrer Wahrnehmung, also eine besondere emotionale Sensitivität, die sich auch nach aussen verrät durch eine besondere Scheu und Ängstlichkeit vor emotionalen Reizen oder allen Situationen, wo solche Eindrücke möglich wären. Die Empfindlichkeit richtet sich namentlich gegen emotionale Zustände der Umgebung. Brüske Meinungsäusserungen, affektvolle Behauptungen, Gefühlsbeeinflussungen und dergl. werden daher von vornherein abgewehrt — und zwar aus Angst vor der eigenen Emotion, die wieder einen nachhallenden Eindruck auslösen könnte, dessen man nicht Herr zu werden fürchtet. Aus dieser Sensitivität entsteht mit der Zeit leicht eine gewisse Schwermut, die auf dem Gefühl beruht, vom Leben ausgeschlossen zu sein. An anderer Stelle[252] hält Gross dafür, dass „Tiefsinn“ ein besonderes Charakteristikum dieses Typus sei. An derselben Stelle wird auch hervorgehoben, dass die Realisierung des Affektwertes leicht zur affektiven Überschätzung führe, zum „Zuwichtig-nehmen“. Das starke Hervortreten der Innenvorgänge und des Emotionalen in diesem Bilde lässt leicht den Introvertierten erkennen. Die Beschreibung, die Gross gibt, ist weit vollständiger als die[S. 393] Jordansche des „impassioned type“, der aber in seinen Hauptzügen mit dem von Gross geschilderten Typus identisch sein dürfte.

Im V. Kapitel seiner Schrift bemerkt Gross, dass innerhalb der normalen Breite die beiden von ihm beschriebenen Minderwertigkeitstypen physiologische Individualitätsverschiedenheiten darstellen. Das verflacht-verbreiterte und das verengt-vertiefte Bewusstsein ist also eine Verschiedenheit des Charakters.[253] Der Typus des verbreiterten Bewusstseins ist nach Gross vorzugsweise praktisch, wegen der raschen Anpassung an die Umgebung. Das Innenleben überwiegt nicht, weil es nicht zur Ausbildung grosser Vorstellungskomplexe kommt. „Sie wirken energisch propagierend für die eigene Persönlichkeit — stehen sie höher, auch für fertig überkommene grosse Ideen.“[254] Gross hält das Gefühlsleben dieses Typus für primitiv, bei Höherstehenden organisiere es sich „durch die Übernahme fertiger Ideale von aussen her“. Dadurch kann die Tätigkeit, resp. das Gefühlsleben (wie Gross sagt) heroisch werden. „Aber immer ist es banal.“ „Heroisch“ und „banal“ scheinen nicht zueinander zu passen. Gross zeigt uns aber sofort, was er damit meint: bei diesem Typus besteht keine genügend reich entwickelte Verbindung des erotischen Vorstellungskomplexes mit dem übrigen Bewusstseinsinhalt, d. h. mit den übrigen Komplexen ästhetischer, ethischer, philosophischer und religiöser Natur. Freud würde hier von der Verdrängung des erotischen Elementes sprechen. Für Gross ist das ausgeprägte Vorhandensein dieser Verbindung das „eigentliche Zeichen der vornehmen Natur“ (p. 61). Für die Ausbildung dieser Verbindung ist eine verlängerte Sekundärfunktion unerlässlich, denn nur durch Vertiefung und verlängertes Bewussthalten der Elemente kann diese Synthese zu[S. 394] Stande kommen. Durch übernommene Ideale kann die Sexualität zwar in die Bahnen des sozial Nützlichen gedrängt werden, aber sie „erhebt sich nie über die Grenzen der Trivialität“. Dieses etwas harte Urteil betrifft einen durch das Wesen des extravertierten Charakters leicht erklärlichen Tatbestand: der Extravertierte orientiert sich ausschliesslich an äussern Daten, sodass das Hauptgewicht seiner psychischen Tätigkeit immer in der Beschäftigung mit solchen liegt. Es bleibt daher wenig oder nichts übrig für die Ordnung der innern Angelegenheiten. Sie haben sich von vornherein den von aussen aufgenommenen Bestimmungen unterzuordnen. Unter diesen Umständen kann daher auch die Verbindung der höher entwickelten mit den minder entwickelten Funktionen nicht stattfinden, denn sie verlangt ein grosses Mass von Zeit und Mühe, eine langwierige und schwierige Selbsterziehungsarbeit, die ohne Introversion überhaupt nicht geleistet werden kann. Dafür fehlt dem Extravertierten Zeit und Lust, und zudem hindert ihn daran dasselbe unverhohlene Misstrauen, mit dem er seine Innenwelt, und der Introvertierte die Aussenwelt betrachtet. Man darf nun aber nicht glauben, dass der Introvertierte dank seiner grössern synthetischen Fähigkeit und seines bessern Vermögens, Affektwerte zu realisieren, sozusagen ohne weiteres in der Lage wäre, auch die Synthese seiner Individualität durchzuführen, d. h. zunächst einmal eine harmonische Verbindung der höhern und niedern Funktionen herzustellen. Ich ziehe diese Formulierung der Gross’schen Auffassung, dass es sich bloss um die Sexualität handle, vor, denn m. E. handelt es sich nicht bloss um die Sexualität, sondern auch um andere Triebe. Die Sexualität ist allerdings eine sehr häufige Ausdrucksform für ungebändigte, rohe Triebe, aber ebenso ist auch das Machtstreben in allen seinen vielfachen Aspekten ein solcher Trieb. Gross hat für den Introvertierten den Ausdruck „sejunktive Persönlich[S. 395]keit“ erfunden, womit er die eigentümliche Schwierigkeit dieses Typus, Komplexe zu verbinden, hervorhob. Die synthetische Fähigkeit des Introvertierten dient zunächst bloss dazu, von einander möglichst getrennte Komplexe zu bilden. Solche Komplexe verhindern aber geradezu die Entwicklung einer höhern Einheit. So bleibt auch beim Introvertierten der Komplex der Sexualität oder des egoistischen Machtstrebens oder der Genussucht isoliert und möglichst scharf geschieden von andern Komplexen. Ich erinnere mich z. B. eines introvertierten, sehr intellektuellen Neurotikers, der sich abwechselnd in den hohen Sphären des transscendentalen Idealismus und in übelberüchtigten Vorstadtbordellen aufhielt, ohne dass sein Bewusstsein die Existenz eines moralischen oder ästhetischen Konfliktes zugelassen hätte. Die beiden Dinge wurden, als gänzlich verschieden, reinlich auseinander gehalten. Das Resultat war natürlich eine schwere Zwangsneurose.

Wir müssen diese Kritik im Auge behalten, wenn wir den Gross’schen Ausführungen über den Typus mit vertieftem Bewusstsein folgen. Das vertiefte Bewusstsein ist, wie Gross sagt, „die Grundlage der verinnerlichten Individualitäten“. Infolge des starken Kontraktiveffektes werden äussere Reize immer vom Standpunkt einer Idee aus gesehen. An Stelle des Triebes zum praktischen Leben in der sog. Wirklichkeit tritt „der Drang zur Verinnerlichung“. „Die Dinge werden nicht als Einzelerscheinung aufgefasst, sondern als Teilbegriffe der grossen Vorstellungskomplexe.“ Diese Auffassung von Gross stimmt genau überein mit unsern frühern Überlegungen anlässlich der Erörterung des nominalistischen und realistischen Standpunktes und seiner Vorstadien in der platonischen, megarensischen und zynischen Schule. Es ist aus den Gross’schen Auffassungen leicht zu ersehen, worin der Unterschied zwischen den Standpunkten besteht: der Mensch mit[S. 396] kurzer Sekundärfunktion hat in der Zeiteinheit viele und nur locker verbundene Primärfunktionen; er ist also besonders an die einzelne Erscheinung, an den Individualfall gebunden. Für ihn sind daher die Universalia nur nomina und entbehren der Wirklichkeit. Für die Menschen mit verlängerter Sekundärfunktion dagegen stehen immer die innern Tatbestände, die Abstrakta, Ideen oder Universalia im Vordergrund, sie sind ihm das eigentlich Wirkliche, worauf er alle Einzelerscheinungen beziehen muss. Er ist daher natürlicherweise Realist (im Sinne der Scholastik). Da dem Introvertierten immer die Betrachtungsweise über der Wahrnehmung des Äussern steht, so ist er geneigt, Realitivist zu sein.[255] Er empfindet als besonders lustvoll die Harmonie der Umgebung[256]; sie entspricht seinem innern Drange nach Harmonisierung seiner isolierten Komplexe. Er vermeidet jedes „ungehemmte Auftreten“, weil es zu störenden Reizen führen könnte. (Die Fälle von Affektexplosionen müssen ausgenommen werden!) Die soziale Rücksichtnahme ist gering infolge der Absorption durch innere Vorgänge. Das starke Vorherrschen der eigenen Ideen verhindert das Übernehmen fremder Ideen und Ideale. Durch die starke innere Durcharbeitung der Vorstellungskomplexe erhalten sie ausgesprochenen Individualcharakter. „Das Gefühlsleben ist häufig sozial unbrauchbar, immer aber individuell.“[257]

Diese Behauptung des Autors müssen wir einer eingehenden Kritik unterziehen, denn sie enthält ein Problem, das nach meiner Erfahrung immer zu den grössten Missverständnissen zwischen den Typen Anlass gibt. Der introvertierte Intellektuelle, den Gross hier offenbar im Auge hat, zeigt nach aussen möglichst kein Gefühl, sondern logisch korrekte Ansichten, und[S. 397] korrektes Handeln, nicht zum mindesten deshalb, weil er erstens eine natürliche Abneigung gegen zur Schau getragene Gefühle hat, und weil er zweitens sich scheut, durch Inkorrektheit störende Reize, d. h. Affekte der Mitmenschen zu wecken. Er fürchtet unangenehme Affekte bei den andern, weil er dem andern seine eigene Sensitivität zutraut und immer auch schon durch die Raschheit und Sprunghaftigkeit des Extravertierten gestört worden ist. Er verdrängt sein Gefühl, daher es innerlich gelegentlich bis zur Leidenschaft anschwillt, daher nur zu deutlich von ihm wahrgenommen wird. Die Emotionen, die ihn quälen, sind ihm wohlbekannt. Er vergleicht sie mit den Gefühlen, die andere, natürlich in erster Linie extravertierte Fühltypen ihm zeigen und findet, seine „Gefühle“ seien ganz anders als die anderer Menschen. Er kommt daher auf die Idee, seine „Gefühle“ (genauer gesagt: seine Emotionen) seien einzigartig, d. h. individuell. Es ist natürlich, dass sie verschieden sind von den Gefühlen des extravertierten Fühltypus, denn diese sind ein differenziertes Anpassungsinstrument und ermangeln deshalb der „echten Leidenschaftlichkeit“, welche die innern Gefühle des introvertierten Denktypus kennzeichnet. Die Leidenschaft als etwas Triebmässiges hat aber wenig Individuelles an sich, sondern sie ist gegebenenfalls allen Menschen gemeinsam. Nur das Differenzierte kann individuell sein. Daher in grossen Affekten sich der Typenunterschied auch sofort verwischt zu Gunsten des allgemeinen „Allzumenschlichen“. In Wirklichkeit hat m. E. der extravertierte Fühltypus in erster Linie einen Anspruch auf Individualität des Gefühls, denn seine Gefühle sind differenziert; er verfällt aber derselben Täuschung bezüglich seines Denkens. Er hat Gedanken, die ihn quälen. Er vergleicht sie mit den Gedanken, die die Umgebung, d. h. in erster Linie die introvertierten Denktypen aussprechen. Er findet, dass seine Gedanken wenig damit übereinstimmen, er hält[S. 398] sie daher für individuell und sich selbst vielleicht für einen originellen Denker oder er verdrängt die Gedanken deshalb überhaupt, weil ja doch niemand sonst so etwas denke. In Wirklichkeit sind es aber die Gedanken, die alle Welt hat, die aber selten laut gesagt werden. Nach meiner Ansicht entspringt also die obige Behauptung von Gross einer subjektiven Täuschung, die aber zugleich eine allgemeine Regel ist.

„Die erhöhte Kontraktivkraft ermöglicht das Sichvertiefen in Dinge, denen kein unmittelbares Vitalinteresse mehr anhaftet.“[258] Damit trifft Gross einen wesentlichen Zug der introvertierten Mentalität: der Introvertierte hat eine Neigung, den Gedanken an sich zu entwickeln ganz abgesehen von aller äussern Wirklichkeit. Hierin liegt ein Vorzug und eine Gefahr. Es ist ein grosser Vorteil, einen Gedanken jenseits der Sinnlichkeit abstrakt entwickeln zu können. Die Gefahr ist aber, dass dadurch der Gedankengang sich von jeder praktischen Anwendbarkeit entfernt, wodurch sein Lebenswert proportional sinkt. Der Introvertierte ist daher immer etwas bedroht, zuviel aus dem Leben hinauszugeraten und die Dinge zuviel unter ihrem symbolischen Aspekt zu betrachten. Auch diesen Zug hebt Gross hervor. Der Extravertierte ist aber nicht besser gestellt, nur liegt für ihn die Sache anders. Er hat die Fähigkeit, seine Sekundärfunktion derart zu verkürzen, dass er fast lauter positive Primärfunktionen erlebt, d. h. dass er überhaupt nicht mehr haftet, sondern in einer Art Rausch über die Wirklichkeit hinausfliegt, die Dinge nicht mehr sieht und realisiert, sondern nur noch als Stimulantien benützt. Diese Fähigkeit ist ein grosser Vorteil, denn damit kann man sich über manche schwierige Situation hinaushelfen („Verloren bist Du, glaubst Du an Gefahr.“ Nietzsche), ein grosser Nachteil aber, weil sie schliesslich mit einer Katastrophe[S. 399] endigt, indem sie öfters in ein fast unentwirrbares Chaos hineinführt.

Gross lässt aus dem extravertierten Typus die sog. zivilisatorischen und aus dem introvertierten Typus die sog. kulturellen Genies hervorgehen. Erstere Form entspricht dem „praktischen Durchsetzen“, letztere dem „abstrahierenden Erdenken“. Gross gibt zum Schlusse seiner Überzeugung Ausdruck, „dass unsere Zeit besonders des verengt-vertieften Bewusstseins bedürfe im Gegensatz zu frühern Zeiten, die ein breiteres und flacheres Bewusstsein hatten.“[259] „Wir freuen uns am Ideellen, am Tiefen, am Symbolischen. Durch Einfachheit zur Harmonie — das ist die Kunst der Hochkultur.“

Es war freilich das Jahr 1902, als Gross diese Worte schrieb. Und jetzt? Wenn man dazu überhaupt eine Meinung äussern darf, so müssten wir sagen: wir bedürfen offenbar beides, Zivilisation und Kultur, Verkürzung der Sekundärfunktion bei den einen und Verlängerung bei den andern. Denn wir schaffen nicht das Eine ohne das Andere, und — leider müssen wir es uns gestehen — es fehlt der heutigen Menschheit an beiden. Was beim einen zuviel ist, ist beim andern zu wenig, so wollen wir uns vorsichtigerweise ausdrücken. Denn das beständige Gerede vom Fortschritt ist unglaubwürdig und verdächtig geworden.

Zusammenfassend möchte ich bemerken, dass die Gross’schen Ansichten sich weitgehend mit den meinigen decken. Sogar meine Terminologie — Extraversion und Introversion — rechtfertigt sich angesichts der Gross’schen Auffassung. Es bleibt uns nur noch eine kritische Beleuchtung der Gross’schen Fundamentalhypothese, des Begriffes der Sekundärfunktion, vorbehalten.

Es ist immer eine missliche Sache um physiologische oder „organische“ Hypothesen in Bezug auf[S. 400] psychologische Vorgänge. Es herrschte, wie bekannt, in den Zeiten der grossen Erfolge der Hirnerforschung eine Art Manie, physiologische Hypothesen für psychologische Vorgänge zu fabrizieren, worunter die Hypothese, dass im Schlafe die Zellfortsätze sich zurückzögen, nicht einmal die absurdeste ist, welche ernsthafte Würdigung und „wissenschaftliche“ Diskussion erfuhren. Man hat mit Recht von einer förmlichen „Hirnmythologie“ gesprochen. Ich möchte die Hypothese von Gross aber keineswegs als „Gehirnmythus“ behandeln, dazu hat sie einen zu grossen Arbeitswert. Sie ist eine vorzügliche Arbeitshypothese, was auch von anderer Seite schon mehrfach gebührend anerkannt worden ist. Die Idee der Sekundärfunktion ist ebenso einfach wie genial. Es lässt sich mit diesem einfachen Begriff eine sehr grosse Zahl von komplexen Seelenphänomenen auf eine befriedigende Formel bringen, und zwar Phänomene, deren differente Natur einer einfachen Reduktion und Klassifikation durch eine andere Hypothese erfolgreich widerstanden hätten. Bei einer so glücklichen Hypothese ist man immer in Versuchung, ihre Ausdehnung und Anwendbarkeit zu überschätzen. Dies dürfte auch hier der Fall sein. Und doch hat diese Hypothese leider auch nur eine beschränkte Reichweite. Wir wollen ganz absehen von der Tatsache, dass die Hypothese an sich nur ein Postulat ist, denn niemand hat die Sekundärfunktion der Gehirnzelle je gesehen und niemand könnte beweisen, dass und warum die Sekundärfunktion im Prinzip den qualitativ gleichen Kontraktiveffekt auf die nächsten Associationen haben sollte wie die Primärfunktion, die doch ihrer Definition nach von der Sekundärfunktion ganz wesentlich verschieden ist. Es gibt einen andern Umstand, der m. E. weit schwerer ins Gewicht fällt: der Habitus der psychologischen Einstellung kann sich bei einem und demselben Individuum innerhalb kürzester Frist ändern. Wenn die Dauer der Sekundärfunktion ein[S. 401] physiologischer oder organischer Charakter ist, dann muss er als mehr oder weniger dauerhaft angesehen werden. Es ist dann nicht zu erwarten, dass die Dauer der Sekundärfunktion plötzlich sich ändert, denn solches sehen wir bei einem physiologischen oder organischen Charakter niemals, pathologische Veränderungen ausgenommen. Wie ich schon mehrfach hervorhob, sind Introversion und Extraversion gar keine Charaktere, sondern Mechanismen, die sozusagen beliebig ein- oder ausgeschaltet werden können. Nur aus ihrem habituellen Vorherrschen entwickeln sich dann die entsprechenden Charaktere. Gewiss beruht die Prädilektion auf einer gewissen angebornen Disposition, die aber wohl nicht immer absolut entscheidend ist. Ich habe oft gesehen, dass Milieueinflüsse fast ebenso wichtig sind. Ich erlebte es sogar einmal, dass jemand, der in der nächsten Umgebung eines Introvertierten lebte und ein deutlich extravertiertes Benehmen aufwies, seine Einstellung änderte und introvertiert wurde, als er später in eine nahe Beziehung zu einer ausgesprochen extravertierten Persönlichkeit trat. Viele Male habe ich gesehen, dass gewisse persönliche Einflüsse in kürzester Frist auch bei einem ausgesprochenen Typus die Dauer der Sekundärfunktion wesentlich veränderten, und dass ebenso der frühere Zustand sich wiederherstellt, wenn der fremde Einfluss wegfiel. Mir scheint, man müsse, solchen Erfahrungen entsprechend, das Interesse mehr der Beschaffenheit der Primärfunktion zuwenden. Gross selber hebt die besonders verlängerte Sekundärfunktion nach affektvollen Vorstellungen hervor[260] und bringt damit die Sekundärfunktion in Abhängigkeit von der Primärfunktion. Es ist in der Tat gar kein plausibler Grund vorhanden, warum die Typenlehre auf die Dauer der Sekundärfunktion gegründet werden sollte, man könnte sie vielleicht eben[S. 402]sowohl auf die Intensität der Primärfunktion gründen, denn die Dauer der Sekundärfunktion ist doch offenbar abhängig von der Intensität der Energieaufwendung, der Leistung der Zelle. Man könnte natürlich dagegen einwenden, dass die Dauer der Sekundärfunktion abhänge von der Schnelligkeit der Restitution, und dass es Individuen gäbe mit einer besonders prompten Hirnernährung gegenüber andern Minderbegünstigten. In diesem Falle müsste das Gehirn des Extravertierten eine grössere Restitutionsfähigkeit besitzen, als das des Introvertierten. Zu einer solchen, sehr unwahrscheinlichen Annahme fehlt jeder Beweisgrund. Was uns von den wirklichen Gründen der verlängerten Sekundärfunktion bekannt ist, beschränkt sich auf die Tatsache, dass, abgesehen von pathologischen Zuständen, die besondere Intensität der Primärfunktion eine Verlängerung der Sekundärfunktion logischerweise bewirkt. Dieser Tatsache entsprechend liegt also das eigentliche Problem bei der Primärfunktion und verdichtet sich zu der Frage, woher es komme, dass beim Einen die Primärfunktion in der Regel intensiv, beim Andern aber schwach ist. Wenn wir somit das Problem auf die Primärfunktion abstellen, dann ergibt sich die Notwendigkeit, zu erklären, woher die verschiedene Intensität und der tatsächlich vorkommende rasche Wechsel der Intensität der Primärfunktion stamme. Ich halte dies für ein energetisches Phänomen, das von einer allgemeinen Einstellung abhängt. Die Intensität der Primärfunktion scheint in erster Linie davon abzuhängen, wie gross die Spannung der Bereitschaft ist. Ist ein grosser Betrag an psychischer Spannung vorhanden, so wird auch die Primärfunktion besonders intensiv sein mit entsprechenden Folgen. Wenn mit zunehmender Ermüdung die Spannung abnimmt, dann tritt Ablenkbarkeit, Oberflächlichkeit der Association, schliesslich Ideenflucht ein, also der Zustand, der durch schwache Primärfunktion und[S. 403] kurze Sekundärfunktion gekennzeichnet ist. Die allgemeine psychische Spannung hängt ihrerseits (abgesehen von physiologischen Gründen, wie Ausgeruhtsein etc.) von höchst komplexen Faktoren ab, wie Stimmung, Aufmerksamkeit, Erwartung, etc., d. h. also von Werturteilen, die ihrerseits wieder Resultanten aus allen vorangegangenen psychischen Prozessen sind. Ich verstehe darunter natürlich nicht nur logische Urteile, sondern auch Gefühlsurteile. In unserer technischen Sprache bezeichnen wir die allgemeine Spannung energetisch als Libido, bewusstseinspsychologisch als Wert. Der intensive Vorgang ist „libidobesetzt“ oder eine Manifestation der Libido, m. a. W. ein hochgespannter energetischer Ablauf. Der intensive Vorgang ist ein psychologischer Wert, daher die aus ihm hervorgehenden associativen Verknüpfungen als wertvolle bezeichnet werden, im Gegensatz zu jenen, die bei geringem Kontraktiveffekt zustande kommen, als welche wir wertlos oder oberflächlich bezeichnen. Die gespannte Einstellung ist nun für den Introvertierten durchaus bezeichnend, während die entspannte, leichte Einstellung den Extravertierten verrät[261], von Ausnahmezuständen abgesehen. Die Ausnahmen aber sind häufig und zwar bei einem und demselben Individuum. Man gebe dem Introvertierten das durchaus zusagende harmonische Milieu, so entspannt er sich bis zur totalen Extraversion, und man glaubt einen Extravertierten vor sich zu haben. Man versetze aber den Extravertierten in eine stille Dunkelkammer, wo ihn alle verdrängten Komplexe annagen können, und er wird in eine Spannung versetzt werden, in der er den leisesten Reiz bis zum äussersten realisieren wird. So können die wechselnden Situationen des Lebens ebenfalls wirken und den[S. 404] Typus momentan umgestalten, wodurch aber die Vorzugseinstellung in der Regel nicht dauernd verändert wird, d. h. trotz gelegentlicher Extraversion bleibt der Introvertierte, was er vorher war, und ebenso der Extravertierte.

Ich fasse zusammen: Die Primärfunktion scheint mir wichtiger zu sein, als die Sekundärfunktion. Die Intensität der Primärfunktion ist das ausschlaggebende Moment. Sie hängt ab von der allgemeinen psychischen Spannung, d. h. von dem Betrag angehäufter, disponibler Libido. Das Moment, das diese Anhäufung bedingt, ist ein komplexer Tatbestand, der die Resultante aller vorausgegangenen psychischen Zustände ist. Er lässt sich als Stimmung, Aufmerksamkeit, Affektlage, Erwartung etc. charakterisieren. Die Introversion ist charakterisiert durch allgemeine Spannung, intensive Primärfunktion und entsprechend lange Sekundärfunktion. Die Extraversion ist charakterisiert durch allgemeine Entspannung, schwache Primärfunktion und entsprechend kurze Sekundärfunktion.

Share on Twitter Share on Facebook