VII Das Problem der typischen Einstellungen in der Ästhetik.

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VII.
Das Problem der typischen Einstellungen in der Ästhetik.

Es ist gewissermassen selbstverständlich, dass alle Gebiete des menschlichen Geistes, die sich direkt oder indirekt mit Psychologie befassen, ihre Beiträge zu der uns hier beschäftigenden Frage liefern. Nachdem wir die Stimme des Philosophen, des Dichters, des Arztes und des Menschenkenners vernommen, meldet sich der Ästhetiker zum Worte. Die Ästhetik ist ihrem ganzen Wesen nach angewandte Psychologie und beschäftigt sich nicht nur mit dem ästhetischen Wesen der Dinge, sondern auch — in vielleicht noch höherm Masse — mit der psychologischen Frage der ästhetischen Einstellung. Ein so fundamentales Phänomen wie der Gegensatz von Introversion und Extraversion konnte auch dem Ästhetiker auf die Dauer nicht entgehen, denn die Art und Weise, wie Kunst oder Schönes empfunden oder angeschaut wird, ist bei verschiedenen Menschen dermassen verschieden, dass einem dieser Gegensatz auffallen musste. Abgesehen von vielen, mehr oder weniger einmaligen oder einzigartigen individuellen Eigentümlichkeiten der Einstellung gibt es zwei gegensätzliche Grundformen, welche Worringer als Einfühlung und Abstraktion bezeichnet hat.[262] Seine Definition der Einfühlung lehnt sich hauptsächlich an Lipps an. Bei Lipps ist Einfühlung die „Objektivierung meiner in einem von mir unter[S. 408]schiedenen Gegenstande, gleichgültig ob das Objektivierte den Namen eines Gefühles verdient oder nicht.“ „Indem ich einen Gegenstand appercipiere, erlebe ich, als von ihm herkommend, oder in ihm, als apperzipiertem, liegend, einen Antrieb zu einer bestimmten Weise des innern Verhaltens. Diese erscheint als durch ihn gegeben, mir von ihm mitgeteilt.“[263] Jodl [264] erklärt folgendermassen: „Der sinnliche Schein, welchen der Künstler gibt, ist nicht nur Veranlassung, dass wir uns nach Associationsgesetzen an verwandte Erlebnisse erinnern, sondern indem er dem allgemeinen Gesetze der Externalisation[265] unterliegt, und als ein Ausseruns erscheint, projizieren wir in ihn zugleich die innern Vorgänge hinein, welche er in uns reproduziert, und geben ihm dadurch ästhetische Beseelung — ein Ausdruck, welcher dem Ausdruck „Einfühlung“ vorzuziehen sein dürfte, weil es sich bei dieser Introjektion der eigenen Innenzustände in das Bild nicht nur um Gefühle, sondern um innere Vorgänge jeder Art handelt.“ Von Wundt wird die Einfühlung zu den elementaren Assimilationsprozessen gerechnet.[266] Die Einfühlung ist also eine Art Wahrnehmungsprozess, der dadurch gekennzeichnet ist, dass gefühlsmässig ein wesentlicher psychischer Inhalt ins Objekt verlegt, und das Objekt dadurch introjiziert wird, ein Inhalt, welcher vermöge seiner Zugehörigkeit zum Subjekt, das Objekt dem Subjekt assimiliert und dermassen mit dem Subjekt verknüpft, dass sich das Subjekt sozusagen im Objekt empfindet. Jedoch empfindet sich dabei das Subjekt nicht als in[S. 409] das Objekt projiziert, sondern das eingefühlte Objekt erscheint ihm als beseelt und aus sich selbst aussagend. Diese Eigentümlichkeit rührt daher, dass die Projektion unbewusste Inhalte in das Objekt überträgt, weshalb die Einfühlung in der analytischen Psychologie auch als Übertragung (Freud) bezeichnet wird. Die Einfühlung ist daher eine Extraversion. Worringer definiert das ästhetische Erleben in der Einfühlung folgendermassen: „Ästhetischer Genuss ist objektivierter Selbstgenuss.“[267] Dementsprechend ist nur diejenige Form schön, in die man sich einfühlen kann. Lipps [268] sagt: „Nur soweit diese Einfühlung besteht, sind Formen schön. Ihre Schönheit ist dies mein ideelles freies Sichausleben in ihnen.“ Die Form, in die man sich nicht einzufühlen vermag, ist demgemäss hässlich. Damit ist auch die Beschränkung der Einfühlungstheorie gegeben, denn es gibt Kunstformen, wie Worringer hervorhebt, welche dem Kunstschaffen der einfühlenden Einstellung nicht entsprechen. Es sind dies namentlich die orientalischen und exotischen Kunstformen. Aus langer Tradition hat sich bei uns Okzidentalen das „Naturschöne und das Naturwahre“ als Kriterium des Kunstschönen festgesetzt, denn es ist auch das zum Wesen des griechisch-römischen und der okzidentalischen Kunst überhaupt gehörige Kriterium. (Gewisse Stylformen des Mittelalters machen hievon allerdings eine Ausnahme!) Unsere allgemeine Einstellung zur Kunst ist eben einfühlend seit Alters und als schön können wir darum nur bezeichnen, worein wir uns einfühlen können. Ist nun die Kunstform des Objektes eine lebenswidrige, sozusagen anorganische oder abstrakte, so können wir nicht unser Leben darein einfühlen, was wir aber immer tun, wenn wir einfühlen. („Was ich einfühle,[S. 410] ist ganz allgemein Leben.“ Lipps.) Wir können uns nur in organische, naturwahre, lebenwollende Form einfühlen. Und doch gibt es eine prinzipiell andere Kunstform, einen lebenswidrigen Styl, der das Lebenwollen verneint, sich vom Leben unterscheidet und doch einen Anspruch auf Schönheit erhebt. Wo das Kunstschaffen lebenswidrige, anorganische, abstrakte Formen erzeugt, kann es sich nicht mehr um ein Kunstwollen aus Einfühlungsbedürfnis handeln, sondern vielmehr um ein Bedürfnis, das der Einfühlung direkt entgegengesetzt ist, also um eine Tendenz, das Leben zu unterdrücken. „Als dieser Gegenpol des Einfühlungsbedürfnisses erscheint uns der Abstraktionsdrang.“[269] Zur Psychologie des Abstraktionsdranges sagt Worringer: „Welches sind nun die psychischen Voraussetzungen des Abstraktionsdranges? Wir haben sie im Weltgefühl jener Völker, in ihrem psychischen Verhalten dem Kosmos gegenüber zu suchen. Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertrauensverhältnis zwischen den Menschen und den Aussenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer grossen innern Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transscendentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen. Wenn Tibull sagt: „primum in mundo fecit deus timorem“, so lässt sich dieses selbe Angstgefühl auch als Wurzel des künstlerischen Schaffens annehmen.“

Es ist tatsächlich so, dass die Einfühlung eine Bereitwilligkeit, ein Vertrauen des Subjektes gegenüber dem Objekt voraussetzt. Die Einfühlung ist eine bereitwillig entgegenkommende Bewegung, welche den subjektiven Inhalt in das Objekt überträgt und dadurch eine subjektive Assimilation herstellt, welche ein gutes[S. 411] Einvernehmen zwischen Subjekt und Objekt hervorbringt oder auch gegebenenfalls vortäuscht. Ein passives Objekt lässt sich zwar subjektiv assimilieren, ändert aber dadurch seine wirklichen Qualitäten keineswegs. Sie werden durch die Übertragung nur verschleiert und vielleicht sogar vergewaltigt. Durch die Einfühlung können Ähnlichkeiten und anscheinende Gemeinsamkeiten erzeugt werden, die an sich eigentlich nicht bestehen. Es ist darum leicht verständlich, dass auch die Möglichkeit einer andern Art ästhetischer Beziehung zum Objekt bestehen muss, nämlich eine Einstellung, die dem Objekte nicht entgegenkommt, sondern vielmehr von ihm wegstrebt und sich gegen den Einfluss des Objektes zu sichern sucht, indem sie im Subjekt eine psychische Tätigkeit erzeugt, welche den Objekteinfluss zu paralysieren bestimmt ist. Die Einfühlung setzt das Objekt gewissermassen als leer voraus und kann es deshalb mit eigenem Leben erfüllen. Die Abstraktion dagegen setzt das Objekt gewissermassen als lebend und wirkend voraus und sucht sich deshalb seinem Einfluss zu entziehen. Die abstrahierende Einstellung ist also zentripetal, d. h. introvertierend. Der Worringersche Begriff der Abstraktion entspricht somit der introvertierten Einstellung. Es ist bedeutsam, dass Worringer den Objekteinfluss als Furcht oder Scheu bezeichnet. Der Abstrahierende würde sich also dem Objekt gegenüber einstellen, wie wenn das Objekt eine furchterregende Qualität, d. h. also eine schädigende oder gefährliche Wirkung hätte, gegen die er sich schützen muss. Diese anscheinend aprioristische Qualität des Objektes ist zweifellos auch eine Projektion resp. Übertragung, aber eine Übertragung negativer Art. Wir müssten also annehmen, dass dem Akte der Abstraktion ein unbewusster Projektionsakt vorangeht, in welchem negativ betonte Inhalte dem Objekt übertragen werden. Da die Einfühlung gleich wie die Abstraktion ein Bewusstseinsakt ist, und[S. 412] dem letztern eine unbewusste Projektion vorangeht, so dürfen wir die Frage aufwerfen, ob wohl der Einfühlung auch ein unbewusster Akt vorangehe. Da das Wesen der Einfühlung Projektion subjektiver Inhalte ist, so muss der vorausgehende unbewusste Akt das Gegenteil sein, nämlich ein Unwirksammachen des Objektes. Dadurch wird nämlich das Objekt gewissermassen entleert, der Selbsttätigkeit beraubt, und damit geeignet gemacht, die subjektiven Inhalte des Einfühlenden aufzunehmen. Der Einfühlende sucht sein Leben dem Objekt einzufühlen und im Objekte zu erfahren; es ist daher nötig, dass die Selbständigkeit und die Differenz des Objektes vom Subjekt nicht zu gross sind. Durch den unbewussten Akt, der der Einfühlung vorangeht, wird daher die Eigenmacht des Objektes depotenziert oder übercompensiert, indem nämlich das Subjekt sich unbewusst sofort dem Objekt überordnet. Die Überordnung kann aber nur unbewusst geschehen durch eine Verstärkung der Bedeutung des Subjektes. Dies kann geschehen durch eine unbewusste Phantasie, welche entweder das Objekt sofort entwertet und entkräftet, oder welche das Subjekt erhöht und dem Objekt überordnet. Dadurch erst entsteht jenes Gefälle, dessen die Einfühlung bedarf, um subjektive Inhalte in das Objekt überführen zu können. Der Abstrahierende findet sich in einer schreckhaft belebten Welt, die ihn übermächtig zu erdrücken sucht, darum zieht er sich in sich selbst zurück, um bei sich die rettende Formel zu ersinnen, welche geeignet ist, seinen subjektiven Wert soweit zu erhöhen, dass er dem Objekteinfluss wenigstens gewachsen ist. Der Einfühlende dagegen findet sich in einer Welt, die seines subjektiven Gefühles bedarf, um Leben und Seele zu haben. Er leiht ihr vertrauensvoll Beseelung, während der Abstrahierende sich misstrauisch vor den Dämonen der Objekte zurückzieht und mit abstrakten Schöpfungen sich eine schutzbietende Gegenwelt aufbaut. Wenn wir uns[S. 413] an die Ausführungen der vorangegangenen Kapitel erinnern, so werden wir in der Einfühlung unschwer den Mechanismus der Extraversion, und in der Abstraktion den der Introversion erkennen. „Die grosse innere Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt“ ist nichts anderes als die Reizscheu des Introvertierten, der wegen seiner tiefern Empfindung und Realisierung eine eigentliche Furcht vor zu raschem oder zu starkem Wechsel der Reize hat. Seine Abstraktionen dienen auch ausgesprochenermassen dem Zwecke, durch einen allgemeinen Begriff das Unregelmässige und Wechselnde in die Schranken der Gesetzmässigkeit einzufangen. Es ist selbstverständlich, dass diese im Grunde genommen magische Prozedur sich in vollster Entfaltung beim Primitiven findet, dessen geometrische Zeichen weniger Schönheits- als vielmehr magischen Wert haben.

Worringer [270] sagt mit Recht: „Von dem verworrenen Zusammenhang und dem Wechselspiel der Aussenwelterscheinungen gequält, beherrschte solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Aussenwelt zu versenken, sich in ihnen zu geniessen, sondern darin, das einzelne Ding der Aussenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden.“

„Diese abstrakten gesetzmässigen Formen sind also die einzigen und die höchsten, in denen der Mensch angesichts der ungeheuren Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann.“[271]

Wie Worringer sagt, sind es gerade orientalische Kunstformen und Religionen, welche die abstrahie[S. 414]rende Einstellung zur Welt zeigen. Dem Orientalen muss also im allgemeinen die Welt anders erscheinen, als dem Okzidentalen, der mit Einfühlung sein Objekt beseelt. Dem Orientalen ist das Objekt a priori belebt, es hat die Übermacht über ihn, weshalb er sich davor zurückzieht und seine Eindrücke abstrahiert. Einen trefflichen Einblick in die orientalische Einstellung gewährt Buddha in der „Feuerpredigt“, wo er sagt: „Alles steht in Flammen. Das Auge und alle Sinne stehen in Flammen, durch das Feuer der Liebe, durch das Feuer des Hasses, durch das Feuer der Betörung entzündet; durch Geburt, Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Kummer, Leid und Verzweiflung ist es entzündet. — Die ganze Welt steht in Flammen; die ganze Welt ist in Rauch gehüllt, die ganze Welt wird vom Feuer verzehrt; die ganze Welt erbebt.“ Dieser schreckhafte und leidvolle Anblick der Welt ist es, der den Buddhisten zu seiner abstrahierenden Einstellung veranlasst, wie ja auch Buddha der Legende nach durch einen ähnlichen Eindruck zu seiner Laufbahn gekommen ist. Die dynamische Belebung des Objektes als Grund zur Abstraktion ist in der symbolischen Sprache Buddhas treffend zum Ausdruck gebracht. Diese Belebung beruht nicht auf Einfühlung, sondern entspricht einer aprioristischen unbewussten Projektion, einer Projektion, die eigentlich von vornherein existiert. Der Ausdruck „Projektion“ erscheint sogar als ungeeignet, das Phänomen richtig zu bezeichnen. Projektion ist eigentlich ein Akt, der geschieht, und nicht ein von vornherein vorhandener Zustand, um den es sich aber hier offenbar handelt. M. E. ist für diesen Zustand Lévy-Bruhls Begriff der „participation mystique“ eher kennzeichnend, indem dieser Begriff die ursprüngliche Bezogenheit des Primitiven auf sein Objekt formuliert. Seine Objekte sind nämlich dynamisch belebt, mit Seelenstoff oder -kraft geladen (durchaus nicht immer beseelt, wie die animistische Hypothese annimmt!),[S. 415] und haben darum eine unmittelbare psychische Wirkung auf den Menschen, welche daher kommt, dass der Mensch gleichsam dynamisch identisch ist mit seinem Objekt. In gewissen primitiven Sprachen haben daher die Gebrauchsgegenstände belebtes Geschlecht (das Suffix des Belebtseins). In ähnlicher Weise ist für die abstrahierende Einstellung das Objekt a priori belebt und selbsttätig und bedarf der Einfühlung nicht, im Gegenteil, es wirkt so stark beeinflussend, dass es zur Introversion zwingt. Die starke unbewusste Libidobesetzung des Objektes rührt her von seiner „participation mystique“ mit dem Unbewussten des introvertiert Eingestellten. Das geht aus den Worten Buddhas klar hervor: das Weltfeuer ist identisch mit dem Feuer der Libido des Subjektes, mit seiner brennenden Leidenschaft, die ihm aber als Objekt erscheint, weil er sie nicht zur subjektiv disponibeln Funktion differenziert hat. Die Abstraktion erscheint daher als eine Funktion, welche die ursprüngliche „participation mystique“ bekämpft. Sie trennt vom Objekte, um die Verkettung mit ihm aufzuheben. Sie führt einerseits zur Schaffung von Kunstformen, andererseits zu der Erkenntnis des Objektes. Gleichermassen ist auch die Funktion der Einfühlung ein Organ des Kunstschaffens sowohl als auch der Erkenntnis. Aber sie findet auf einer ganz andern Basis statt als die Abstraktion. Wie diese gegründet ist auf die magische Bedeutung und Gewalt des Objektes, so ist die Einfühlung gegründet auf die magische Bedeutung des Subjektes, das sich mittelst mystischer Identifikation des Objektes bemächtigt. Wie der Primitive einerseits magisch beeinflusst ist durch die Kraft des Fetisch, so ist er andererseits auch der Zauberer und der Akkumulator der magischen Kraft, der dem Fetisch „Ladung“ erteilt. (Vergl. dazu den Churingaritus der Australier.[272])[S. 416] Die unbewusste Depotenzierung des Objektes, die dem Einfühlungsakt vorausgeht, ist ebenfalls ein dauernder Zustand einer geringern Betonung des Objektes. Dafür sind aber beim Einfühlenden die unbewussten Inhalte mit dem Objekt identisch und lassen es unbelebt und unbeseelt erscheinen[273], weshalb die Einfühlung zur Erkenntnis des Wesens des Objektes nötig wird. Man könnte also in diesem Fall von einer beständig vorhandenen unbewussten Abstraktion reden, welche das Objekt als unbeseelt darstellt. Denn die Abstraktion hat immer diese Wirkung: sie tötet die Eigentätigkeit des Objektes, soweit diese magisch auf die Seele des Subjektes bezogen ist. Daher wendet sie der Abstrahierende bewusst an, um sich vor der magischen Beeinflussung durch das Objekt zu schützen. Aus dem aprioristischen Unbelebtsein der Objekte geht auch das Vertrauensverhältnis des Einfühlenden zur Welt hervor: es ist nichts da, was ihn feindlich zu beeinflussen und zu unterdrücken vermöchte, denn er allein erteilt dem Objekt Leben und Seele, obschon seinem Bewusstsein die Sache gerade umgekehrt zu liegen scheint. Im Gegensatz dazu ist dem Abstrahierenden die Welt erfüllt mit mächtig wirkenden und deshalb gefährlichen Objekten, weshalb er Furcht empfindet und sich, seiner Ohnmacht bewusst, von der zu nahen Berührung mit der Welt zurückzieht, um jene Gedanken und Formeln zu erzeugen, mit denen er die Oberhand zu erlangen hofft. Seine Psychologie ist darum die des Unterdrückten, während der Einfühlende mit aprioristischer Sicherheit dem Objekt gegenüber tritt, denn das Objekt ist wegen seiner Unbelebtheit ungefährlich. Natürlich ist diese Charakterisierung schematisch und will durchaus nicht das ganze Wesen der extravertierten oder introvertierten Einstellung charakterisieren, sondern bloss[S. 417] gewisse Nuancen hervorheben, die aber immerhin eine nicht unerhebliche Bedeutung haben.

Wie der Einfühlende im Objekt sich selbst geniesst, ohne dessen bewusst zu sein, so schaut der Abstrahierende, indem er über den ihm vom Objekt zukommenden Eindruck nachdenkt, sich selbst, ohne es zu wissen. Denn was der Einfühlende ins Objekt überträgt, ist er selbst, d. h. sein eigener unbewusster Inhalt, und was der Abstrahierende über seinen Eindruck vom Objekt denkt, das denkt er über seine eigenen Gefühle, die ihm am Objekt erschienen sind. Es ist daher klar, dass zu einer wirklichen Erfassung des Objektes beide Funktionen gehören, wohl auch zu einem wirklichen Kunstschaffen. Beide Funktionen sind auch immer im Individuum vorhanden, nur sind sie meistens ungleichmässig differenziert. Worringer sieht als gemeinsame Wurzel dieser beiden Grundformen des ästhetischen Erlebens den Drang nach Selbstentäusserung.[274] Bei der Abstraktion strebt der Mensch darnach „in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz.“ Gegenüber der verwirrenden und eindrucksvollen Fülle der belebten Objekte schafft sich der Mensch eine Abstraktion, d. h. ein abstraktes allgemeines Bild, welches die Eindrücke in gesetzmässige Form bannt. Dieses Bild hat die magische Bedeutung eines Schutzes gegen den chaotischen Wechsel des Erlebens. Der Mensch versenkt sich in dieses Bild und verliert sich so daran, dass er seine abstrakte Wahrheit schliesslich über die Realität des Lebens stellt und damit das Leben, das den Genuss der abstrakten Schönheit stören könnte, überhaupt unterdrückt. Er erhebt sich damit selber zu einer Abstraktion, er identifiziert sich mit der ewigen Gültigkeit seines Bildes und erstarrt[S. 418] darin, indem es ihm gewissermassen zu einer erlösenden Formel wird. Auf diese Weise entäussert er sich seiner selbst und überträgt sein Leben seiner Abstraktion, in der es gewissermassen kristallisiert. Indem der Einfühlende aber seine Tätigkeit, sein Leben in das Objekt einfühlt, so begibt er sich damit ebenfalls ins Objekt, insofern der eingefühlte Inhalt einen wesentlichen Teil des Subjektes darstellt. Er wird zum Objekt, er identifiziert sich damit und kommt auf diese Weise von sich selbst los. Indem er sich objektiviert, entsubjektiviert er sich. Worringer[275] sagt: „Indem wir aber diesen Tätigkeitswillen in ein anderes Objekt einfühlen, sind wir in dem andern Objekt. Wir sind von unserm individuellen Sein erlöst, solange wir mit unserm Erlebensdrang in ein äusseres Objekt, in einer äussern Form aufgehen. Wir fühlen gleichsam unsere Individualität in feste Grenzen einfliessen gegenüber der grenzenlosen Differenziertheit des individuellen Bewusstseins. In dieser Selbstobjektivierung liegt eine Selbstentäusserung. Diese Bejahung unseres individuellen Tätigkeitsbedürfnisses stellt gleichzeitig eine Beschränkung seiner unbegrenzbaren Möglichkeiten, eine Verneinung seiner unvereinbaren Differenziertheiten dar. Wir ruhen mit unserm innern Tätigkeitsdrange in den Grenzen dieser Objektivierung aus.“ Wie für den Abstrahierenden das abstrakte Bild eine Fassung, eine Schutzmauer gegenüber den auflösenden Wirkungen der unbewusst belebten Objekte[276] darstellt, so ist für den Einfühlenden die Übertragung auf das Objekt ein Schutz gegenüber der Auflösung durch innere subjektive Faktoren, welche in grenzenlosen Phantasiemöglichkeiten und entsprechenden Tätigkeitsantrieben bestehen. Wie nach Adler der introvertierte Neurotische sich an eine „fiktive Leitlinie“ klammert, so klam[S. 419]mert sich der extravertierte Neurotische an sein Übertragungsobjekt. Der Introvertierte hat seine „Leitlinie“ abstrahiert aus seinen guten und schlechten Erfahrungen am Objekt, und vertraut sich der Formel an als einem Schutzmittel gegenüber den grenzenlosen Möglichkeiten des Lebens.

Einfühlung und Abstraktion, Extraversion und Introversion sind Anpassungs- und Schutzmechanismen. Insofern sie Anpassung ermöglichen, schützen sie den Menschen vor äussern Gefahren. Insofern es gerichtete Funktionen [277] sind, befreien sie den Menschen vom zufällig Triebhaften, ja, sie schützen ihn sogar davor, indem sie ihm eine Selbstentäusserung ermöglichen. Wie die alltägliche psychologische Erfahrung zeigt, gibt es sehr viele Menschen, die sich ganz mit ihrer gerichteten Funktion (der „wertvollen“ Funktion) identifizieren, das sind eben u. a. die hier besprochenen Typen. Die Identifikation mit der gerichteten Funktion hat den (unbestreitbaren Vorteil, dass man sich damit den collektiven Erwartungen und Forderungen am besten anpasst und dabei erst noch seinen minderwertigen, nicht differenzierten und nicht gerichteten Funktionen aus dem Wege gehen kann durch Selbstentäusserung. Die „Selbstlosigkeit“ ist zudem vom Standpunkt der sozialen Moralität eine besondere Tugend. Auf der andern Seite jedoch liegt der grosse Nachteil der Identifikation mit der gerichteten Funktion, nämlich die Degeneration des Individuums. Der Mensch ist zweifellos einer weitgehenden Mechanisierung fähig, aber doch nicht in dem Masse, dass er sich selbst gänzlich, ohne Schaden zu leiden, aufgeben könnte. Je mehr er sich nämlich mit der einen Funktion identifiziert, desto mehr besetzt er sie mit Libido und desto mehr entzieht er die Libido den andern Funktionen. Sie ertragen zwar während[S. 420] längerer Zeit auch einen weitgehenden Libidoentzug; einmal aber reagieren sie doch. Indem ihnen nämlich die Libido entzogen wird, geraten sie allmählich unter die Bewusstseinsschwelle, ihr associativer Zusammenhang mit dem Bewusstsein lockert sich und dadurch versinken sie allmählich ins Unbewusste. Dies ist gleichbedeutend mit einer Regressiventwicklung, nämlich einem Zurückgehen der relativ entwickelten Funktion auf infantile und zuletzt auf archaïsche Stufe. Da der Mensch aber nur relativ wenige Jahrtausende in kultiviertem Zustand zugebracht hat, dagegen viele Hunderttausende von Jahren in unkultiviertem Zustand, so sind demgemäss in ihm die archaïschen Funktionsweisen noch ausserordentlich lebensfähig und leicht wiederzubeleben. Wenn nun gewisse Funktionen durch Libidoentzug desintegriert werden, so treten ihre archaïschen Grundlagen im Unbewussten in Funktion. Dieser Zustand bedeutet eine Dissociation der Persönlichkeit, indem die archaïschen Funktionen keine direkten Beziehungen zum Bewusstsein haben, also keine gangbaren Brücken existieren zwischen Bewusst und Unbewusst. Je weiter daher die Selbstentäusserung geht, desto weiter schreitet auch die Archaïsierung der unterbetonten Funktionen. Damit wächst auch die Bedeutung des Unbewussten. Dann fängt das Unbewusste an, die gerichtete Funktion symptomatisch zu stören, und damit beginnt jener charakteristische Circulus vitiosus, dem wir bei so manchen Neurosen begegnen: der Mensch versucht die unbewusst störenden Einflüsse durch besondere Leistungen der gerichteten Funktion zu compensieren, welcher Wettlauf gegebenenfalls bis zum nervösen Zusammenbruch fortgesetzt wird. Die Möglichkeit der Selbstentäusserung durch Identifikation mit der gerichteten Funktion beruht nicht etwa nur auf der einseitigen Beschränkung auf die eine Funktion, sondern auch darauf, dass das Wesen der gerichteten Funktion ein Prinzip ist, das die Selbstentäusserung[S. 421] verlangt. So verlangt jede gerichtete Funktion die strenge Ausschliessung alles dessen, was nicht dazu passt, das Denken schliesst alles störende Gefühl aus, ebenso schliesst das Gefühl alle störenden Gedanken aus. Ohne Verdrängung alles andern kann die gerichtete Funktion gar nicht zu Stande kommen. Dem gegenüber verlangt aber die Selbstregulierung des lebendigen Organismus natürlicherweise die Harmonisierung menschlichen Wesens; daher drängt sich die Berücksichtigung minderbegünstigter Funktionen als eine Lebensnotwendigkeit und als eine unumgängliche Aufgabe der Erziehung des Menschengeschlechtes auf.

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