Auch in der neuern pragmatischen Philosophie ist die Existenz zweier Typen entdeckt worden, und zwar von William James.[278] Er sagt: „Die Geschichte der Philosophie ist in hohem Masse ein Zusammenstoss von gewissen menschlichen Temperamenten (charakterologischen Dispositionen)“.[279] „Von was für einem Temperament ein berufsmässiger Philosoph auch immer sein mag, er versucht jedenfalls, wenn er philosophiert, die Tatsache seines Temperamentes zu denken. Jedoch bildet sein Temperament ein stärkeres Vorurteil, als irgend eine seiner mehr objektiven Prämissen. Es gibt seiner Beweisführung in dieser oder jener Richtung Gewicht, indem es je nachdem zu einer sentimentalern oder kühlern Weltanschauung führt, ebenso gut wie eine Tatsache oder ein Prinzip. Er vertraut seinem Temperament. Er wünscht sich eine Welt, die zu seinem Temperament passt, und er glaubt an jede Darstellung der Welt, die zu ihm passt. Menschen eines andern Temperamentes empfindet er als nicht richtig abgestimmt auf den wirklichen Charakter der Welt, und im Grunde genommen betrachtet er sie als inkompetent und als keine eigentlichen Philosophen, wenn sie ihn an dialektischer Geschicklichkeit auch weit übertreffen mögen. Aber in der öffentlichen Diskussion[S. 426] kann er, bloss aus Gründen seines Temperamentes, keinen Anspruch erheben auf besondere Auszeichnung oder Autorität. Daher stammt ein gewisser Mangel an Ernsthaftigkeit in der philosophischen Diskussion: die bedeutendste aller unserer Prämissen wird nie erwähnt.“[280]
James geht darauf über zur Charakterisierung der zwei Temperamente: So wie es im Gebiete der Sitten und Lebensgewohnheiten konventionelle und ungezwungen sich gebende Menschen, in politischer Hinsicht Autoritätgläubige und Anarchisten, in der schönen Literatur Akademiker und Realisten, in der Kunst Klassiker und Romantiker sich unterscheiden lassen, so fänden sich auch, wie James meint, in der Philosophie zwei Typen, nämlich der „Rationalist“ und der „Empiriker“. Der Rationalist ist der „Anbeter abstrakter und ewiger Prinzipien“. Der Empiriker ist der „Liebhaber der Tatsachen in ihrer ganzen ungehobelten Mannigfaltigkeit“.[281] Obschon niemand weder der Tatsachen noch der Prinzipien entraten kann, so kommen doch ganz verschiedene Gesichtspunkte heraus, je nach dem das Gewicht auf die eine oder andere Seite verschoben wird. „Rationalismus“ stellt James als Synonym zu „Intellektualismus“ und „Empirismus“ zu „Sensualismus“. Obwohl diese Angleichung m. E. nicht stichhaltig ist, so wollen wir doch zunächst, eine Kritik vorbehaltend, dem James’schen Gedankengang weiter folgen. Nach seiner Ansicht verbindet sich mit dem Intellektualismus eine idealistische und optimistische Tendenz, während der Empirismus zum Materialismus und zu einem bloss bedingten und unsichern Optimismus neigt. Der Rationalismus (Intellektualismus) ist immer monistisch. Er beginnt mit dem Ganzen und Universellen und vereinigt die Dinge. Der Empirismus dagegen beginnt mit dem Teil und macht das[S. 427] Ganze zu einer Sammlung. Er liesse sich als pluralistisch bezeichnen. Der Rationalist ist ein Gefühlsmensch, der Empiriker ein hartköpfiges Wesen. Ersterer neigt natürlicherweise zur Überzeugung der Willensfreiheit, letzterer zum Fatalismus. Der Rationalist ist leicht dogmatisch in seinen Konstatierungen, der Empiriker dagegen skeptischer.[282] James bezeichnet den Rationalisten als tender-minded (mit zartem oder delikatem Geiste) und den Empiriker als tough-minded (mit zähem Geiste). Damit versucht er offenbar die eigentümliche Beschaffenheit der beiden Mentalitäten zu bezeichnen. Wir werden im weitern Verlauf Gelegenheit nehmen, diese Charakterisierung noch näher zu untersuchen. Interessant ist, was James sagt über die Vorurteile, welche die beiden Typen gegeneinander hegen. „Sie haben eine geringe Meinung von einander.[283] Ihr typischer Gegensatz hat zu allen Zeiten in der Philosophie eine Rolle gespielt, so auch heute. Der Tough-minded beurteilt den Tender-minded als sentimental, der Tender-minded dagegen nennt den andern unfein, stumpf oder brutal. Der eine hält den andern für inferior.“
James stellt die Qualitäten der beiden Typen in folgende zwei Kolonnen nebeneinander:
Tender-minded:
Tough-minded:
Rationalistisch (folgt Prinzipien)
Empiristisch (folgt Tatsachen)
intellektualistisch
sensualistisch
idealistisch
materialistisch
optimistisch
pessimistisch
religiös
irreligiös
indeterministisch
deterministisch, fatalistisch
monistisch
pluralistisch
dogmatisch
skeptisch.
[S. 428]
Diese Zusammenstellung berührt verschiedene Probleme, denen wir schon im Kapitel über Nominalismus und Realismus begegnet sind. Der Tender-minded hat gewisse Züge mit dem Realisten, und der Tough-minded mit dem Nominalisten gemeinsam. Wie ich oben erörtert habe, entspricht der Realismus dem Introversionsprinzip und der Nominalismus dem Extraversionsprinzip. Unzweifelhaft gehört auch der Universalienstreit an erster Stelle unter jene historischen Temperamentgegensätze in der Philosophie, auf welche James anspielt. Diese Beziehungen legen es nahe, beim Tender-minded an den Introvertierten und beim Tough-minded an den Extravertierten zu denken. Es bleibt aber noch näher zu untersuchen, ob diese Beziehung zu Recht besteht oder nicht.
Es ist meiner — allerdings beschränkten — Kenntnis der James’sehen Schriften nicht gelungen, nähere Definitionen oder Beschreibungen der beiden Typen aufzufinden, obschon er mehrfach von diesen beiden Arten des Denkens spricht, und sie etwa auch als „thin“ und „thick“ bezeichnet. Flournoy [284] erläutert „thin“ als „mince, ténu, maigre, chétif“ und „thick“ als „épais, solide, massif, cossu“. James gebraucht für den Tender-minded auch einmal den Ausdruck „soft-headed“, also wörtlich „mit weichem Kopfe“. „Soft“ ist wie „tender“ weich, zart, mild, sanft, leise, also etwas schwach, gedämpft, von geringer Kraft im Gegensatz zu „thick“ und „tough“, welche widerstandsfähige, solide, schwer zu verändernde Qualitäten sind, die an die Natur des Stoffes erinnern. Flournoy erläutert dementsprechend die beiden Arten des Denkens folgendermassen: „C’est l’opposition entre la façon de penser abstractionniste — c’est-à-dire purement logique et dialectique, si chère aux philosophes, mais qui n’inspire à James aucune confiance.[S. 429] et qui lui paraît fragile, creuse, „chétive“, parceque trop sevrée du contact des choses particulières — et la façon de penser concrète, laquelle se nourrit de faits d’expérience et ne quitte jamais la région terre à terre, mais solide, des écailles de tortues ou autres données positives“.[285] Man darf aus diesem Kommentar allerdings nicht den Schluss ziehen, dass James nun einseitig dem concreten Denken beifalle. Er würdigt beide Standpunkte: „Facts are good, of course — give us lots of facts. Principles are good — give us plenty of principles.“ Eine Tatsache ist bekanntlich nie nur so, wie sie an sich ist, sondern auch so, wie wir sie anschauen. Wenn nun James das concrete Denken als „thick“ oder „tough“ bezeichnet, so beweist er damit, dass diese Art Denken für ihn etwas Substantielles, Widerstandsfähiges hat, während das abstrakte Denken ihm als etwas Schwaches, Dünnes und Blasses vorkommt, vielleicht sogar, wenn wir mit Flournoy interpretieren, als etwas Kränkliches und Hinfälliges. Eine solche Auffassung ist natürlich nur möglich, wenn man die Substantialität a priori mit der concreten Tatsache verknüpft hat, was eben, wie gesagt, eine Angelegenheit des Temperamentes ist. Wenn der „empirische“ Denker seinem concreten Denken eine widerstandsfähige Substantialität zuschreibt, so ist das vom abstrakten Standpunkt aus gesehen, eine Selbsttäuschung, denn die Substantialität, die „Härte“ kommt der äussern Tatsache zu, nicht aber dem „empirischen“ Denken. Letzteres erweist sich sogar als besonders schwach und hinfällig, indem es sich gegenüber der äussern Tatsache so wenig zu behaupten weiss, dass es immer von den sinnlich gegebenen Tatsachen abhängt, ihnen nachläuft und sich infolgedessen kaum über eine bloss klassifizierende oder darstellende Tätigkeit erheben kann. Vom Standpunkt des Denkens aus ist also das concrete Denken etwas sehr Schwächliches und Unselb[S. 430]ständiges, weil es nicht in sich selber seine Festigkeit hat, sondern in den äussern Tatsachen, welche dem Denken an bedingendem Werte übergeordnet sind. Dieses Denken ist also charakterisiert durch eine Abfolge sinnlich gebundener Vorstellungen, die weniger durch eine innere Denktätigkeit, als vielmehr durch den Wechsel der Sinneswahrnehmungen in Bewegung gesetzt werden. Eine durch sinnliche Wahrnehmungen bedingte Abfolge concreter Vorstellungen ist also nicht gerade das, was der Abstrakte als Denken bezeichnen würde, sondern bestenfalls eine passive Apperception. Das Temperament, welches das concrete Denken vorzieht und ihm Substantialität zubilligt, ist daher gekennzeichnet durch ein Vorwiegen der sinnlich bedingten Vorstellung gegenüber der aktiven Apperceptionstätigkeit, die einer subjektiven Willenshandlung entspringt und sinnlich vermittelte Vorstellungen gemäss den Absichten einer Idee anordnen will, d. h. kürzer gesagt: diesem Temperament liegt es mehr am Objekt; das Objekt wird eingefühlt, es benimmt sich quasi selbständig in der Vorstellungswelt des Subjektes und zieht die Auffassung nach sich. Dieses Temperament ist also extravertierend. Das Denken des Extravertierten ist concretistisch. Seine Festigkeit liegt nicht in ihm, sondern gewissermassen ausser ihm in den eingefühlten Tatsachen, von woher auch die James’sche Qualifizierung als „tough“ stammt. Wer immer sich auf die Seite des concreten Denkens stellt, d. h. auf die Seite von Tatsachenvorstellungen, dem kommt die Abstraktion als etwas Schwaches und Hinfälliges vor, denn er misst sie an der Festigkeit der concreten, sinnlich gegebenen Tatsache. Wer aber auf der Seite der Abstraktion steht, dem ist nicht die sinnlich gebundene Vorstellung das Ausschlaggebende, sondern die abstrakte Idee. Die Idee ist, nach der landläufigen Auffassung nichts anderes als eine Abstraktion einer Summe von Erfahrungen. Man stellt sich dabei gerne[S. 431] den menschlichen Geist als eine anfängliche tabula rasa vor, die sich erst deckt durch die Wahrnehmung und Erfahrung von Welt und Leben. Von diesem Standpunkt aus, der der Standpunkt unserer empirischen Wissenschaftlichkeit im weitesten Sinne ist, kann die Idee auch gar nichts anderes sein, als eine epiphänomenale, aposteriorische Abstraktion aus Erfahrungen, daher schwächer und blässer als diese. Wir wissen aber, dass der Geist nicht tabula rasa sein kann, denn die Kritik unserer Denkprinzipien zeigt uns, dass gewisse Kategorien unseres Denkens a priori, d. h. vor aller Erfahrung gegeben sind und zugleich mit dem ersten Denkakt auftreten, ja sogar dessen präformierte Bedingungen sind. Was aber Kant für das logische Denken nachgewiesen hat, gilt für die Psyche in noch viel weiterm Umfang. Die Psyche ist so wenig wie der Geist (das Gebiet des Denkens) tabula rasa zu Beginn. Gewiss fehlen die concreten Inhalte, aber die Inhaltsmöglichkeiten sind durch die vererbte und präformierte funktionelle Disposition a priori gegeben. Sie ist nichts anderes als das Ergebnis der Funktionsweisen der Gehirne der Ahnenreihe, ein Niederschlag der Anpassungsversuche und Erfahrungen der phylogenetischen Reihe. Das neu entstandene Gehirn oder Funktionssystem ist also ein altes, für ganz bestimmte Zwecke hergerichtetes Instrument, das nicht nur passiv appercipiert, sondern auch aus sich heraus aktiv die Erfahrungen ordnet und zu gewissen Schlüssen oder Urteilen zwingt. Diese Anordnungen geschehen nun nicht etwa zufällig oder willkürlich, sondern sie folgen streng präformierten Bedingungen, die nicht als Anschauungsinhalte durch Erfahrung vermittelt werden, sondern Bedingungen der Anschauung a priori sind. Es sind Ideen ante rem, Formbedingungen, a priori gezogene Grundlinien, die dem Stoffe der Erfahrung eine bestimmte Gestaltung anweisen, sodass man sie, wie sie auch Platon aufgefasst hat, als Bilder denken[S. 432] kann, gewissermassen als Schemata oder anererbte Funktionsmöglichkeiten, welche aber andere Möglichkeiten ausschliessen oder zum mindesten in hohem Masse beschränken. Daher kommt es, dass selbst die freieste Geistesbetätigung, die Phantasie, nie ins Grenzenlose schweifen kann (obschon es der Dichter so empfinden mag), sondern gebunden bleibt an präformierte Möglichkeiten, an Urbilder oder urtümliche Bilder. Die Märchenerzählungen der entlegensten Völker zeigen in der Ähnlichkeit ihrer Motive diese Gebundenheit an gewisse Urbilder. Selbst die Bilder, die wissenschaftlichen Theorien zu Grunde liegen, zeigen diese Beschränkung, z. B. der Äther, die Energie, ihre Verwandlungen und ihre Konstanz, die Atomtheorie, die Affinität, usw.
Wie nun im Geiste des concret Denkenden die sinnlich gegebene Vorstellung vorwiegt und Richtung gibt, so überwiegt im Geiste des abstrakt Denkenden das inhaltlose und daher nicht vorstellbare Urbild. Es bleibt relativ untätig, solange das Objekt eingefühlt und dadurch zum bedingenden Faktor des Denkens erhoben wird. Wird aber das Objekt nicht eingefühlt und damit seiner Präponderanz im geistigen Prozess beraubt, so wendet sich die ihm versagte Energie ins Subjekt zurück. Das Subjekt wird unbewusst eingefühlt und dadurch werden die in ihm schlummernden präformierten Bilder geweckt, infolgedessen treten sie als wirkende Faktoren im Geistesprozesse auf, allerdings in unvorstellbarer Form, gewissermassen als unsichtbare Regisseure, hinter den Kulissen. Da sie bloss aktivierte Funktionsmöglichkeiten sind, sind sie ohne Inhalt, darum unvorstellbar, und deshalb streben sie nach Erfüllung. Sie ziehen den Erfahrungsstoff in ihre Form und stellen nicht die Tatsachen dar, sondern sich selber in den Tatsachen. Sie bekleiden sich gewissermassen mit Tatsachen. Sie sind daher nicht ein bekannter Ausgangspunkt, wie die empirische Tatsache[S. 433] im concreten Denken, sondern sie werden erst erfahrbar durch die unbewusste Gestaltung des Erfahrungsstoffes. Auch der Empiriker kann seinen Erfahrungsstoff gliedern und formen, jedoch formt er ihn möglichst nach einem concreten Begriffe, den er auf Grund vorhergegangener Erfahrungen gebildet hat.
Der Abstrahierende dagegen formt nach einer unbewussten Vorlage und erfährt erst a posteriori aus der von ihm gestalteten Erscheinung die Idee, nach der er geformt hat. Der Empiriker, gemäss seiner Psychologie, ist immer geneigt, anzunehmen, der Abstrahierende gestalte den Erfahrungsstoff willkürlich nach gewissen blassen, schwachen und unzulänglichen Voraussetzungen, denn er bemisst den geistigen Prozess des Abstrahierenden nach seinem eigenen modus procedendi. Die eigentliche Prämisse, die Idee oder das Urbild, ist aber dem Abstrahierenden genau so unbekannt, wie dem Empiriker die Theorie, die er dann nachträglich nach so und so viel Experimenten aus der Erfahrung heraus bilden wird. Wie ich in einem frühern Kapitel erläutert habe, sieht der eine das individuelle Objekt und interessiert sich für sein individuelles Verhalten, der andere aber sieht in erster Linie die Ähnlichkeitsbeziehungen der Objekte unter sich und setzt sich über die Individualität der Tatsache hinweg, weil ihm das Verbindende, das Einheitliche in der Zersplitterung der Mannigfaltigkeit angenehmer und beruhigender ist. Für den Erstern aber ist die Ähnlichkeitsbeziehung geradezu etwas Lästiges und Störendes, das ihn unter Umständen sogar hindert, sich der Erkenntnis der Eigenartigkeit des Objektes zu bemächtigen. Je weiter er sich in das einzelne Objekt einfühlt, desto mehr erkennt er seine Eigenart und desto mehr verschwindet ihm die Wirklichkeit einer Ähnlichkeitsbeziehung mit einem andern Objekt. Wenn er sich aber auch in das andere Objekt einzufühlen weiss, so ist er im Stande, die Ähnlichkeit der beiden Objekte in viel[S. 434] höherm Masse zu empfinden und zu erfassen, als der, der sie bloss von aussen zu allererst ersah. Der concret Denkende kann wegen der Tatsache, dass er zuerst das eine Objekt, dann ein anderes einfühlt, nur sehr langsam zur Erkenntnis der verbindenden Ähnlichkeiten kommen, weshalb sein Denken als zähflüssig erscheint. Leichtflüssig ist aber seine Einfühlung. Der Abstrahierende aber erfasst rasch die Ähnlichkeit, ersetzt die individuellen Objekte durch generelle Merkmale und formt diesen Erfahrungsstoff durch seine eigene innere Denktätigkeit, die aber genau so stark beeinflusst ist durch das „schattenhafte“ Urbild, wie das concrete Denken durch das Objekt. Je grösser der Einfluss des Objektes auf das Denken ist, desto mehr prägt es seine Züge dem Denkbild auf. Je weniger aber das Objekt im Geiste wirkt, desto stärker drückt die apriorische Idee der Erfahrung ihr Siegel auf. Durch die übermässige Bedeutung des empirischen Objektes entsteht dann in der Wissenschaft eine gewisse Art von Spezialistentheorie, welche z. B. in der Psychiatrie als jene bekannte „Hirnmythologie“ auftritt, wo ein grösseres Erfahrungsgebiet aus Prinzipien zu erklären versucht wird, die trefflich sind für die Erklärung von gewissen engbegrenzten Tatsachenkomplexen, aber gänzlich unzulänglich für jede andere Verwendung. Umgekehrt aber erzeugt das abstrakte Denken, das sich der Einzeltatsache nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit einer andern annimmt, eine universale Hypothese, die zwar die Idee mehr oder weniger rein zur Darstellung bringt, aber mit dem Wesen der concreten Tatsachen ebenso wenig oder ebensoviel zu tun hat, wie ein Mythus. In ihrer extremen Form erzeugen also beide Denkformen Mythologie, die eine drückt sich concret aus mit Zellen, Atomen, Schwingungen und dergleichen mehr, die andere aber mit „ewigen“ Ideen. Der extreme Empirismus hat wenigstens den Vorteil, Tatsachen möglichst rein zur Darstellung zu bringen. Der extreme Ideolo[S. 435]gismus aber hat den Vorteil, die apriorischen Formen, die Ideen oder Urbilder in möglichster Reinheit widerzuspiegeln. Die theoretischen Resultate des Erstern erschöpfen sich mit ihrem Erfahrungsstoff, die praktischen Resultate des Letztern beschränken sich auf die Darstellung der psychologischen Idee. Da unser gegenwärtiger wissenschaftlicher Geist einseitig concret-empirisch eingestellt ist, so weiss er die Tat dessen, der die Idee darstellt, nicht zu schätzen, denn Tatsachen stehen ihm höher als die Kenntnis der Urformen, in denen der menschliche Verstand sie begreift. Die Schwenkung nach der Seite des Concretismus ist, wie bekannt, eine relativ junge Erwerbung, die aus der Aufklärungsepoche stammt. Die Erfolge dieser Entwicklung sind staunenswert, aber sie haben zu einer Häufung des empirischen Stoffes geführt, deren Unabsehbarkeit allmählich mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Sie führt notgedrungen zu einem wissenschaftlichen Separatismus und damit zur Spezialistenmythologie, welche den Tod der Universalität bedeutet. Das Überwiegen des Empirismus aber ist nicht nur eine Erdrückung des aktiven Denkens, sondern auch eine Gefahr für die Theoriebildung innerhalb einer Disziplin. Die Abwesenheit allgemeiner Gesichtspunkte aber begünstigt die mythische Theoriebildung, ebenso sehr wie es die Abwesenheit empirischer Gesichtspunkte tut.
Ich bin darum der Ansicht, dass die James’sche Terminologie von Tender-minded und Tough-minded nur einseitig anschaulich ist und, im Grunde genommen, ein gewisses Präjudicium enthält. Es dürfte aber aus dieser Erörterung klar geworden sein, dass die James’sche Typisierung dieselben Typen behandelt, die ich als Introvertiert und Extravertiert bezeichnet habe.
[S. 436]