2. Die charakteristischen Gegensatzpaare der James’schen Typen.

a) Das erste Gegensatzpaar, welches James als unterscheidendes Merkmal der Typen anführt, ist der Rationalismus versus Empirismus.

Ich habe, wie der Leser bemerkt haben wird, mich bereits im Vorigen zu diesem Gegensatz ausgesprochen und dabei den Gegensatz als Ideologismus versus Empirismus gefasst. Ich habe den Ausdruck „Rationalismus“ vermieden, weil das concrete, empirische Denken ebenso „rational“ ist, wie das aktive, ideologische Denken. Die ratio regiert beide Formen. Und zudem gibt es nicht nur einen logischen Rationalismus, sondern auch einen Gefühlsrationalismus, indem nämlich der Rationalismus überhaupt eine allgemeine psychologische Einstellung auf Vernünftigkeit des Denkens und Fühlens ist. Ich befinde mich mit dieser Auffassung des Begriffes „Rationalismus“ in einem bewussten Gegensatz zu der historisch-philosophischen Auffassung, welche „rationalistisch“ im Sinne von „ideologisch“ gebraucht, resp. Rationalismus als Primat der Idee auffasst. Bei den neuern Philosophen hat die ratio allerdings den rein ideellen Charakter abgestreift und wird gerne als ein Vermögen, Trieb, Wollen sogar als ein Gefühl, oder als eine Methode bezeichnet. Jedenfalls ist sie — psychologisch betrachtet — eine gewisse Einstellung, die, wie Lipps sagt, vom „Objektivitätsgefühl“ geleitet ist. Bei Baldwin [286] ist sie das „constitutive, regulative Prinzip des Geistes“. Herbart erklärt die Vernunft als „Vermögen der Überlegung“.[287] Schopenhauer sagt von der Vernunft, dass sie nur eine Funktion habe, nämlich „die Bildung des Begriffes; und aus dieser einzigen erklären sich sehr leicht und ganz und gar von selbst alle jene[S. 437] oben angeführten Erscheinungen, die das Leben des Menschen von dem des Tieres unterscheiden, und auf die Anwendung oder Nichtanwendung jener Funktion deutet schlechthin alles, was man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig genannt hat“.[288] Die „oben angeführten Erscheinungen“ beziehen sich auf gewisse Äusserungen der Vernunft, die Schopenhauer beispielsweise zusammengestellt hat, nämlich „die Beherrschung der Affekte und Leidenschaften, die Fähigkeit, Schlüsse zu machen und allgemeine Prinzipien“, „das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen“, „die Zivilisation, der Staat; ferner die Wissenschaft, das Aufbewahren früherer Erfahrung“, etc. Wenn für Schopenhauer die Vernunft die Funktion der Begriffsbildung hat, so hat sie demnach den Charakter derjenigen Einstellung des psychischen Apparates, welche geeignet ist, durch Denktätigkeit Begriffe zu bilden. Ganz in diesem Sinne einer Einstellung fasst auch Jerusalem [289] die Vernunft auf, nämlich als eine Willensdisposition, die uns befähigt, bei unsern Entscheidungen vom Verstande Gebrauch zu machen und die Leidenschaften zu beherrschen.

Vernunft ist also die Fähigkeit, vernünftig zu sein, eine bestimmte Einstellung, welche ein Denken, Fühlen und Handeln gemäss objektiven Werten ermöglicht. Diese „objektiven“ Werte ergeben sich vom Standpunkt des Empirismus aus durch die Erfahrung, von dem des Ideologismus aus aber durch einen aktiven Bewertungsakt der Vernunft, welche dann in Kant’schem Sinne ein „Vermögen“ wäre, „nach Grundsätzen zu urteilen und zu handeln“. Denn die Vernunft ist bei Kant die Quelle der Idee, welche ein „Vernunftbegriff“ ist, „dessen Gegenstand gar nicht in der Erfahrung kann angetroffen werden“, und welche das[S. 438] „Urbild des Gebrauchs des Verstandes — als regulatives Prinzip zum Behuf des durchgängigen Zusammenhanges unseres empirischen Verstandesgebrauches“ enthält.[290] Diese Anschauung ist echt introvertiert. Ihr gegenüber steht die empiristische Anschauung Wundts, wonach die Vernunft zu den komplexen intellektuellen Funktionen gehört, welche mit ihren „Vorstufen, die ihnen die unerlässlichen sinnlichen Substrate liefern, in einen allgemeinen Ausdruck“ zusammengefasst werden. „Dass nun dieser Begriff des „Intellektuellen“ ein Überlebnis der Vermögenspsychologie ist, das womöglich noch mehr als die alten Begriffe Gedächtnis, Verstand, Phantasie usw. unter der Vermengung mit logischen Gesichtspunkten leidet, die ausserhalb der Psychologie liegen, und dass er umso unbestimmter und zugleich willkürlicher wird, je mannigfaltigere psychische Inhalte er umfasst, ist einleuchtend.“ „Gibt es für den Standpunkt der wissenschaftlichen Psychologie kein Gedächtnis, keinen Verstand und keine Phantasie, sondern eben nur gewisse elementare psychische Vorgänge und ihre Zusammenhänge, die man in ziemlich willkürlicher Unterscheidung unter jenen Namen zusammenfasst, so gibt es natürlich noch weniger eine „Intelligenz“ oder „intellektuelle Funktionen“ als einen einheitlichen, irgend einem fest abzugrenzenden Tatbestand entsprechenden Begriff. Dennoch bleiben gewisse Fälle, wo es nützlich ist, sich, wenn auch in einem durch die psychologische Betrachtungsweise veränderten Sinne, jener Begriffe aus dem alten Inventar der Vermögenspsychologie zu bedienen. Diese Fälle ergeben sich da, wo uns komplexe, aus sehr verschiedenen Bestandteilen gemischte Phänomene entgegentreten, die wegen der Regelmässigkeit ihrer Verbindung vor allem auch aus praktischen Gründen eine[S. 439] Berücksichtigung erheischen, oder wo uns das individuelle Bewusstsein bestimmte Richtungen der Anlage und Bildung darbietet, und wo nun die Regelmässigkeit der Verbindung wiederum zur Analyse solcher komplexer geistiger Anlagen herausfordert. In allen diesen Fällen ist es aber natürlich die Aufgabe der psychologischen Untersuchung, nicht bei den so gebildeten Generalbegriffen stehen zu bleiben, sondern sie womöglich auf ihre einfachen Faktoren zurückzuführen.[291] Diese Anschauung ist echt extravertiert. Ich habe die besonders charakteristischen Stellen durch Sperrdruck hervorgehoben. Während für den introvertierten Standpunkt die „Generalbegriffe“ wie Vernunft, Intellekt, etc. „Vermögen“, d. h. einfache Grundfunktionen sind, welche die Mannigfaltigkeit der von ihnen geleiteten psychischen Prozesse in einheitlichem Sinne zusammenfassen, so sind sie für den extravertierten, empiristischen Standpunkt nichts als sekundäre, abgeleitete Begriffe, Komplikationen der Elementarvorgänge, auf welch letztere von dieser Ansicht der Wertakzent verlegt wird. Wohl lassen sich, nach diesem Standpunkt, solche Begriffe nicht umgehen, aber man sollte sie im Prinzip immer auf „ihre einfachen Faktoren zurückführen.“ Es ist selbstverständlich, dass der empiristische Standpunkt gar nicht anders denken kann als reduktiv in Bezug auf allgemeine Begriffe, denn für ihn sind Begriffe immer nur aus Erfahrung Abgeleitetes. Er kennt überhaupt keine „Vernunftbegriffe“, Ideen a priori, weil sein Denken passiv apperceptiv auf die sinnlich bedingte Erfahrung eingestellt ist. Infolge dieser Einstellung ist immer das Objekt betont, es ist gewissermassen handelnd, und nötigt zu Erkenntnissen und komplizierten Vernunftschlüssen, und diese erfor[S. 440]dern die Existenz allgemeiner Begriffe, die aber nur dazu dienen, gewisse Gruppen von Phänomenen unter einem Collektivum zu begreifen. So ist der Allgemeinbegriff natürlicherweise nichts als eine sekundäre Grösse, die eigentlich, ausser in der Sprache, nicht existiert. Die Wissenschaft kann daher der Vernunft, der Phantasie etc. kein Recht auf Sonderexistenz einräumen, insoferne sie der Ansicht ist, dass nur das wirklich existiere, was als sinnlich gegebene Tatsache, als „elementarer Faktor“ vorhanden ist. Wenn aber das Denken, wie es beim Introvertierten der Fall ist, aktiv apperceptiv eingestellt ist, so hat die Vernunft, der Intellekt, die Phantasie etc. den Wert einer Grundfunktion, eines Vermögens, d. h. eines Könnens oder Tuns von innen heraus, weil für diesen Standpunkt der Wertakzent auf dem Begriffe ruht und nicht auf den vom Begriffe gedeckten und zusammengefassten Elementarvorgängen. Dieses Denken ist von Hause aus synthetisch. Es ordnet nach dem Schema des Begriffes an und benützt den Erfahrungsstoff, um seine Ideen zu erfüllen. Der Begriff tritt als Aktivum auf und zwar aus eigener innerer Kraft, welche den Erfahrungsstoff gestaltend ergreift. Der Extravertierte vermutet als Quelle dieser Kraft einerseits blosse Willkür, andererseits vorschnelle Generalisierung beschränkter Erfahrungen. Der Introvertierte, der seiner eigenen Denkpsychologie unbewusst ist und vielleicht sogar den modegemässen Empirismus selber als Richtschnur adoptiert hat, verteidigt sich erfolglos gegen diesen Vorwurf. Der Vorwurf ist aber nichts anderes als eine Projektion der extravertierten Psychologie. Der aktive Denktypus bezieht nämlich die Energie seiner Denktätigkeit weder aus der Willkür noch aus der Erfahrung, sondern aus der Idee, d. h. aus der angebornen funktionellen Form, welche durch seine introvertierte Einstellung aktiviert ist. Diese Quelle ist ihm unbewusst, weil er die Idee wegen ihrer apriorischen Inhaltlosigkeit erst in der Ge[S. 441]staltung a posteriori erkennen kann, nämlich in der Form, welche der durch das Denken bearbeitete Erfahrungsstoff annimmt. Dem Extravertierten aber ist das Objekt und der Elementarvorgang darum wichtig und unerlässlich, weil er unbewusst die Idee in das Objekt projiziert hat und er nur durch die empirische Sammlung und Vergleichung zum Begriffe und damit zur Idee aufsteigen kann. Die beiden Denkrichtungen sind einander merkwürdig entgegengesetzt: Der Eine gestaltet aus seiner unbewussten Idee heraus den Stoff und gelangt so zur Erfahrung; der Andere lässt sich vom Stoffe, der seine unbewusste Ideenprojektion enthält, leiten und gelangt so zur Idee. Dieser Einstellungsgegensatz hat etwas Irritierendes an sich, und deshalb ist er es auch, der im Grunde genommen die hitzigsten und erfolglosesten wissenschaftlichen Diskussionen verursacht.

Ich hoffe, dass diese Auseinandersetzung meine Ansicht genügend belegt, dass die ratio und ihre einseitige Erhebung zum Prinzip, eben der Rationalismus, dem Empirismus ebenso sehr eignen, wie dem Ideologismus. Statt von Ideologismus zu sprechen, könnte ich auch das Wort „Idealismus“ anwenden. Dieser Verwendung steht aber sein Gegensatz zu „Materialismus“ entgegen, und ich könnte als Gegensatz zu „materialistisch“ nicht „ideologisch“ sagen, da der Materialist, wie die Geschichte der Philosophie zeigt, oft ebenso gut ein Ideolog sein kann, nämlich dann, wenn er kein Empiriker ist, sondern von der allgemeinen Idee der Materie aus aktiv denkt.

b) Das zweite Gegensatzpaar, das James aufstellt, ist Intellektualismus versus Sensualismus (Sensationalism).

Sensualismus ist der Ausdruck, der das Wesen des extremen Empirismus kennzeichnet. Er behauptet die Sinneserfahrung als einzige und ausschließliche Quelle der Erkenntnis. Die sensualistische Einstellung ist ganz[S. 442] nach dem durch die Sinne gegebenen Objekt orientiert, also nach aussen. Offenbar meint James einen intellektuellen und nicht einen ästhetischen Sensualismus, aber eben darum scheint „Intellektualismus“ nicht gerade der dazu passende Gegensatz zu sein. Psychologisch ist der Intellektualismus eine Einstellung, welche sich dadurch kennzeichnet, dass sie dem Intellekt den bedingenden Hauptwert gibt, also dem Erkennen auf der begrifflichen Stufe. Ich kann mit dieser Einstellung auch ein Sensualist sein, nämlich dann, wenn ich mein Denken mit concreten Begriffen beschäftige, die allesamt aus der sinnlichen Erfahrung stammen. Daher kann auch der Empiriker intellektuell sein. Philosophisch wird Intellektualismus etwa promiscuë mit Rationalismus gebraucht, daher man wiederum Ideologismus als den Gegensatz zu Sensualismus nennen müsste, insofern ja auch Sensualismus in seinem Wesen nur ein extremer Empirismus ist.

c) Das dritte James’sche Gegensatzpaar ist Idealismus versus Materialismus.

Man hätte schon beim Sensualismus die Vermutung hegen können, dass James damit nicht bloss einen gesteigerten Empirismus, d. h. also einen intellektuellen Sensualismus meint, sondern mit dem Ausdruck „sensationalistic“ vielleicht auch das eigentlich Empfindungsmässige abgesehen von allem Intellekt hervorheben wollte. Mit Empfindungsmässigem meine ich die eigentliche Sinnlichkeit, allerdings nicht in vulgärem Sinne als voluptas, sondern als eine psychologische Einstellung, bei welcher weniger das eingefühlte Objekt, als vielmehr die blosse Tatsache der Sinneserregung und -empfindung die orientierende und determinierende Grösse ist. Diese Einstellung kann auch als eine reflektorische bezeichnet werden, indem die ganze Mentalität von der Sinnesempfindung abhängt und auch in ihr gipfelt. Das Objekt wird weder abstrakt erkannt noch eingefühlt, sondern wirkt durch[S. 443] seine natürliche Existenzform, und das Subjekt orientiert sich ausschließlich an den durch den Kontakt mit dem Objekt erregten Sinnesempfindungen. Diese Einstellung entspräche einer primitiven Mentalität. Ihr zugehöriger Gegensatz ist die intuitive Einstellung, welche charakterisiert ist durch ein empfindungsmässiges Erfassen, welches weder intellektuell noch gefühlsmässig ist, sondern beides zugleich in ungesonderter Mischung. Wie das sinnliche Objekt in der Wahrnehmung erscheint, so erscheint auch der psychische Inhalt in der Intuition, also quasi illusionär oder halluzinatorisch.

Dass James den Tough-minded sowohl als „sensationalistic“ wie auch als „materialistic“ bezeichnet (und weiter unten noch als „irreligious“) lässt den Zweifel aufkommen, ob er wohl mit seiner Typisierung denselben Typengegensatz im Auge habe, wie ich. Materialismus wird vulgär ja stets verstanden als eine Einstellung, die sich nach „materiellen“ Werten orientiert, also als eine Art von moralischem Sensualismus. Die James’sche Charakterisierung ergäbe also ein sehr ungünstiges Gemälde, wenn wir diesen Ausdrücken ihre vulgäre Bedeutung unterschieben wollten. Dies läge gewiss nicht im Sinne von James, dessen oben zitierte Worte über die Typen ein Missverständnis nach dieser Richtung verhindern wollen. Man dürfte also nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass James hauptsächlich die philosophische Bedeutung der in Frage stehenden Ausdrücke im Auge hatte. Dann heisst Materialismus eine Einstellung, welche sich allerdings nach materiellen Werten orientiert, aber nicht nach „sinnlichen“, sondern nach Tatsachenwerten; wobei mit „Tatsache“ etwas Äusseres und sozusagen Stoffliches gemeint ist. Der Gegensatz dazu ist „Idealismus“, im philosophischen Sinne einer Hauptbewertung der Idee. Ein moralischer Idealismus kann damit nicht gemeint sein, sonst müssten wir auch, entgegen der Absicht von[S. 444] James, annehmen, dass mit Materialismus ein moralischer Sensualismus gemeint sei. Wenn wir also annehmen, dass er mit Materialismus eine Einstellung meint, die den orientierenden Hauptwert auf die reale Tatsächlichkeit legt, so gelangen wir wieder dazu, auch in diesem Attribut eine extravertierte Eigentümlichkeit aufzufinden, womit unsere anfänglichen Zweifel sich zerstreuen. Dass der philosophische Idealismus dem introvertierten Ideologismus entspricht, haben wir bereits gesehen. Ein moralischer Idealismus wäre aber keineswegs charakteristisch für den Introvertierten, denn auch der Materialist kann moralisch idealistisch sein.

d) Das vierte Gegensatzpaar ist Optimismus versus Pessimismus.

Ich hege grosse Zweifel, ob dieser bekannte Gegensatz, nach dem sich menschliche Temperamente unterscheiden lassen, ohne weiteres auf die James’schen Typen verwendet werden darf. Ist z. B. der Empirismus Darwins auch pessimistisch? Gewiss ist er es für einen, der eine ideologistische Weltanschauung hat und den andern Typus Mensch durch die Brille einer unbewussten Gefühlsprojektion sieht. Der Empiriker selber braucht aber deshalb keineswegs seine Ansicht als pessimistisch aufzufassen. Oder ist z. B. der Denker Schopenhauer, dessen Weltanschauung rein ideologistisch ist (genau wie der reine Ideologismus der Upanishads), der James’schen Typisierung entsprechend, etwa optimistisch? Kant selber, ein sehr reiner introvertierter Typus, steht jenseits von Optimismus und Pessimismus, so gut wie die grossen Empiriker. Es scheint mir daher, dass dieser Gegensatz auch mit den James’schen Typen nichts zu tun hat. So gut wie es optimistische Introvertierte gibt, gibt es auch optimistische Extravertierte und vice-versa. Es wäre aber sehr leicht möglich, dass James dieser Irrtum unterlaufen ist auf Grund der vorhin angedeuteten subjek[S. 445]tiven Projektion. Eine materialistische oder rein empiristische oder positivistische Weltanschauung erscheint dem Standpunkt des Ideologismus als schlechthin trostlos. Er muss sie also als pessimistisch empfinden. Wer aber an den Gott „Materie“ glaubt, dem erscheint die materialistische Anschauung als optimistisch. Durch die materialistische Auffassung wird nämlich dem Ideologismus der Lebensnerv durchschnitten, denn seine Hauptkraft, das aktive Appercipieren und das Verwirklichen der Urbilder, wird dadurch lahmgelegt. Darum muss ihm eine solche Ansicht als durchaus pessimistisch erscheinen, denn sie beraubt ihn jeglicher Hoffnung, die ewige Idee je wieder in der Erscheinung verwirklicht zu erblicken. Eine Welt realer Tatsachen bedeutet für ihn Exil und dauernde Heimatlosigkeit. Wenn also James die materialistische Ansicht parallel setzt mit Pessimismus, so dürfte dieser Umstand darauf hinweisen, dass er persönlich zur ideologistischen Seite gehört — eine Annahme, die unschwer durch viele andere Züge aus dem Leben dieses Philosophen erhärtet werden könnte. Dieser Umstand dürfte auch erklären, warum der Tough-minded die drei etwas verdächtigen Epitheta: sensualistisch, materialistisch, irreligiös abbekommen hat. Auf denselben Umstand weist auch jene Stelle in „Pragmatism“ hin, wo James die gegenseitige Abneigung der Typen einem Zusammentreffen von Bostoner Touristen mit der Bevölkerung von Cripple Creek[292] vergleicht. Dieser Vergleich ist für den andern Typus wenig schmeichelhaft und lässt auf eine gefühlsmässige Abneigung schliessen, gegen die auch ein starker Wille zur Gerechtigkeit nicht ganz aufkommt. Dieses kleine „document humain“ scheint mir aber gerade ein kostbarer Beweis zu sein für die Tatsache der irritierenden Verschiedenheit der beiden[S. 446] Typen. Es mag vielleicht kleinlich erscheinen, wenn ich gerade auf solche Gefühlsinkompatibilitäten einen gewissen Nachdruck lege. Aber ich habe mich durch vielfache Erfahrungen davon überzeugt, dass gerade solche im Bewusstseinshintergrund gehaltene Gefühle gelegentlich auch das schönste Raisonnement in ungünstiger Weise beeinflussen und die Verständigung hintertreiben. Man kann sich ja leicht denken, dass auch die Bevölkerung von Cripple Creek den Bostoner Touristen mit besondern Augen ansieht.

e) Das fünfte Gegensatzpaar ist Religiosität versus Irreligiosität.

Die Gültigkeit dieses Gegensatzes für die James’sche Typenpsychologie hängt natürlich wesentlich ab von der Definition, die er der Religiosität gibt. Wenn er das Wesen der Religiosität ganz vom ideologistischen Standpunkt auffasst als eine Einstellung, bei welcher die religiöse Idee eine dominierende Rolle spielt (im Gegensatz zum Gefühl), dann hat er gewiss recht, den Tough-minded auch als irreligiös zu bezeichnen. Aber James denkt zu weit und zu menschlich, als dass er nicht sähe, dass die religiöse Einstellung auch durch das religiöse Gefühl determiniert sein kann. Sagt er doch selber: „Unsere Ehrerbietung vor Tatsachen hat nicht alle Religiosität in uns neutralisiert. Aber diese Ehrerbietung ist in sich selber sozusagen religiös. Unsere wissenschaftliche Einstellung ist fromm (our scientific temper is devout)“.[293] Den Mangel an Ehrfurcht vor „ewigen“ Ideen ersetzt der Empiriker durch einen sozusagen religiösen Glauben an die reale Tatsache. Wenn jemand seine Einstellung orientiert an der Idee Gottes, so ist es psychologisch dasselbe, wie wenn er es an der Idee des Stoffes täte oder wie wenn er die realen Tatsachen zum determinierenden Faktor seiner Einstellung erhöbe. Insofern diese Orientierung nur unbedingt[S. 447] geschieht, verdient sie das Epitheton „religiös“. Von einem hohen Standpunkt aus ist aber die reale Tatsache ebenso sehr wert, ein unbedingter Faktor zu sein, wie die Idee, das Urbild, das der Zusammenprall des Menschen und seiner innern Bedingungen mit den harten Tatsachen der äussern Wirklichkeit seit Myriaden Jahren geschaffen hat. Die unbedingte Hingebung an die realen Tatsachen kann jedenfalls vom psychologischen Standpunkt aus nie als irreligiös bezeichnet werden. Der tough-minded hat eben seine empiristische Religion, wie der tender-minded seine ideologistische Religion hat. Es ist nun allerdings auch eine Tatsache unserer gegenwärtigen Kulturepoche, dass die Wissenschaft vom Objekt und die Religion vom Subjekt, d. h. vom Ideologismus beherrscht wird, denn irgend wohin musste sich die aus sich selber wirkende Idee doch flüchten, nachdem sie in der Wissenschaft ihren Platz dem Objekt hatte räumen müssen. Wenn die Religion in dieser Weise als gegenwärtige Kulturerscheinung verstanden wird, dann hat James recht, den Empiriker als irreligiös zu bezeichnen, aber auch nur so weit. Da die Philosophen nicht unbedingt eine ganz abgesonderte Menschenklasse sind, so werden sich ihre Typen auch weit über den Bezirk des philosophierenden Menschen in die allgemeine Menschheit hinaus erstrecken, vielleicht soweit als die kultivierte Menschheit überhaupt reicht. Aus diesem allgemeinen Grunde schon verböte es sich, die eine Hälfte der Kulturmenschheit als irreligiös zu bezeichnen. Wir wissen ja aus der Psychologie des Primitiven, dass die religiöse Funktion schlechthin zum Bestande der Psyche gehört und stets und überall vorhanden ist, so undifferenziert sie auch sein mag.

Wenn wir die vorhin angedeutete Beschränktheit des Begriffes „Religion“ bei James nicht annehmen, dann muss es sich wieder um eine gefühlsmässige Entgleisung handeln, die, wie wir sahen, sich nur allzu leicht ereignet.

[S. 448]

f) Das sechste Gegensatzpaar ist Indeterminismus versus Determinismus.

Dieser Gegensatz ist psychologisch interessant. Es ist selbstverständlich, dass der Empirismus causal denkt, womit der notwendige Zusammenhang von Ursache und Wirkung axiomatisch angenommen ist. Die empiristische Einstellung wird orientiert durch das eingefühlte Objekt, sie wird gewissermassen von der äussern Tatsache „bewirkt“ mit dem Gefühl der Notwendigkeit einer aus einer Ursache erfolgenden Wirkung. Es ist ganz natürlich, dass sich dieser Einstellung der Eindruck der Unabänderlichkeit der Kausalzusammenhänge psychologisch aufdrängt. Die Identifikation der innern psychischen Vorgänge mit dem Ablauf äusserer Tatsachen ist schon aus dem Grunde gegeben, dass unbewusst im Einfühlungsakt eine beträchtliche Summe der eigenen Aktivität, des eigenen Lebens dem Objekt verliehen wird. Dadurch wird das Subjekt dem Objekt assimiliert, obschon der Einfühlende das Objekt zu assimilieren glaubt. Wenn aber auf dem Objekt ein starker Wertakzent liegt, so besitzt damit das Objekt eine Bedeutung, welche auch ihrerseits das Subjekt beeinflusst und es zu einer Dissimilation von sich selber zwingt. Die menschliche Psychologie ist bekanntlich chamäleonartig, das erfährt der praktische Psycholog alltäglich. Wo immer das Objekt überwiegt, finden im Subjekt Angleichungen an die Natur des Objektes statt. So spielt z. B. die Identifikation mit dem geliebten Objekt in der analytischen Therapie keine geringe Rolle. Die Psychologie der Primitiven vollends gibt uns eine Menge von Beispielen der Dissimilation zu Gunsten des Objektes, z B. die häufige Angleichung an das Totemtier oder an die Ahnengeister. Die Stigmatisierung der mittelalterlichen bis neuzeitlichen Heiligen gehört ebenfalls hieher. In der „imitatio Christi“ ist die Dissimilation sogar zum Prinzip erhoben. Bei dieser unzweifelhaften Anlage der menschlichen Psyche zur Dissimila[S. 449]tion ist das Herübernehmen der objektiven Kausalzusammenhänge ins Subjekt psychologisch leicht verständlich. Die Psyche kommt dadurch, wie gesagt, unter den Eindruck der alleinigen Gültigkeit des Kausalprinzips, und es bedarf schon des ganzen erkenntnistheoretischen Rüstzeuges, um sich der Übermacht dieses Eindruckes zu erwehren. Erschwerend kommt dabei in Betracht, dass die empiristische Einstellung mit ihrem ganzen Wesen uns hindert, an die innere Freiheit zu glauben. Denn jeder Beweis, ja jede Beweismöglichkeit fehlt uns. Was will jenes blasse, undeutliche Gefühl der Freiheit besagen gegenüber der erdrückenden Masse objektiver Beweise des Gegenteils? Der Determinismus des Empirikers ist daher sozusagen unvermeidlich, vorausgesetzt, dass der Empiriker soweit denkt und es nicht vorzieht — wie das nicht selten geschieht — zwei Schubfächer zu besitzen, das eine für die Wissenschaft und das andere für die von den Eltern und der Societät überkommene Religion. Wie wir sahen, besteht das Wesen des Ideologismus auf einer unbewussten Aktivierung der Idee. Diese Aktivierung kann auf einer nachträglichen, im Leben erworbenen Abneigung gegen die Einfühlung beruhen, kann aber auch von Geburt an existieren als eine a priori von Natur geschaffene und begünstigte Einstellung. (Ich habe in meiner praktischen Erfahrung mehrfach solche Fälle gesehen.) In diesem letztern Falle ist die Idee a priori aktiv, ohne aber, ihrer Leere und Unvorstellbarkeit wegen, dem Bewusstsein gegeben zu sein. Sie ist als überwiegende innere, aber unvorstellbare Tatsache den „objektiven“ äussern Tatsachen übergeordnet, und gibt wenigstens das Gefühl ihrer Unabhängigkeit und Freiheit an das Subjekt ab, das sich infolge seiner innern Angleichung an die Idee dem Objekt gegenüber als unabhängig und frei empfindet. Wenn die Idee der orientierende Hauptfaktor ist, so assimiliert sie sich das Subjekt ebenso[S. 450]wohl, wie das Subjekt versucht, durch die Gestaltung des Erfahrungsstoffes sich die Idee zu assimilieren. Es findet also genau wie bei der obenbesprochenen Objekteinstellung eine Dissimilation des Subjektes von sich selber statt, aber in umgekehrtem Sinne, d. h. in diesem Fall zu Gunsten der Idee. Das anererbte Urbild ist eine alle Zeiten überdauernde, allen Erscheinungswechseln übergeordnete Grösse, die vor aller und über aller individueller Erfahrung steht. Der Idee kommt daher eine besondere Macht zu. Wenn sie aktiviert ist, so überträgt sie ein ausgesprochenes Machtgefühl ins Subjekt, indem sie sich mittelst der innern unbewussten Einfühlung das Subjekt assimiliert. Daraus entspringt im Subjekt das Gefühl der Macht, der Unabhängigkeit, der Freiheit und der Ewigkeit. (Vergl. dazu Kants Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.) Wenn das Subjekt die freie Tätigkeit seiner über die reale Tatsache erhabenen Idee empfindet, so drängt sich ihm natürlicherweise der Gedanke der Freiheit auf. Wenn sein Ideologismus rein ist, so muss es sogar zu einer indeterministischen Überzeugung gelangen.

Der hier besprochene Gegensatz ist in hohem Masse charakteristisch für unsere Typen. Der Extravertierte ist gekennzeichnet durch sein Streben nach dem Objekt, durch die Einfühlung in und die Identifikation mit dem Objekt, und seine gewollte Abhängigkeit vom Objekt. Er ist durch das Objekt ebenso sehr beeinflusst, wie er es zu assimilieren strebt. Der Introvertierte dagegen ist gekennzeichnet durch seine anscheinende Selbstbehauptung gegenüber dem Objekt. Er sträubt sich gegen jede Abhängigkeit vom Objekt, er weist die Beeinflussung durch das Objekt ab, ja er empfindet gelegentlich sogar Furcht davor. Umsomehr aber hängt er ab von der Idee, welche ihn vor äusserer Abhängigkeit beschützt und ihm das Gefühl der innern Freiheit gibt, dafür aber auch eine ausgesprochene Machtpsychologie.

[S. 451]

g) Der siebente Gegensatz ist Monismus versus Pluralismus.

Es ist nach dem Obengesagten ohne weiteres verständlich, dass die Einstellung, die durch die Idee orientiert ist, nach dem Monismus tendiert. Die Idee hat immer hierarchischen Charakter, sei sie nun gewonnen durch Abstraktion aus Vorstellungen und concreten Begriffen, oder sei sie a priori als unbewusste Form existierend. Im erstem Fall ist sie der höchste Punkt des Gebäudes, der gewissermassen alles, was unter ihm liegt, abschliesst und damit umfasst, im letztern Fall ist sie der unbewusste Gesetzgeber, der die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Denkens reguliert. Beide Male hat die Idee beherrschende Eigenschaft. Obschon eine Mehrzahl von Ideen vorhanden ist, so hat doch jeweils eine Idee für kürzere oder längere Zeit die Oberhand und konstelliert monarchisch die Grosszahl der psychischen Elemente. Umgekehrt ist es ebenso klar, dass die Einstellung, die sich nach dem Objekte orientiert, immer zu einer Mehrzahl von Prinzipien (Pluralismus) neigt, denn die Mannigfaltigkeit der Objekteigenschaften zwingt auch zu einer Mehrzahl von Begriffen und Prinzipien, ohne welche eine Erklärung sich dem Wesen des Objektes nicht anpassen kann.

Die monistische Tendenz gehört zur Introversionseinstellung, die pluralistische Tendenz zur Extraversionseinstellung.

h) Der achte Gegensatz ist Dogmatismus versus Skeptizismus.

Es ist auch in diesem Falle leicht einzusehen, dass der Dogmatismus in erster Linie der Einstellung, die der Idee folgt, anhaftet, obschon die unbewusste Verwirklichung der Idee nicht eo ipso Dogmatismus ist. Gleichwohl macht die Art und Weise, wie sich eine unbewusste Idee sozusagen gewaltsam verwirklicht, auf[S. 452] Aussenstehende den Eindruck, als ob der nach Ideen Denkende von einem Dogma ausginge, in dessen starre Schranken der Erfahrungsstoff gepresst wird. Die Einstellung, die sich nach dem Objekt richtet, erscheint selbstverständlich in Bezug auf alle Ideen a priori als skeptisch, denn sie will in erster Linie das Objekt und die Erfahrung zum Worte kommen lassen, unbekümmert um allgemeine Ideen. Der Skeptizismus ist in diesem Sinne sogar eine unerlässliche Vorbedingung aller Empirie.

Auch dieses Gegensatzpaar bestätigt die wesentliche Ähnlichkeit der James’schen Typen mit den meinigen.

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