V. XXIX Das Princip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transscendentales Princip der Urtheilskraft.

Ein transscendentales Princip ist dasjenige, durch welches die allgemeine 15 Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objecte unserer Erkenntniß überhaupt werden können. Dagegen heißt ein Princip metaphysisch, wenn es die Bedingung a priori vorstellt, unter der allein Objecte, deren Begriff empirisch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können. So ist das Princip der Erkenntniß 20 der Körper als Substanzen und als veränderlicher Substanzen transscendental, wenn dadurch gesagt wird, daß ihre Veränderung eine Ursache haben müsse; es ist aber metaphysisch, wenn dadurch gesagt wird, ihre Veränderung müsse eine äußere Ursache haben: weil im ersteren Falle der Körper nur durch ontologische Prädicate (reine Verstandesbegriffe), 25 z. B. als Substanz, gedacht werden darf, um den Satz a priori zu erkennen; im zweiten aber der empirische Begriff eines Körpers (als eines beweglichen Dinges im Raum) diesem Satze zum Grunde gelegt werden muß, alsdann aber, daß dem Körper das letztere Prädicat (der Bewegung nur durch äußere Ursache) zukomme, völlig a priori eingesehen 30 werden kann. — So ist, wie ich sogleich zeigen werde, das Princip der Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen XXX Gesetze) ein transscendentales Princip. Denn der Begriff von den Objecten, sofern sie als unter diesem Princip stehend gedacht werden, ist nur der reine Begriff von Gegenständen des möglichen Erfahrungserkenntnisses 35 überhaupt und enthält nichts Empirisches. Dagegen wäre das Princip der praktischen Zweckmäßigkeit, die in der Idee der Bestimmung eines freien Willens gedacht werden muß, ein metaphysisches Princip: weil der Begriff eines Begehrungsvermögens als eines Willens doch empirisch gegeben werden muß (nicht zu den transscendentalen Prädicaten 5 gehört). Beide Principien aber sind dennoch nicht empirisch, sondern Principien a priori: weil es zur Verbindung des Prädicats mit dem empirischen Begriffe des Subjects ihrer Urtheile keiner weiteren Erfahrung bedarf, sondern jene völlig a priori eingesehen werden kann.

Daß der Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur zu den transscendentalen 10 Principien gehöre, kann man aus den Maximen der Urtheilskraft, die der Nachforschung der Natur a priori zum Grunde gelegt werden, und die dennoch auf nichts als die Möglichkeit der Erfahrung, mithin der Erkenntniß der Natur, aber nicht bloß als Natur überhaupt, sondern als durch eine Mannigfaltigkeit besonderer Gesetze bestimmten 15 Natur, gehen, hinreichend ersehen. — Sie kommen, als Sentenzen der metaphysischen Weisheit, bei Gelegenheit mancher Regeln, deren Nothwendigkeit XXXI man nicht aus Begriffen darthun kann, im Laufe dieser Wissenschaft oft genug, aber nur zerstreut vor. »Die Natur nimmt den kürzesten Weg (lex parsimoniae); sie thut gleichwohl keinen Sprung, 20 weder in der Folge ihrer Veränderungen, noch der Zusammenstellung specifisch verschiedener Formen (lex continui in natura); ihre große Mannigfaltigkeit in empirischen Gesetzen ist gleichwohl Einheit unter wenigen Principien (principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda)«; u. d. g. m. 25

Wenn man aber von diesen Grundsätzen den Ursprung anzugeben denkt und es auf dem psychologischen Wege versucht, so ist dies dem Sinne derselben gänzlich zuwider. Denn sie sagen nicht, was geschieht, d. i. nach welcher Regel unsere Erkenntnißkräfte ihr Spiel wirklich treiben, und wie geurtheilt wird, sondern wie geurtheilt werden soll; und da kommt 30 diese logische objective Nothwendigkeit nicht heraus, wenn die Principien bloß empirisch sind. Also ist die Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnißvermögen und ihren Gebrauch, welche offenbar aus ihnen hervorleuchtet, ein transscendentales Princip der Urtheile und bedarf also auch einer transscendentalen Deduction, vermittelst deren der Grund 35 so zu urtheilen in den Erkenntnißquellen a priori aufgesucht werden muß.

Wir finden nämlich in den Gründen der Möglichkeit einer Erfahrung zuerst freilich etwas Nothwendiges, nämlich die allgemeinen XXXII Gesetze, ohne welche Natur überhaupt (als Gegenstand der Sinne) nicht gedacht werden kann; und diese beruhen auf den Kategorieen, angewandt auf die formalen Bedingungen aller uns möglichen Anschauung, sofern sie gleichfalls a priori gegeben ist. Unter diesen Gesetzen nun ist die 5 Urtheilskraft bestimmend; denn sie hat nichts zu thun, als unter gegebnen Gesetzen zu subsumiren. Z. B. der Verstand sagt: Alle Veränderung hat ihre Ursache (allgemeines Naturgesetz); die transscendentale Urtheilskraft hat nun nichts weiter zu thun, als die Bedingung der Subsumtion unter dem vorgelegten Verstandesbegriff a priori anzugeben: 10 und das ist die Succession der Bestimmungen eines und desselben Dinges. Für die Natur nun überhaupt (als Gegenstand möglicher Erfahrung) wird jenes Gesetz als schlechterdings nothwendig erkannt. — Nun sind aber die Gegenstände der empirischen Erkenntniß außer jener formalen Zeitbedingung noch auf mancherlei Art bestimmt, oder, so viel 15 man a priori urtheilen kann, bestimmbar, so daß specifisch-verschiedene Naturen außer dem, was sie als zur Natur überhaupt gehörig gemein haben, noch auf unendlich mannigfaltige Weise Ursachen sein können; und eine jede dieser Arten muß (nach dem Begriffe einer Ursache überhaupt) ihre Regel haben, die Gesetz ist, mithin Nothwendigkeit bei sich 20 führt: ob wir gleich nach der Beschaffenheit und den Schranken unserer Erkenntnißvermögen diese Nothwendigkeit gar nicht einsehen. Also XXXIII müssen wir in der Natur in Ansehung ihrer bloß empirischen Gesetze eine Möglichkeit unendlich mannigfaltiger empirischer Gesetze denken, die für unsere Einsicht dennoch zufällig sind (a priori nicht erkannt werden 25 können); und in deren Ansehung beurtheilen wir die Natureinheit nach empirischen Gesetzen und die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung (als Systems nach empirischen Gesetzen) als zufällig. Weil aber doch eine solche Einheit nothwendig vorausgesetzt und angenommen werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu 30 einem Ganzen der Erfahrung Statt finden würde, indem die allgemeinen Naturgesetze zwar einen solchen Zusammenhang unter den Dingen ihrer Gattung nach, als Naturdingen überhaupt, aber nicht specifisch, als solchen besonderen Naturwesen, an die Hand geben: so muß die Urtheilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Princip a priori annehmen, daß 35 das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte. Folglich, weil die gesetzliche Einheit in einer Verbindung, die wir zwar einer nothwendigen Absicht (einem Bedürfniß des Verstandes) gemäß, aber zugleich doch als an sich zufällig erkennen, als Zweckmäßigkeit der Objecte (hier der Natur) vorgestellt 5 XXXIV wird: so muß die Urtheilskraft, die in Ansehung der Dinge unter möglichen (noch zu entdeckenden) empirischen Gesetzen bloß reflectirend ist, die Natur in Ansehung der letzteren nach einem Princip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnißvermögen denken, welches dann in obigen Maximen der Urtheilskraft ausgedrückt wird. Dieser transscendentale 10 Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjectives 15 Princip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß 20 wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten.

Um sich von der Richtigkeit dieser Deduction des vorliegenden Begriffs und der Nothwendigkeit ihn als transscendentales Erkenntnißprincip anzunehmen zu überzeugen, bedenke man nur die Größe der Aufgabe: aus gegebenen Wahrnehmungen einer allenfalls unendliche 25 Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze enthaltenden Natur eine zusammenhängende XXXV Erfahrung zu machen, welche Aufgabe a priori in unserm Verstande liegt. Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte: aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung 30 der Natur in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind. Diese Regeln, ohne welche kein Fortgang von der allgemeinen Analogie einer möglichen Erfahrung überhaupt zur besonderen Statt finden würde, muß er sich als Gesetze (d. i. als nothwendig) denken: weil sie sonst keine 35 Naturordnung ausmachen würden, ob er gleich ihre Nothwendigkeit nicht erkennt, oder jemals einsehen könnte. Ob er also gleich in Ansehung derselben (Objecte) a priori nichts bestimmen kann, so muß er doch, um diesen empirischen sogenannten Gesetzen nachzugehen, ein Princip a priori, daß nämlich nach ihnen eine erkennbare Ordnung der Natur möglich sei, aller Reflexion über dieselbe zum Grunde legen, dergleichen Princip nachfolgende Sätze ausdrücken: daß es in ihr eine für uns faßliche 5 Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum nach einem gemeinschaftlichen Princip nähern, damit ein Übergang von einer zu der anderen und dadurch zu einer höheren Gattung möglich sei; daß, da für die specifische Verschiedenheit der Naturwirkungen eben so viel verschiedene Arten der Causalität annehmen zu 10 XXXVI müssen unserem Verstande anfänglich unvermeidlich scheint, sie dennoch unter einer geringen Zahl von Principien stehen mögen, mit deren Aufsuchung wir uns zu beschäftigen haben, u. s. w. Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnißvermögen wird von der Urtheilskraft zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe nach ihren empirischen Gesetzen 15 a priori vorausgesetzt, indem sie der Verstand zugleich objectiv als zufällig anerkennt, und bloß die Urtheilskraft sie der Natur als transscendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnißvermögen des Subjects) beilegt: weil wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für 20 eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden.

Denn es läßt sich wohl denken: daß ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt gar nicht Statt finden 25 würde, die specifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur sammt ihren Wirkungen dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken, ihre Producte in Gattungen und Arten einzutheilen, um die Principien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und 30 Begreifung des andern zu gebrauchen und aus einem für uns so verworrenen XXXVII (eigentlich nur unendlich mannigfaltigen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffe eine zusammenhängende Erfahrung zu machen.

Die Urtheilskraft hat also auch ein Princip a priori für die Möglichkeit 35 der Natur, aber nur in subjectiver Rücksicht in sich, wodurch sie, nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene, ein Gesetz vorschreibt, welches man das Gesetz der Specification der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Eintheilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, 5 wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besondern unterordnen will. Wenn man also sagt: die Natur specificirt ihre allgemeinen Gesetze nach dem Princip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnißvermögen, d. i. zur Angemessenheit mit dem menschlichen Verstande in seinem nothwendigen Geschäfte, zum Besonderen, welches ihm die Wahrnehmung 10 darbietet, das Allgemeine und zum Verschiedenen (für jede Species zwar Allgemeinen) wiederum Verknüpfung in der Einheit des Princips zu finden: so schreibt man dadurch weder der Natur ein Gesetz vor, noch lernt man eines von ihr durch Beobachtung (obzwar jenes Princip durch diese bestätigt werden kann). Denn es ist nicht ein Princip der bestimmenden, 15 XXXVIII sondern bloß der reflectirenden Urtheilskraft; man will nur, daß man, die Natur mag ihren allgemeinen Gesetzen nach eingerichtet sein, wie sie wolle, durchaus nach jenem Princip und den sich darauf gründenden Maximen ihren empirischen Gesetzen nachspüren müsse, weil wir, nur so weit als jenes Statt findet, mit dem Gebrauche unseres Verstandes 20 in der Erfahrung fortkommen und Erkenntniß erwerben können.

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