§ 80. Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanisms unter dem teleologischen in Erklärung eines 25 Dinges als Naturzwecks.

Die Befugniß auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturproducte auszugehen ist an sich ganz unbeschränkt; aber das Vermögen damit allein auszulangen ist nach der Beschaffenheit unseres Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturzwecken zu thun hat, nicht 30 allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begränzt: nämlich so, daß 367 nach einem Princip der Urtheilskraft durch das erstere Verfahren allein zur Erklärung der letzeren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurtheilung solcher Producte jederzeit von uns zugleich einem teleologischen Princip untergeordnet werden müsse. 35

Es ist daher vernünftig, ja verdienstlich, dem Naturmechanism zum Behuf einer Erklärung der Naturproducte soweit nachzugehen, als es mit Wahrscheinlichkeit geschehen kann, ja diesen Versuch nicht darum aufzugeben, weil es an sich unmöglich sei auf seinem Wege mit der Zweckmäßigkeit der Natur zusammenzutreffen, sondern nur darum, weil es für 5 uns als Menschen unmöglich ist; indem dazu eine andere als sinnliche Anschauung und ein bestimmtes Erkenntniß des intelligibelen Substrats der Natur, woraus selbst von dem Mechanism der Erscheinungen nach besondern Gesetzen Grund angegeben werden könne, erforderlich sein würde, welches alles unser Vermögen gänzlich übersteigt. 10

Damit also der Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in Beurtheilung der Dinge, deren Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisirter Wesen), immer irgend eine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst benutzt, um andere organisirte Formen hervorzubringen, oder die seinige 15 zu neuen Gestalten (die doch aber immer aus jenem Zwecke und ihm gemäß 368 erfolgen) zu entwickeln.

Es ist rühmlich, vermittelst einer comparativen Anatomie die große Schöpfung organisirter Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich daran nicht etwas einem System Ähnliches und zwar dem Erzeugungsprincip 20 nach vorfinde; ohne daß wir nöthig haben, beim bloßen Beurtheilungsprincip (welches für die Einsicht ihrer Erzeugung keinen Aufschluß giebt) stehen zu bleiben und muthlos allen Anspruch auf Natureinsicht in diesem Felde aufzugeben. Die Übereinkunft so vieler Thiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, 25 sondern auch in der Anordnung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewundrungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Theile eine so große Mannigfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, läßt einen obgleich schwachen Strahl 30 von Hoffnung in das Gemüth fallen, daß hier wohl etwas mit dem Princip des Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermuthung einer 35 wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Thiergattung 369 zur andern, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wornach 5 sie in Krystallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organisirten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzustammen scheint.

Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen nach allem ihm bekannten 10 oder gemuthmaßten Mechanism derselben jene große Familie von Geschöpfen (denn so müßte man sie sich vorstellen, wenn die genannte durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen zu lassen. Er kann den Mutterschooß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Thier), 15 anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten, gebären lassen; bis diese Gebärmutter selbst, erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte, fernerhin nicht ausartende Species eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so 20 370 bliebe, wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war. — Allein er muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.[29] Alsdann 25 aber hat er den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben und kann sich nicht anmaßen, die Erzeugung jener zwei Reiche von der Bedingung der 371 Endursachen unabhängig gemacht zu haben.

Selbst, was die Veränderung betrifft, welcher gewisse Individuen der organisirten Gattungen zufälligerweise unterworfen werden, wenn man 5 findet, daß ihr so abgeänderter Charakter erblich und in die Zeugungskraft aufgenommen wird, so kann sie nicht füglich anders denn als gelegentliche Entwickelung einer in der Species ursprünglich vorhandenen zweckmäßigen Anlage zur Selbsterhaltung der Art beurtheilt werden: weil das Zeugen seines gleichen bei der durchgängigen innern Zweckmäßigkeit 10 eines organisirten Wesens mit der Bedingung nichts in die Zeugungskraft aufzunehmen, was nicht auch in einem solchen System von Zwecken zu einer der unentwickelten ursprünglichen Anlagen gehört, so nahe verbunden ist. Denn wenn man von diesem Princip abgeht, so kann man mit Sicherheit nicht wissen, ob nicht mehrere Stücke der jetzt 15 an einer Species anzutreffenden Form eben so zufälligen zwecklosen Ursprungs sein mögen; und das Princip der Teleologie: in einem organisirten Wesen nichts von dem, was sich in der Fortpflanzung desselben erhält, als unzweckmäßig zu beurtheilen, müßte dadurch in der Anwendung sehr unzuverlässig werden und lediglich für den Urstamm (den wir aber 20 nicht mehr kennen) gültig sein.

Hume macht wider diejenigen, welche für alle solche Naturzwecke 372 ein teleologisches Princip der Beurtheilung, d. i. einen architektonischen Verstand, anzunehmen nöthig finden, die Einwendung: daß man mit eben dem Rechte fragen könnte, wie denn ein solcher Verstand möglich sei, 25 d. i. wie die mancherlei Vermögen und Eigenschaften, welche die Möglichkeit eines Verstandes, der zugleich ausführende Macht hat, ausmachen, sich so zweckmäßig in einem Wesen haben zusammen finden können. Allein dieser Einwurf ist nichtig. Denn die ganze Schwierigkeit, welche die Frage wegen der ersten Erzeugung eines in sich selbst Zwecke enthaltenden 30 und durch sie allein begreiflichen Dinges umgiebt, beruht auf der Nachfrage nach Einheit des Grundes der Verbindung des Mannigfaltigen außer einander in diesem Producte; da denn, wenn dieser Grund in dem Verstande einer hervorbringenden Ursache als einfacher Substanz gesetzt wird, jene Frage, sofern sie teleologisch ist, hinreichend beantwortet wird, wenn aber die Ursache bloß in der Materie, als einem Aggregat vieler Substanzen außer einander, gesucht wird, die Einheit des Princips für die innerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung gänzlich ermangelt; 5 und die Autokratie der Materie in Erzeugungen, welche von unserm Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, ist ein Wort ohne Bedeutung.

Daher kommt es, daß diejenigen, welche für die objectiv-zweckmäßigen Formen der Materie einen obersten Grund der Möglichkeit derselben 10 373 suchen, ohne ihm eben einen Verstand zuzugestehen, das Weltganze doch gern zu einer einigen, allbefassenden Substanz (Pantheism), oder (welches nur eine bestimmtere Erklärung des vorigen ist) zu einem Inbegriffe vieler einer einigen einfachen Substanz inhärirenden Bestimmungen (Spinozism) machen, bloß um jene Bedingung aller Zweckmäßigkeit, die 15 Einheit des Grundes, heraus zu bekommen; wobei sie zwar einer Bedingung der Aufgabe, nämlich der Einheit in der Zweckbeziehung, vermittelst des bloß ontologischen Begriffs einer einfachen Substanz ein Genüge thun, aber für die andere Bedingung, nämlich das Verhältniß derselben zu ihrer Folge als Zweck, wodurch jener ontologische Grund 20 für die Frage näher bestimmt werden soll, nichts anführen, mithin die ganze Frage keinesweges beantworten. Auch bleibt sie schlechterdings unbeantwortlich (für unsere Vernunft), wenn wir jenen Urgrund der Dinge nicht als einfache Substanz und dieser ihre Eigenschaft zu der specifischen Beschaffenheit der auf sie sich gründenden Naturformen, 25 nämlich der Zweckeinheit, nicht als die einer intelligenten Substanz, das Verhältniß aber derselben zu den letzteren (wegen der Zufälligkeit, die wir an allem finden, was wir uns nur als Zweck möglich denken) nicht als das Verhältniß einer Causalität uns vorstellen.

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