§ 77. Von der Eigenthümlichkeit des menschlichen Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird.

Wir haben in der Anmerkung Eigenthümlichkeiten unseres (selbst des oberen) Erkenntnißvermögens, welche wir leichtlich als objective 5 Prädicate auf die Sachen selbst überzutragen verleitet werden, angeführt; aber sie betreffen Ideen, denen angemessen kein Gegenstand in der Erfahrung 345 gegeben werden kann, und die alsdann nur zu regulativen Principien in Verfolgung der letzeren dienen konnten. Mit dem Begriffe eines Naturzwecks verhält es sich zwar eben so, was die Ursache der 10 Möglichkeit eines solchen Prädicats betrifft, die nur in der Idee liegen kann; aber die ihr gemäße Folge (das Product selbst) ist doch in der Natur gegeben, und der Begriff einer Causalität der letzteren, als eines nach Zwecken handelnden Wesens, scheint die Idee eines Naturzwecks zu einem constitutiven Princip desselben zu machen: und darin hat sie etwas 15 von allen andern Ideen Unterscheidendes.

Dieses Unterscheidende besteht aber darin: daß gedachte Idee nicht ein Vernunftprincip für den Verstand, sondern für die Urtheilskraft, mithin lediglich die Anwendung eines Verstandes überhaupt auf mögliche Gegenstände der Erfahrung ist; und zwar da, wo das Urtheil nicht bestimmend, 20 sondern bloß reflectirend sein kann, mithin der Gegenstand zwar in der Erfahrung gegeben, aber darüber der Idee gemäß gar nicht einmal bestimmt (geschweige völlig angemessen) geurtheilt, sondern nur über ihn reflectirt werden kann.

Es betrifft also eine Eigenthümlichkeit unseres (menschlichen) Verstandes 25 in Ansehung der Urtheilskraft in der Reflexion derselben über Dinge der Natur. Wenn das aber ist, so muß hier die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen zum Grunde liegen 346 (so wie wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich 30 die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, gehalten werden sollte), damit man sagen könne: gewisse Naturproducte müssen nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes von uns ihrer Möglichkeit nach als absichtlich und als Zwecke erzeugt betrachtet werden, ohne doch darum zu verlangen, daß es wirklich eine besondere 35 Ursache, welche die Vorstellung eines Zwecks zu ihrem Bestimmungsgrunde hat, gebe, mithin ohne in Abrede zu ziehen, daß nicht ein anderer (höherer) Verstand, als der menschliche auch im Mechanism der Natur, d. i. einer Causalverbindung, zu der nicht ausschließungsweise ein Verstand als Ursache angenommen wird, den Grund der Möglichkeit solcher Producte der 5 Natur antreffen könne.

Es kommt hier also auf das Verhalten unseres Verstandes zur Urtheilskraft an, daß wir nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen anzumerken. 10

Diese Zufälligkeit findet sich ganz natürlich in dem Besondern, welches die Urtheilskraft unter das Allgemeine der Verstandesbegriffe bringen soll; denn durch das Allgemeine unseres (menschlichen) Verstandes ist das Besondere nicht bestimmt; und es ist zufällig, auf wie vielerlei 347 Art unterschiedene Dinge, die doch in einem gemeinsamen Merkmale 15 übereinkommen, unserer Wahrnehmung vorkommen können. Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein discursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden und das unter seine Begriffe gebracht werden kann. Weil aber zum Erkenntniß doch auch 20 Anschauung gehört, und ein Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnißvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung sein würde: so kann man sich auch einen intuitiven Verstand (negativ, nämlich bloß als nicht discursiven) denken, welcher 25 nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht, und für welchen jene Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Natur in ihren Producten nach besondern Gesetzen zum Verstande nicht angetroffen wird, welche dem unsrigen es so schwer macht, das Mannigfaltige derselben zur Einheit des Erkenntnisses zu bringen; ein Geschäft, 30 das der unsrige nur durch Übereinstimmung der Naturmerkmale zu unserm Vermögen der Begriffe, welche sehr zufällig ist, zu Stande bringen kann, dessen ein anschauender Verstand aber nicht bedarf.

Unser Verstand hat also das Eigene für die Urtheilskraft, daß im 348 Erkenntniß durch denselben durch das Allgemeine das Besondere nicht bestimmt 35 wird, und dieses also von jenem allein nicht abgeleitet werden kann; gleichwohl aber dieses Besondere in der Mannigfaltigkeit der Natur zum Allgemeinen (durch Begriffe und Gesetze) zusammenstimmen soll, um darunter subsumirt werden zu können, welche Zusammenstimmung unter solchen Umständen sehr zufällig und für die Urtheilskraft ohne bestimmtes Princip sein muß.

Um nun gleichwohl die Möglichkeit einer solchen Zusammenstimmung 5 der Dinge der Natur zur Urtheilskraft (welche wir als zufällig, mithin nur durch einen darauf gerichteten Zweck als möglich vorstellen) wenigstens denken zu können, müssen wir uns zugleich einen andern Verstand denken, in Beziehung auf welchen und zwar vor allem ihm beigelegten Zweck wir jene Zusammenstimmung der Naturgesetze mit unserer Urtheilskraft, 10 die für unsern Verstand nur durch das Verbindungsmittel der Zwecke denkbar ist, als nothwendig vorstellen können.

Unser Verstand nämlich hat die Eigenschaft, daß er in seinem Erkenntnisse, z. B. der Ursache eines Products, vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) 15 gehen muß; wobei er also in Ansehung der Mannigfaltigkeit des letztern nichts bestimmt, sondern diese Bestimmung für die Urtheilskraft 349 von der Subsumtion der empirischen Anschauung (wenn der Gegenstand ein Naturproduct ist) unter dem Begriff erwarten muß. Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige 20 discursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Theilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, die unser Verstand 25 bedarf, welcher von den Theilen als allgemeingedachten Gründen zu verschiedenen darunter zu subsumirenden möglichen Formen als Folgen fortgehen muß. Nach der Beschaffenheit unseres Verstandes ist hingegen ein reales Ganze der Natur nur als Wirkung der concurrirenden bewegenden Kräfte der Theile anzusehen. Wollen wir uns also nicht die Möglichkeit 30 des Ganzen als von den Theilen, wie es unserm discursiven Verstande gemäß ist, sondern nach Maßgabe des intuitiven (urbildlichen) die Möglichkeit der Theile (ihrer Beschaffenheit und Verbindung nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen: so kann dieses nach eben derselben Eigenthümlichkeit unseres Verstandes nicht so geschehen, daß das Ganze den 35 Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile (welches in der discursiven Erkenntnißart Widerspruch sein würde), sondern nur daß die Vorstellung eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben 350 und der dazu gehörigen Verknüpfung der Theile enthalte. Da das Ganze nun aber alsdann eine Wirkung, Product, sein würde, dessen Vorstellung als die Ursache seiner Möglichkeit angesehen wird, das Product aber einer Ursache, deren Bestimmungsgrund bloß die Vorstellung 5 ihrer Wirkung ist, ein Zweck heißt: so folgt daraus, daß es bloß eine Folge aus der besondern Beschaffenheit unseres Verstandes sei, wenn wir Produkte der Natur nach einer andern Art der Causalität, als der der Naturgesetze der Materie, nämlich nur nach der der Zwecke und Endursachen, uns als möglich vorstellen, und daß dieses Princip nicht die Möglichkeit 10 solcher Dinge selbst (selbst als Phänomene betrachtet) nach dieser Erzeugungsart, sondern nur die unserem Verstande mögliche Beurtheilung derselben angehe. Wobei wir zugleich einsehen, warum wir in der Naturkunde mit einer Erklärung der Producte der Natur durch Causalität nach Zwecken lange nicht zufrieden sind, weil wir nämlich in derselben die Naturerzeugung 15 bloß unserm Vermögen sie zu beurtheilen, d. i. der reflectirenden Urtheilskraft und nicht den Dingen selbst zum Behuf der bestimmenden Urtheilskraft angemessen zu beurtheilen verlangen. Es ist hiebei auch gar nicht nöthig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur daß wir in der Dagegenhaltung unseres discursiven, 20 der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der 351 Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee (eines intellectus archetypus) geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.

Wenn wir nun ein Ganzes der Materie seiner Form nach als ein Product der Theile und ihrer Kräfte und Vermögen sich von selbst zu verbinden 25 (andere Materien, die diese einander zuführen, hinzugedacht) betrachten: so stellen wir uns eine mechanische Erzeugungsart desselben vor. Aber es kommt auf solche Art kein Begriff von einem Ganzen als Zweck heraus, dessen innere Möglichkeit durchaus die Idee von einem Ganzen voraussetzt, von der selbst die Beschaffenheit und Wirkungsart der Theile 30 abhängt, wie wir uns doch einen organisirten Körper vorstellen müssen. Hieraus folgt aber, wie eben gewiesen worden, nicht, daß die mechanische Erzeugung eines solchen Körpers unmöglich sei; denn das würde soviel sagen, als, es sei eine solche Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen für jeden Verstand unmöglich (d. i. widersprechend) sich vorzustellen, 35 ohne daß die Idee derselben zugleich die erzeugende Ursache derselben sei, d. i. ohne absichtliche Hervorbringung. Gleichwohl würde dieses in der That folgen, wenn wir materielle Wesen als Dinge an sich selbst anzusehen berechtigt wären. Denn alsdann würde die Einheit, welche den Grund der Möglichkeit der Naturbildungen ausmacht, lediglich die Einheit des Raums sein, welcher aber kein Realgrund der Erzeugungen, sondern 352 nur die formale Bedingung derselben ist; obwohl er mit dem Realgrunde, 5 welchen wir suchen, darin einige Ähnlichkeit hat, daß in ihm kein Theil ohne in Verhältniß auf das Ganze (dessen Vorstellung also der Möglichkeit der Theile zum Grunde liegt) bestimmt werden kann. Da es aber doch wenigstens möglich ist, die materielle Welt als bloße Erscheinung zu betrachten und etwas als Ding an sich selbst (welches nicht Erscheinung 10 ist), als Substrat, zu denken, diesem aber eine correspondirende intellectuelle Anschauung (wenn sie gleich nicht die unsrige ist) unterzulegen: so würde ein, obzwar für uns unerkennbarer, übersinnlicher Realgrund für die Natur Statt finden, zu der wir selbst mitgehören, in welcher wir also das, was in ihr als Gegenstand der Sinne nothwendig ist, 15 nach mechanischen Gesetzen, die Zusammenstimmung und Einheit aber der besonderen Gesetze und der Formen nach denselben, die wir in Ansehung jener als zufällig beurtheilen müssen, in ihr als Gegenstande der Vernunft (ja das Naturganze als System) zugleich nach teleologischen Gesetzen betrachten und sie nach zweierlei Principien beurtheilen würden, 20 ohne daß die mechanische Erklärungsart durch die teleologische, als ob sie einander widersprächen, ausgeschlossen wird.

Hieraus läßt sich auch das, was man sonst zwar leicht vermuthen, aber schwerlich mit Gewißheit behaupten und beweisen konnte, einsehen, 353 daß zwar das Princip einer mechanischen Ableitung zweckmäßiger Naturproducte 25 neben dem teleologischen bestehen, dieses letztere aber keinesweges entbehrlich machen könnte: d. i. man kann an einem Dinge, welches wir als Naturzweck beurtheilen müssen (einem organisirten Wesen), zwar alle bekannte und noch zu entdeckende Gesetze der mechanischen Erzeugung versuchen und auch hoffen dürfen damit guten Fortgang zu haben, niemals 30 aber der Berufung auf einen davon ganz unterschiedenen Erzeugungsgrund, nämlich der Causalität durch Zwecke, für die Möglichkeit eines solchen Products überhoben sein; und schlechterdings kann keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr überstiege) die Erzeugung 35 auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen. Denn wenn die teleologische Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen zur Möglichkeit eines solchen Gegenstandes für die Urtheilskraft ganz unentbehrlich ist, selbst um diese nur am Leitfaden der Erfahrung zu studieren; wenn für äußere Gegenstände als Erscheinungen ein sich auf Zwecke beziehender hinreichender Grund gar nicht angetroffen werden kann, sondern dieser, der auch in der Natur liegt, doch nur im 5 übersinnlichen Substrat derselben gesucht werden muß, von welchem uns aber alle mögliche Einsicht abgeschnitten ist: so ist es uns schlechterdings unmöglich, aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für 354 Zweckverbindungen zu schöpfen, und es ist nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens nothwendig, den obersten Grund dazu 10 in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen.

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