Der Ausbruch der Chinawirren 1900 war teilweise verursacht durch die Erbitterung gegen die Missionen. Den frommen Christen daheim schaudert es beim Gedanken, daß es, wenn auch im fernen China, überhaupt Menschen von solcher Verworfenheit geben könne, daß sie dem Missionswesen, dem hingebenden, aufopfernden Liebeswerk abhold sind. Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, in welcher Gestalt die Religion der Liebe dem hochstehenden uralten Kulturvolke entgegentritt. Daß auch im fernsten Osten die konfessionelle Zersplitterung und Konkurrenz fortbesteht, daß jede Sekte behauptet, allein das wahre Christentum zu verkörpern, und die andere verwirft, ist selbstverständlich.
Es existiert eine Anstalt „Oeuvre de la Sainte-Enfance“, die jährlich Millionen zur Taufe und Rettung kleiner Chinesenkinder aufwendet. Im Juniheft ihrer Annalen vom Jahre 1897 heißt es: „Seit 1884 hatten wir das Glück, 20552 kleine sterbende Kinder zu taufen, davon 3558 in diesem Jahre. Alle diese kleinen Engel, werden sie oben nicht wirken, für die Bekehrung des ungläubigen China?“
Im selben Hefte wird von der Hungersnot erzählt, die 1893 Yünnan heimsuchte. Die frommen Mönche des „Oeuvre“ berichten: „Die Vorsehung hat, es ist wahr, unsere Arbeit sehr vereinfacht, indem sie eine große Anzahl unserer kleinen Kinder in den Himmel rief. Diese vorzeitigen Todesfälle, so betrübend in einem christlichen Lande, sind ein Gegenstand der Freude und des Trostes in diesen heidnischen Gegenden.“
Im 21. Heft p. 258 heißt es: „Machen Sie doch einen kleinen Besuch im Hause der unbefleckten Empfängnis in Peking. Sehen sie diese bescheidene Eingangstür? Sie ist dieses Jahr für eine große Anzahl kleiner Brüder und Schwestern die Pforte des Himmels geworden. 873 kleine Kinder wurden uns jedes für 45 Cts. an dieser Pforte gegeben, und davon sind 843 gestorben, nachdem sie durch das heilige Wasser der Taufe wiedergeboren waren.“
Ein anderer Mönch meldet: „Ein Säugling kostet etwa 5 Frs. im Monat. Gewiß, ich flehe zu Gott, daß diese lieben kleinen Seelen uns sobald wie möglich verlassen und zum Himmel fliegen mögen. Aber schließlich, wenn sie schon nicht sterben wollen, muß man sie doch ernähren und aufziehen.“ Ja, die Engelmacherei ist also gar nicht so leicht, wie der Laie in seinem Unverstand glauben mag! Immerhin kann eine dieser Anstalten mit berechtigtem Stolz konstatieren, daß von 12000 ihr anvertrauten Täuflingen nur 124 oder 125 das erste Lebensjahr erreicht hätten!
Der Bischof Quierry beglückwünschte die Missionare dieses „Oeuvre“, wie die gleichen Annalen erzählen, daß sie jedes Jahr mehr als 40000 Kinder in den Himmel schicken!! Und trotzdem konnten sie die Chinesen von der Unübertrefflichkeit des Christentums und seiner Liebeswerke nicht überzeugen. An einem solchen Volke ist allerdings Hopfen und Malz verloren[292].
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Ein alter Farmer „Gottlieb Bleibtreu“ schreibt in den Windhuker Nachrichten einen Aufsatz, in dem er sich über Stolz, Überhebung und Anmaßung der Herero beklagt: „Gibt es nicht soviel zu essen, daß es für Mann und Weib ausreicht, dann ist das erste, worüber geklagt wird, die Kost, und da dies ein Grund der Beschwerde ist, kann sich der Arbeitgeber beim Bezirksamtmann noch einen Nasenstüber holen, falls er Veranlassung nimmt, Gegenbeschwerde zu führen. – Wenn sich nun jetzt schon, wo die Hereros noch Kriegsgefangene sind, diese in alten Sitten und Gebräuchen wurzelnden Anmaßungen in solch brutaler Weise fühlbar machen, wie soll das werden, wenn sie wieder frei und ihr eigener Herr sind? Hier gibt es nur ein Mittel zur Abhilfe, und das heißt in bestimmten Grenzen gehaltener Arbeitszwang.“
Wenn Herr Bleibtreu Gefühlsmensch ist, der die Herero dafür, daß sie für Ausbeutung, die soweit geht, daß sogar die notwendige Nahrung ihnen nicht verabfolgt wird, kein Verständnis haben, auch noch strafen will, so ist das seine Privatsache. Wenn aber die Hamburger Nachrichten am 23. September 1906 ihm völlig beipflichten, so stimmt das doch etwas nachdenklich.
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Im Jahre 1904 erschien eine von einem Herrn Schlettwein verfaßte Broschüre mit folgendem Passus: „Wir stehen mit der Kolonialpolitik am Scheidewege. Nach der einen Seite das Ziel: gesunder Egoismus und praktisches Kolonisieren, nach der andern Seite übertriebene Menschlichkeit, vager Idealismus, unvernünftige Gefühlsduselei. Die Hereros müssen besitzlos gemacht werden. Das Volk muß nicht nur als solches unmöglich gemacht werden, es müssen auch alle das Nationalgefühl erweckenden Faktoren beseitigt werden. Man muß die Hereros zur Arbeit zwingen, und zwar zur Arbeit ohne Entschädigung, nur gegen Beköstigung. Eine jahrelange Zwangsarbeit ist nur eine gerechte Strafe für sie und dabei die einzig richtige Erziehungsmethode. Die Gefühle des Christentums und der Nächstenliebe, mit welchen die Missionen arbeiten, müssen zunächst mit aller Energie zurückgewiesen werden.“
Den Autor dieses Kulturdokumentes berief das Kolonialamt als Vertrauensmann in die Budgetkommission, und man ließ gerade ihn im Lande herumziehen, um für diese Kolonialpolitik Propaganda zu machen.
Herr Schlettwein führte seine Theorie praktisch durch. Wie am 6. März 1907 im deutschen Reichstage festgestellt wurde, zahlte er den in seiner Viehzucht beschäftigten Männern 15 Mark im Monat, den Frauen gar nichts. Die Männer werden verköstigt – ob nach Bleibtreus Beispiel bleibe unentschieden – die Frauen erhalten „Feldkost“ bestehend in Raupen, Fröschen, Heuschrecken, Mäusen und Gras [293]!
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Aus dem Tagebuch des Dr. Vallentin, das im Aprilheft 1894 der „Neuen deutschen Rundschau, Freie Bühne“ veröffentlicht wurde, sei folgendes entnommen: Am 13. 3. 93. Ich erfahre interessante Einzelheiten über den Bakokoaufstand. In den Berichten befinden sich zahlreiche Ungenauigkeiten. Herr Assessor Wehlau, welcher die Expedition führte, soll beim Niederbrennen der Dörfer faktisch befohlen haben, einigen alten Weibern die Hälse abzuschneiden; Männer konnte er nicht gefangen nehmen. Statt der im betreffenden Bericht erwähnten 150 Gefangenen sollen es deren nur 12–15 gewesen sein. Matt, verwundet, halb verschmachtet, zerschlagen und geschunden wurden diese – meist alte Frauen, Greise und Kinder – an Land geschafft und unter Schlägen und Stößen in Ketten zum Gefängnis geführt. Drei sollen am Fuß des Flaggenmastes, unter der wehenden, deutschen Reichsfahne, vor Hunger gestorben sein.
Am 17. 3. 93. Aus dem unter Führung des Assessors Wehlau unternommenen sogenannten „Bakokofeldzuge“ erfahre ich heute wieder verschiedene Einzelheiten. Es soll wirklich grauenhaft gewesen sein. Die Gefangenen sind tagelang in der glühenden Hitze auf dem Schiffe („Soden“) an die Reelings derart festgeschnürt worden, daß in die blutrünstigen und aufgeschwollenen Glieder Würmer sich eingenistet hatten. Und diese Qual tagelang in der Tropenhitze und ohne jede Labung! Als dann die armen Gefangenen dem Verschmachten nahe waren, wurden sie einfach wie wilde Tiere niedergeschossen.
Am 31. 3. 93.... Wahrend meiner Krankheit ist Assessor Wehlau von seinem neuen Feldzuge heimgekehrt. Gefangene hat er nicht mitgebracht. Da sie – so äußerte er beim Essen – hier doch alle stürben, hätte er sie auf dem Schiffe totschlagen lassen (wörtlich: „habe ihnen ’n Paar auf den Kopp geben lassen“). Dann erzählte er weiter: Die Soldaten, namentlich einer, hätten es famos ’raus, den Feinden die Haut über den Schädel zu ziehen. Am Unterkiefer wurde mit dem Messer ein Schnitt gemacht, dann mit den Zähnen angepackt, und der ganze Skalp über Gesicht und Kopf herübergezogen.
Am 4. 5. 93 Gerichtstag, abgehalten von Assessor Wehlau!...
Ein Schwarzer, Aug. Bell, ist beschuldigt, eine Uhr gestohlen zu haben. Er wird vorgeführt. Das erste, was ihm vorgehalten wird, ist: es gibt nur zweierlei Wege, entweder er gesteht, er habe den in Frage stehenden Diebstahl begangen, oder er bekommt 50 Hiebe. Bell sagt aus: „Nein, ich habe die Uhr nicht gestohlen.“ Sofort wurde er abgeführt und erhält 50 Hiebe mit der Rinozerospeitsche. Wieder vorgeführt gesteht er auf weiteres Befragen, daß er die Uhr gestohlen habe. Er wird darauf zu 6 Jahren (schreibe und sage sechs Jahren) Gefängnis, 100 Mk. Geldstrafe und 15 Hieben am ersten Sonnabend jedes Monats verurteilt.
Aug. Bell soll während jener vorerwähnten Verhandlungen ca. 80 Hiebe bekommen haben, sowohl dafür, daß er nicht gleich eingestand, daß er die Uhr gestohlen hätte, als auch wenn er, bei der Niederschrift des Protokolls, die verlangten Antworten nachsprechend, stotterte. Was aber 80 Hiebe an einem Nachmittag zu bedeuten haben, das kann nur der in vollem Umfange ermessen, der jemals einer derartigen Prozedur beigewohnt hat. Ein rohes, gehacktes Beefsteak ist nichts dagegen.
20. 6. 93... Es sind nach dem Berichte drei Gefangene gehängt worden. In Wirklichkeit hat Assessor Wehlau dieselben der Wollust der Soldaten preisgegeben, und diese haben die drei Leute regelrecht abgeschlachtet. Maschinist Gebhardt von der „Nachtigall“ schildert diesen Vorgang folgendermaßen: „Die Schwarzen wurden mit Messern zerschnitten, zerhackt und verstümmelt, da Assessor Wehlau den Befehl gegeben hatte, die Gewehre beim Töten nicht zu gebrauchen.
Am 18. 8. 93 abends hat der stellvertretende Gouverneur Kanzler Leist sich aus dem Gefängnis drei Weiber holen lassen (Kassenverwalter Hering sagte es mir am selben Abend) und dieselben über Nacht bei sich behalten – darunter die schöne Ngombe, Tochter des Ekwe Bell. Am nächsten Morgen sind die Weiber ins Gefängnis zurückgeschickt worden; Ngombe wurde mit einem Geschenk von 5 Mk. bedacht...
Am 2. 10. 93. Vergangene Nacht wurde ich durch lauten Lärm im Gefängnis aus dem Schlafe geweckt (ca. ½-12 Uhr nachts). Als die Stimmen immer lauter wurden ging ich hinaus und sah einen Polizeigehilfen im heftigen Wortwechsel mit drei andern Schwarzen, von denen einer so angezogen war, wie die Boys des Kanzlers Leist, die an ihren roten Hüfttüchern erkenntlich sind. Auf mein Befragen wurde mir mitgeteilt, daß der „Governor“ (Leist) ein Weib aus dem Gefängnis holen ließe. Ich legte mich ärgerlich zu Bette, konnte aber wegen des immer mehr anwachsenden Lärmes innerhalb des Gefängnisses, aus dem es wie Weibergeheul und scheltende männliche Stimmen ertönte, nicht einschlafen; ich begab mich daher auf die Veranda, wo ich schon den Kassenverwalter Hering traf. Beide sahen wir jetzt, wie ein Weib unter Sträuben und Schreien von drei Schwarzen in der Richtung zum Kanzlerhause hinweggeschleppt wurde. Um ca. 4 Uhr nochmals Lärm im Gefängnis! Am nächsten Morgen stellte ich mich, als ob ich von nichts wüßte, fragte einige Schwarze über die Ursache des Getöses in der Nacht aus und erhielt zur Antwort: The Governor want a woman for usw. Der Schluß läßt sich denken.“
Soweit das Tagebuch Dr. Vallentins in Auszügen.
Wie wurden nun die Kulturträger bestraft? In der Gerichtssitzung vom 7. Januar 1896 vor der kaiserlichen Disziplinarkammer wurde festgestellt, daß die Tötung der drei Gefangenen keine Amtsverletzung sei, da sie im Kriegszustande erfolgte, dagegen sei die grausame Art der Ausführung als Amtsverletzung anzusehen. Korvettenkapitän Becker hatte vor Gericht bekundet, daß in Kamerum allgemein üblich sei, den Gefangenen die Köpfe abzuschneiden. Wenn das nicht geschehe, werde es von den Eingeborenen als Feigheit bezeichnet.
Die Strafe gegen Wehlau lautete auf Versetzung in ein anderes Amt von gleichem Range, auf eine Geldstrafe von 500 Mk. und Tragung der Gerichtskosten[293]!
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Paul Rohrbach, von 1903–1906 Ansiedlungskommissar in Südwestafrika, stellt in seinem Buche „Deutsche Kolonialwirtschaft“ fest, daß man Herero, die sich auf die Zusicherung der Straffreiheit stellten, niederschoß. Im Kongostaate herrschte nach dieser Quelle noch im Jahre 1907 die alte Praxis des Händeabhackens, des Zusammenschießens und Niederbrennens der Dörfer wegen ungenügender Kautschuklieferung. Und zwar unter direkter Teilnahme der weißen Beamten!
Da solche Fälle in den Kolonien aller Nationen, besonders der Franzosen, Engländer und Niederländer an der Tagesordnung sind und, wie die Greuel im Kongostaate, wo ein ausdrückliches Reglement verordnet, daß die aus der Verbindung eines Weißen mit einer Negerin entspringenden Kinder „Eigentum“ des Staates sind[294], lehren, noch heute stattfinden, sind sie von symptomatischer Bedeutung für die Art, in der die christlichen Völker Europas ihr Amt, den Eingeborenen Kultur zu vermitteln, handhaben. Da hier nur Kulturvölker Berücksichtigung finden, müssen wir über die Greueltaten der Russen sogar gegen eigene Landsleute hinweggehen.
Die Grausamkeiten und Plünderungen der verbündeten Nationen im Chinakriege 1900 sind noch in aller Erinnerung[295].