Ein Heldengemetzel.

Unter den von Guslaren vorgetragenen Volkliedern, ist die Zahl derjenigen Lieder, die einen mythischen Hintergrund haben, oder in die Gestalten und Gebilde des Volkglaubens hineinragen, verhältnismässig sehr bescheiden, wenn man vom Standpunkte nüchterner Volkforschung die Erzählungen so nimmt, wie sie vom Volke selber verstanden und aufgefasst werden und sich scheut, mythologischen Krimskrams der durchsichtig einfachen Volkanschauung künstlich zu unterschieben. Der seinem Grundzuge nach aufs Gemüt beängstigend wirkende Volkglaube der Südslaven mochte die Guslaren abhalten, ihn darzustellen. Eine kleine Ausnahme machten sie wohl mit den Vilen, den Holz- und Moosfräulein. Die Vilen gehören zur grossen Sippe der Baumseelen und Waldgeister, die international sind1. In den Guslarenliedern ist den Vilen nur eine untergeordnete Rolle zugeteilt. Sie erscheinen meistens als dii ex machina, um ihren Lieblingen zu helfen, sei es durch Rat oder Tat. Als Waldgeister hausen sie nicht bloss in Bäumen, sondern auch in Felsen und Wolken. Sie sind gute Schützen und ihre Pfeile (Sonnenstiche) wirken tödlich, aber sie vermögen auch als Ärztinnen die Getöteten wieder zum Leben zu erwecken. Fällt man einen Baum, so tötet man eine Vila, die im Baume haust. Die vom Baum losgelöste Vila ist aber auch sterblich. Ein kühner Held kann ihr das Leben nehmen. Dies ist älterer ursprünglicherer Glaube, wie er noch als Überlebsel in Guslarenliedern vorkommt.

Nachfolgendes Lied ist aus zwei Teilen lose zusammengestellt. Die Einleitungzeilen 1–23 stehen in keinem inneren sachlichen Zusammenhange mit der eigentlichen Erzählung, sind aber keineswegs überflüssig. Ein abendländischer Epiker hätte das Bild einer grossartigen Hochgebirglandschaft entworfen, um den Hintergrund für die Begebenheit zu schaffen. Der Guslar erzielt den gleichen Erfolg bei seinen bäuerlichen Zuhörern durch Erwähnung der Vilen, denen er glücklich eine kurze Charakteristik der auftretenden Helden in den Mund legt.

Die Fabel behandelt einen Kampf um nichts, ein furchtbares Gemetzel um einige Tropfen verschütteten Weines. So ist der Südslave seit jeher gewesen und so zeigen sich auch die slavischen Balkanstaaten in der Gegenwart. Die Politiker nennen den Balkan den Wetterwinkel Europas. Man hat von dort manche politische Überraschung erlebt, für die man sich keine Erklärung zu geben weiss. Man höre den Guslaren und seine Lieder, dann wird man auch den Südslaven verstehen.

Vile znadu za junački pokolj. Von Vilen, die ein Heldengemetzel ansagen.
Vila vile iz planine viče: Es hallt der Vila Jauchzen aus den Alpen:
— Der porani rano sestro vilo, — Mach früh am Morgen auf dich Schwester Vila
nek s u jutra trepiš kod jezera. und find dich ein am See am frühen Morgen.
Jer su dvije omrknule guje; Zwei Nattern haben sich zu Nacht gelagert;
5 sutra će se dvije poklat guje. zwei Nattern werden morgen sich zermartern;
Da vidimo sestro moja draga lass zu uns schaun, o meine liebste Schwester,
a koja će nadaklati guja. wer von den zween zu Tod die andre martert!
Jedna guja ot Senja Ivane Die eine Natter heisst Johannes Zengger,
a druga je ot krajine Mujo; die andere Natter Mustapha der Grenzer;
10 u svakoga po tridest drugovâ. ein jeder führt mit sich je dreissig Mannen.
Jedna guja Tanković Osmane Held Osman Tanković die eine Natter,
a druga je Komjen bajraktare. die andre Natter ist der Fähnrich Komjen;
Jedna guja Petar Mrkonjiću Held Peter Mrkonjić die eine Natter,
a druga je kovačina Ramo. die andre Natter ist der Grobschmied Ramo.
15 Kada vila riječ oćutila. Als dieses Wort erlauscht die andre Vila,
onda vila vili odgovara: so jauchzte sie zurück der Alpenvila:
— Sestro moja is planine vilo, — O meine Schwester, Vila aus den Alpen!
kad je tude Komjen bajraktare weilt mit den Kämpen dort auch Fähnrich Komjen,
ja se živa ni maknuti ne ću. bekommt mich niemand in die Näh’ lebendig.
20 Komjen vata po planini vile, Held Komjen pirscht im Hochgebirg auf Vilen,
žive davi po planini vile, er würgt lebendige Vilen im Gebirge;
obe bi nas sutra ujitio, er fing uns morgen früh ein alle beide,

obe bi nas Komjen udavio!

es tät uns beide Komjen gleich erwürgen!

Kad u jutro jutro osvanulo, Am Morgen früh im frühen Morgengrauen
25 sio Ivan, pije kod jezera, am Wein sich labend sass am See Johannes,
a eto ti na gjogatu Muje; da naht schon Mustapha auf falbem Zelter
za njim igje tridest krajišnikâ. und dreissig Grenzer bilden sein Geleite.
U Ivana puna čaša bila. Johannes hält ein volles Glas in Handen.
Mujo trže andžar ot pojasa Da zieht den Handžar Mustapha vom Gürtel
30 pa mu djerka čašu u šakama. und stichelt ihm das Glas in seinen Handen.
Na njeg Ivan oči izvalio: Johannes blickt ihn an mit grimmigen Augen:
— Prolićeš mi čašu u šakama — Du wirst den Trunk aus meiner Hand vergiessen,
pa ć is tebe crnu prolit krfcu! drauf werd’ ich dir dein schwarzes Blut vergiessen!
Mujo proli čašu u šakama. Den Trunk vergoss ihm Mustapha aus Handen.
35 Skoči Ivo, uzjaši dorata; Johannes sass im Sprung auf seinem Braunen.
potegoše tanke savitice, Sie zogen blank die dünnen, krummen Schwerter;
zamahnuo jedan na drugoga es schwingt das Schwert der eine gen den andren,
a nijedan ošinut ne smije. den Hieb zu führen, das getraut sich keiner.
Kada vidje Komjen bajraktare, Als Fähnrich Komjen dieses Spiel gewahrte,
40 on poteže mača ledenika so zog er seinen Venezianer-Säbel,
pa ošinu ot krajine Muju, gab einen Hieb dem Mustapha, dem Grenzer
osječe mu sa ramena glavu! und schlug ihm ab das Haupt von seinen Schultern.
Htjede njega Tanković Osmane, Drum wollte Osman Tanković ihn töten;
ne dade mu ot Senja Ivane. den Hieb parierte flugs Johannes Zengger,
45 On ošinu Tanković Osmana, er liess das Schwert auf Osman niedersausen
grdne mu je rane učinio; und schlug ihm grausig Wunden über Wunden.
naže Osman bježat nis planinu. Da floh Held Osman eiligst Alpen abwärts.
Htjede Ivu kovačina Ramo, Nun wollte Ramo den Johannes töten,
ne dade mu Petar Mrkonjiću. doch Mrkonjić parierte seinen Ausfall;
50 Petar šinu kovačinu Ramu er schwang das Schwert, er traf den Grobschmied Ramo
po po pasa gje ne dade glasa. inmitten auf den Gürtel; stumm und lautlos
Dvije pole u travu padoše! zwei Körperhälften in den Rasen sanken.
Sastadoše društvo obadvoje. Nun griffen beiderseitig ein die Mannen;
Ko bi bližji izgubio glavu wer näher stand, bezahlte’s mit dem Haupte,
55 a tko dilji salamet ujiti wer ferner stand, der fand in Flucht die Zuflucht,
pa pobiže kroz goru zelenu. der floh davon durchs grüne Waldgebirge.
Bjeganova ne plakala majka! Feldflucht erspart den Müttern Gram und Zähren!

Zu V. 3. jutra für jutro. Dieses a ist auf die verschwommene Aussprechweise des Guslaren zurückzuführen.

Zu V. 8 ff. Johannes von Zengg im Küstenlande, Peter Mrkonjić und Komjen der Fähnrich sind christliche Helden, Mustapha Hasenscharte (Hrnjica) zubenannt, war der Burgherr von Alt-Kladuša in der Lika, Tanković Osman und Ramo der Schmied moslimische Ritter aus Udbina in der Lika. Mustapha ist Osmans Vetter gewesen; alle diese Herren werden sowohl in den Liedern christlicher und moslimischer Guslaren unzähligemal genannt. Sie lebten beiläufig um die Zeit von 1620–1680.

Die Bezeichnung guja (Natter) für einen grimmigen Helden ist in Guslarenliedern allgemein üblich. Stereotyp ist die Wendung: ljuće guje u krajini nema (eine giftgeschwollenere Natter gibt es nicht mehr im Grenzland, scl. der Türken), wenn jemand als ausgezeichneter Held charakterisiert werden soll. Im gewöhnlichen Leben gilt ‘guja’ als ein böses Schimpfwort für einen heimtückischen Menschen.

In V. 4 und 5 spricht die Vila nur von zwei Nattern oder Helden, dann aber zählt sie drei Paare auf. Der Widerspruch besteht nur für uns, nicht aber für die Zählungweise des Bošnjaken, der hier nur mit je einem Paar rechnet. In diesem Falle hängt dies mit der Kampfweise der Südslaven zusammen. Wenn sich zwei schlagen, so schauen alle übrigen gelassen zu und greifen erst im letzten Augenblick ein, um die Entscheidung herbeizuführen. Komjen hat hier durch seinen vorzeitigen Eingriff gegen die südslavische Kampfregel gefehlt und dadurch das Gemetzel heraufbeschworen.

V. 20. Die Jagd auf Vilen ist ein Sport halbmythischer christlicher Helden, des Prinzen Marko, des Komjen und anderer. Diese Helden sind mit Vilen wahlverschwistert, haben ihnen Zauberkünste abgeguckt und meistern dadurch selbst die Lehrmeisterinnen.

V. 20 und 25. Die Führer erscheinen gewöhnlich an der Spitze von 30, bei einem Raubzug von 300 Mannen. Das sind beliebte runde Zahlen, so auch 1000, 3000, 100 000 und 300 000.

V. 30. Mustapha erlaubt sich zu scherzen, doch Johannes will den Scherz des Moslims nicht verstehen. Da, wie stillschweigend vorauszusetzen ist, Reich- und Landfrieden herrschte, hätte es sich geschickt, dass Johannes dem Helden Mustapha einen Trunk angeboten. Daran will ihn Mustapha erinnern. Es verdriesst ihn, dass ihn sein Grenznachbar nicht einmal mit einem Schluck Weines ehren mag.

V. 40. ledenik durch Volkdeutung (eiskalt) aus vedenik entstanden, welches Wort auf venedik (Venedig) zurückzuführen ist.

V. 51. Wir nennen nach Uhland einen solchen Streich einen Schwabenstreich. Zur Ausrüstung eines Helden gehört auch »ein Damaszenersäbel«, »der den Reiter in Panzerrüstung zu Ross und das Ross unterm Reiter auf einen Hieb durchsäbelt«.

V. 55. salamet vom arab. selamet, Gesundheit, Heil, Friede, Rettung, Erlösung.

V. 57. Sprichwort und stereotyp. Vrgl. Krauss im ‘Smailagić Meho’, Ragusa 1885, S. 60, zu V. 1915.

Der Guslar dieses Liedes ist mein schon öfters gerühmter Reisebegleiter Milovan Ilija Crljić Martinović aus Gornji Rgovi am nördlichen Abhang der Majevica in Bosnien.

1 Über Vilenglauben bei Krauss in: Die vereinigten Königreiche Kroatien und Slavonien. Wien 1889. S. 123–130. Eine eingehendere Beleuchtung in »Volkglaube und religiöser Brauch der Südslaven«.

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