Guslarenlieder

Zur Einführung.

Indem ich daran gehe, Guslarenlieder meiner Sammlung mitzuteilen, muss ich zunächst einige Bemerkungen zur allgemeinen Einführung vorausschicken. Guslarenlieder behandeln grösstenteils geschichtliche Ereignisse, kriegerische Verwicklungen, entsprechende Sagenstoffe, zum kleineren Teil Legenden, Märchen und sonst unblutige Begebenheiten aus dem Leben und Streben hervorragender Gestalten der Überlieferung. Verwandlungen (Metamorphosen), scherzhafte und witzige Erzählungen sind dieser gehobenen, epischen Gattung abartig. Die Guslarenlieder sind ihrer Entstehung, der äusseren Form nach Gebilde ziemlich jungen Ursprungs. Die ältesten besungenen, geschichtlichen Vorkommnisse reichen vielleicht ins XIII. und XIV. Jahrhundert zurück. Der eigentlich so zu sagen pragmatisch-historische Teil der Überlieferung bekümmert uns Folkloristen und Ethnologen selten oder gar nicht. Wert haben jedoch die darin besprochenen Sitten, Bräuche, Gewohnheitrechte und religiösen Vorstellungen, die sich oft aus einer weit hinter jeder slavischen Staatenbildung liegenden Zeit von Geschlecht auf Geschlecht vererbten und vererben mussten, weil sie einer eigentümlichen sozialen Gliederung entsprossen und mit Rechtgewohnheiten innig verknüpft waren. Daher kommt es häufig, dass uns die Fabel eines Liedes kalt lässt, der eine und andere Brauch oder Glaubenszug — die eingewobene Episode — aber als ein untrügliches Zeugnis für eine uralte (primitive) Anschauung und Rechtübung nachhaltig zu fesseln vermag.

Man soll mich nicht einer übertriebenen Bewertung der Guslarenlieder als eines Borns des ältesten und verbürgtesten slavischen Glaubens und Rechtes zeihen. Ich bin weder der erste noch der einzige, der zur Überzeugung gelangt ist, dass das Slaventum keine ehrwürdigeren, wichtigeren und ergiebigeren Fundstätten für eine Erkenntnis seines Volktums aufzuweisen hat, als es die epischen Überlieferungen, die Guslarenlieder der Serben und Bulgaren sind. Das war auch Maciejowskis Ansicht, eines Mannes, der wie wenige vor ihm, neben ihm und nach ihm in den Geist des Slaventums eingedrungen war. Er kannte freilich nur erst einen geringen Teil dieser Literaturgattung — dies Wort sei mir erlaubt, — und die Bylinen der Russen, wie die Dumen der Kleinrussen berücksichtigt er auch zu wenig, aber zu urteilen war er berechtigt, wenn sonst einer. Er nennt die serbische Guslarenepik eine unvergleichliche Quelle, wie sich einer solchen kein anderes slavisches Volk berühmen könne.1 Dabei lagen ihm erst nur vier Sammlungen vor, von denen er bei der Beschaffenheit seiner Sonderstudien nur einen bescheidenen Gebrauch machen konnte. Nach einer fünfzigjährigen, rastlosen Durchforschung aller erreichbaren altslavischen, geschriebenen Urkunden, gesteht er gepressten Gemütes die Unzulänglichkeit seiner Arbeiten ein und setzt seine Hoffnung für eine gedeihliche Weiterführung und Vertiefung seiner Untersuchungen auf die Tätigkeit seiner Nachfolger, die Sitten und Bräuche der Slaven erforschen werden.2 Meine zwar auch nicht vollständige Handbibliothek gedruckter serbischer und bulgarischer Guslarenliedersammlungen zählt sechzig Bände, und auf jeden kommen durchschnittlich 5400 Verse. In verschiedenen Zeitschriften, Jahrbüchern und Bauernkalendern finden sich auch noch gehäuft 40 000 Verse vor. Ausserdem besitze ich meine eigenen, bis nun ungedruckten Sammlungen (172 000 Zeilen), die ich aus kritischen Erwägungen als belangreicher für die Wissenschaft erachte, denn alles, was anderweitig bis zur Zeit von dieser Art dargeboten worden ist. Es sind mir für meine speziellen Monographien in runder Zahl an Guslarenliedern 500 000 Zeilen zu Handen, so dass ich mir für eine Menge bedeutender und unbedeutender Fragen hinsichtlich des slavischen Volktums zuverlässige Belehrung aus überquellendem Füllhorn holen kann.

Ich glaube durch meine bisherigen Veröffentlichungen den Nachweis erbracht zu haben, dass die Guslarenlieder nicht bloss ein spezifisch slavisches Publikum interessieren mögen, sondern geeignet sind, auch die Aufmerksamkeit aller nichtslavischen Volk- und Völkerkundigen in hohem Masse auf sich zu ziehen. Kein geringerer als Friedrich von Hellwald, ein gewiss stimmbefugter und unverdächtiger Beurteiler, schrieb einmal mit Bezug auf mein Buch ‘Sitte und Brauch der Südslaven’ (Wien 1885): »Bei den Slaven zeigt sich das Patriarchat lange noch nicht so fortgeschritten, wie bei den Griechen und Römern. Eben deshalb geziemt es, jene östlichen Völker vor diesen zu studieren. Es wird sich dabei herausstellen, wie haltlos die Annahme jener ist, welche die im klassischen Altertum vorgefundenen Familienzustände, ohne alle Rücksicht auf die vergleichende Völkerkunde, als die ursprüngliche darzustellen lieben«.3 Nicht minder beziehungreich äusserte sich ein Post4: »Die neuerdings von Krauss (Sitte und Brauch der Südslaven 1885) gesammelten südslavischen Gewohnheitrechte sind universalrechtgeschichtlich von höchstem Interesse. Sie repräsentieren eine Stufe in der Rechtentwicklung, welche wir sonst nur bei ganz tiefstehenden Völkern antreffen. Wir finden fast alle Erscheinungen des reinen Geschlechterrechtes, eine vollständige Geschlechterverfassung gestützt auf Hausgemeinschaften« usw. usw.

Gerade für alle diese wichtigen ethnologischen Grundprobleme sind die Guslarenlieder die lauterste Quelle. Aber ebenso muss ihnen auch in ausschliesslich folkloristischen Dingen jeder unbefangene Forscher einen gleich weitgehenden Vorrang im Verhältnis zu den homerischen Gesängen (schon des Umfanges halber), zu den Bylinen, Dumen, den finnischen, turkotatarischen und malaischen Epen zugestehen. Eine Slavistik des zwanzigsten Jahrhunderts dürfte hauptsächlich auf der Unterlage der Guslarenlieder fussen, sofern es ihr gelingen sollte, die Fesseln einer überkommenen unfruchtbaren, aprioristischen Methode abzustreifen, und das Studium meiner gesammelten Aufzeichnungen wird voraussichtlich einmal zu einer unabweislichen Beschäftigung der Volkforscher gehören.

Es wäre verkehrt zu glauben, dass alle Südslaven oder auch nur ein namhafter Bruchteil des Serben- und Bulgarenvolkes mit den Guslarenliedern halbwegs vertraut sei. Das ist durchaus nicht der Fall. Die mit Schulbildung erzogene Schichte der Bevölkerung, die einer intimen Kenntnis der Mundarten in ihren Verästelungen ermangelt, versteht auch nur zum kleineren Teil solche Texte, mitunter, wenn es gut geht, bloss in groben Umrissen das Geschehnis der Fabel. Sind doch sogar die wenigsten Guslaren immer in der Lage, einzelne Worte und Wendungen ihrer von alterher übernommenen Gesänge oder vollends eingestreute Survivals von Sitten und Gebräuchen zu deuten und ansprechend auszulegen. Der Liedervorrat des einzelnen Guslaren ist ja gewöhnlich nicht allzugross, und der Guslar ist kein Forscher. Dem südslavischen Durchschnittleser ergeht es mit Guslarenliedern nicht um vieles besser als einem deutschen Spiessbürger, dem man die Interpretierung der Epen eines Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Strassburg zumutete.

Die grenzenlose Begeisterung für und die stimmungvolle, heilige Weihe bei Anhörung von Guslarenliedern, die mancher Sammler in der Vorrede seiner Ausgabe als beim Volke vorhanden angibt, ist lediglich einfältiger Selbsttrug. Der Ackerbauer und Viehzüchter, der Handwerker und Hausierkrämer, der Holzfäller und der Flösser und vollends der Städter gehen (sachte, sachte) ihrem Erwerb und Beruf nach, ohne sich um Heldentaten zu bekümmern. Sind sie einmal gut oder nicht zu schlecht aufgelegt, singen sie zu eigenem oder anderer Leute Zeitvertreib lyrische Lieder oder lügen einander sonst was vor. Die meisten Dichter der Guslarenlieder älterer Zeit sind in der Gefolgschaft der abenteuernden Rottenhäuptlinge und Burgherren zu suchen, in den Kreisen ritterlicher Herrschaften und der Vertreter der Volkmiliz; in einer also nicht unbestimmbaren Schichte des Volkes ist die Heimat des Guslarenliedes. Leute von kriegerischen und dichterischen Neigungen lernen am liebsten diese Art alter Überlieferungen und verbreiten sie wieder. Bei geselligen Zusammenkünften hört einem Guslaren zuweilen ein Dutzend Männlein und Weiblein, armes Bauernvolk mit den halbwüchsigen Kindern, nicht ungerne zu, um sich zu zerstreuen, doch bei alledem ist der Guslar in gemischter Gesellschaft so gut wie nie die Hauptperson. Sozial nimmt der Guslar vermöge seiner Kunst der Rezitation keinerlei ausgezeichnete Stellung ein; er galt doch nur in der kriegerischen Rotte etwas, die sich mit ihrem Häuptling im Andenken nachfolgender Geschlechter verewigt wissen mochte. Um solchen Anspruch auf Nachruhm zu erlangen, begingen die Helden mancherlei Schauertaten; das erklären mit dürren Worten nicht wenige Kämpen selber in Guslarenliedern.

Guslen, das Fiedelwerkzeug, nicht aber ein professioneller Guslar — von Beruf Guslar ist nur ein Landstreicher — gehörten jedenfalls zur Ausrüstung einer auf Abenteuer ausziehenden Rottschaft, wie nicht minder zum Hausgerät in einer Hausgemeinschaft. Das Faullenzen und Tagvergeuden muss man, um des behaglichen Tunichtsgefühles bewusst froh zu werden, durch die Erweckung entgegengesetzter Vorstellungen von Kämpfen und Plagen, von Not und Lebensgefahren wohltätig zu unterbrechen wissen. Das Spiel zu den Guslen und der Vortrag erfordern weder eine nennenswerte musikalische noch eine dichterische Begabung. Wer nicht halb taub ist, kann leicht den Guslarentakt — einen Takt für einen ganzen Vers in ständig gleicher Wiederkehr — fiedeln und zum Vortrag braucht er nebst gesunden, kräftigen Lungen nur ein Gedächtnis für die Lieder zu haben, die er einmal oder mehrmal mit angehört; zu Neudichtungen schliesslich bloss eine gewisse Beherrschung eines allgemein feststehenden Vorrates an epischen Phrasen und sich häufig wiederholender Schilderungen von Situationen und Örtlichkeiten, Schmuck und Gewaffen. So kann einer mit Anwendung der üblichen Technik leicht irgend eine neue Begebenheit in gewohnter epischer Darstellung und Einkleidung wiedergeben.

Diese Tätigkeit war in der Regel zu wenig auffällig und künstlerisch bedeutsam, als dass der Guslar daraufhin einen besonderen Rang, sei es in der Rotte oder einer Familiengenossenschaft, für sich hätte in Anspruch nehmen dürfen. Kurzum, Guslen waren vorhanden und zu deren Gewinsel durfte, wer dazu Lust und Liebe empfand, ein Lied vorheulen und vorquieken, und mochte es auch nur ein Besucher sein. Goljan kam aus Nikšići zu seinem Vetter, dem Häuptling Matelja ins Gebirge, beklagte sich bei ihm über die hohen Steuern, die der Paša vom Volke eintreibe pa uzeše gusli javorove, und nahm zur Hand aus Ahornholz die Guslen, sta uz gusle Goljan popijevat: und zu den Guslen hub er an zu singen: A gje ste mi sokolovi sivi? usw. Wo seid, Ihr grauen Falken, mir geblieben? usw.

Eine Aufstellung bestimmter Gruppen von Guslarenliedern vermeide ich aus formellen und stofflichen Rücksichten. Für unseren Bedarf reicht der Terminus Guslarenlied aus. Fauriel verzeichnet für die Neugriechen den Ausdruck κλεφτικὰ τραγοῦδια, den Müller unpassend mit ‘Räuberlieder’ verdeutscht.5 Im Serbischen und Bulgarischen entspräche dem griechischen volktümlich nicht etwa hajdučke, sondern junačke pjesni: Lieder, die von Helden handeln, doch ist diese Bezeichnung nur in der serbischen Literatur, nicht in der Volksprache gewöhnlich. Das Volk sagt guslarske pjesni, Guslarenlieder, ohne die zu Guslen vorgetragenen Stücke ihrem Inhalte nach irgendwie genauer auseinanderzuhalten. Eine Einteilung der epischen Erzählungen in besondere Gruppen entsprach keinem Bedürfnisse und wäre ohne viele Worte und Beispielsammlungen kaum durchzuführen gewesen. Die einschlägigen, durchweg schablonenmässigen Versuche halb-, viertel- und ganz eingebildeter Sammler und Literaturgeschichtenerzeuger vertragen keine ernsthafte Erörterung.

Es ist nicht viel mehr als ein leidiges Vorurteil, das manche unserer Fachgenossen gegen die Lektüre dieser Lieder einnimmt. Ich räume ein, dass der ästhetische Genuss, den sie einem gewähren, oft fragwürdig sein mag und dass die sprachliche Erfassung des Sinnes mancher Stellen im Original bei dem Mangel guter Wörterbücher hie und da beträchtliche Schwierigkeiten bereitet. Nun ist aber eine sprachwissenschaftliche von unserer folkloristischen Bemühung unzertrennlich, ob es sich um dieses oder jenes Volk handelt, und jeder Folklorist muss auch bestrebt sein, jedem gerichtlich beeideten Draguman ein Paroli biegen zu können, indem er seine jeweiligen, dem Verständnis der Fachgenossen minder leicht zugänglichen Texte in eine ausgebreitete und gut bekannte Schriftsprache übersetzt. Eine gediegene Übertragung wiegt in der Regel für den Sachverständigen einen halben Kommentar auf. Nachdem durch solche Art von Darbietungen einer grösseren Zahl von Mitstrebenden die Beschäftigung mit den aufgefundenen Stoffen erleichtert wird, nimmt ein weiterer Kreis von Denkern an der Forschung Anteil und es mehren sich die wissenschaftlichen Ergebnisse. Unbedingt entrückt man hiedurch Beiträge zur Volk- und Völkerkunde der widerwärtigen nationalen, patriotischen und kirchturmpolitischen Ausschrotung und macht sie auf allein würdige Weise für die Wissenschaft vom Menschen nutzbar, die keinerlei willkürliche und Zufallgrenzen anerkennt.

1 Waclaw Alexander Maciejowski: Historya prawodawstw słowiańskich. Warschau 1856–1864. I, 26 und II. 376: Żadnego ludu słowiańskiego nie są tyle co serbskiego pieśni ważne. Toż samo należy powiedzieć o pieśniach ludów z Serbami jedno niegdyś państwo stanowiących. Z tych znowu pieśni bolgarskie na wielką zaslugują uwagę.

2 W. A. Maciejowski III. p. IV: Zrobiwszy co mogłem, zostawiam następcy svemu rzecz poprowadzić daléj, badać zwyczaj i obyczaj, i przy pomocy dziejów wnikać przez oba w ustawę i statut.

3 Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Leipzig 1888, S. 501.

4 Dr. Albert Herm. Post: Über die Aufgaben einer allgemeinen Rechtwissenschaft. Oldenburg und Leipzig 1891. S. 123 f.

5 Neugriechische Volklieder gesammelt und herausgegeben von C. Fauriel, übersetzt und mit des französischen Herausgebers und eigenen Erläuterungen versehen von Wilhelm Müller. Leipzig 1825. 2 Teile, I. XXXV.

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