Erster Teil

Im Waggon, der gegen Morgen etwas leerer geworden war, wurde es immer heller; durch die beschlagenen Fenster sah man auf Wiesen hinaus, deren Gras fast giftgrün war, trotzdem der August sich schon zu Ende neigte, aufgeweichte Wege schlängelten sich ins Land, Milchfrauen mit ihren Wagen warteten vor einem herabgelassenen Schlagbaum, Bahnwärterhäuschen und die bunten Sonnenschirme spazierengehender Sommerfrischlerinnen huschten vorüber. Auf den häufigen und einförmigen Haltestellen begannen neue Vorortspassagiere mit Ledermappen unter dem Arm den Wagen zu füllen, und man sah, dass der Waggon, die Fahrt, für sie keine Epoche, nicht einmal eine Episode des Lebens bedeuteten, sondern der gewohnte Teil eines täglichen Programmes waren, und die Bank, auf der Nikolai Iwanowitsch Smurow mit Wanja sass, schien die wichtigste und bedeutungsvollste des ganzen Wagens. Die festverschnürten Handkoffer, die Porteplaids mit den Kissen, der gegenübersitzende alte Herr mit dem langen Haar und der unmodernen Reisetasche über der Schulter, das alles sprach von einer weiteren Fahrt, von einer weniger gewöhnlichen, mehr epochemachenden Reise.

Wanja sah auf den rötlichen Sonnenstrahl, der sich unruhig durch die Rauchwolken der Lokomotive brach und hin und wieder über das dummerhaft scheinende Gesicht des schlafenden Nikolai Iwanowitsch glitt, ihm fiel dabei die knarrende Stimme dieses selben Vetters ein, der ihm dort, weit, „zu Hause“, gesagt hatte: „Geld hat Mama dir keins hinterlassen; du weisst, wir sind selbst nicht reich, aber, als dein Vetter bin ich bereit, dir zu helfen; du hast noch lange zu lernen, zu mir kann ich dich nicht nehmen, ich werde dich zu Alexej Wassiljewitsch in Pension geben und dich besuchen; dort geht es lustig her und man kann dort viele nützliche Leute treffen. Gib dir Mühe; wir wären mit Natascha gern bereit dich zu uns zu nehmen, aber es geht unmöglich; und du selbst wirst es bei Kasanskis heiterer haben: dort gibt es immer junges Volk. Ich werde für dich zahlen; wenn wir die Erbschaft teilen werden, ziehe ich meine Auslagen ab.“ Wanja sass im Vorzimmer auf dem Fensterbrett und hörte zu, dabei betrachtete er die Sonne, die eine Ecke des Koffers, die grau und lila gestreiften Hosen Nikolai Iwanowitschs und die gestrichene Diele beleuchtete. Er gab sich keine Mühe den Sinn der Worte zu verstehen und dachte wie seine Mutter gestorben war, wie plötzlich das ganze Haus sich mit Weibern gefüllt hatte, die früher ganz fremd gewesen und jetzt ungewöhnlich nahe zu stehen schienen, er erinnerte sich an alle die Besorgungen, die zu machen waren, die Seelenmessen, die Beerdigung, und ihm fiel ein, wie es plötzlich, nachdem alles vorüber gewesen, leer und öde geworden und ohne Nikolai Iwanowitsch anzusehen, wiederholte er nur mechanisch: „Ja, Onkel Kolja,“ obgleich Nikolai Iwanowitsch gar nicht sein Onkel, sondern nur ein Vetter von ihm war.

Und jetzt schien es ihm sonderbar mit diesem trotz alledem ganz fremden Menschen zusammen zu reisen, sich so lange in seiner Nähe aufzuhalten, sich mit ihm über seine Angelegenheiten zu unterhalten, Pläne zu machen. Und er war etwas enttäuscht, obgleich er es schon früher gewusst hatte, dass man bei der Ankunft in Petersburg nicht gleich ins Zentrum der Paläste und grossen Bauten, unter Volksandrang, bei Militärmusik, durch ein hohes Tor einzieht, sondern dass der Weg an langen durch graue Lattenzäune sichtbaren Gemüsegärten, an Kirchhöfen, die aus der Ferne wie romantische Haine aussahen, an sechsstöckigen unter verfallenen Holzhäuschen aufragenden muffeligen Arbeiterkasernen vorbeiführt, dass man durch Russ und Rauch hindurch muss. Also das ist Petersburg! dachte Wanja enttäuscht und interessiert, wie er in die unfreundlichen Gesichter der Gepäckträger blickte.

*

„Hast du sie durchgelesen, Kostja? Kann ich?“ fragte Anna Nikolajewna, vom Tische aufstehend und griff mit ihren langen schon um diese frühe Morgenstunde mit billigen Ringen bedeckten Fingern nach einem Stoss Zeitungen, in denen Konstantin Wassiljewitsch gelesen hatte.

„Ja, es steht nichts Interessantes drin.“

„Was kann es in unseren Zeitungen Interessantes geben? Ich begreife — im Auslande. Da kann man alles schreiben und verantwortet nötigenfalls, was man geschrieben hat, vor Gericht. Aber bei uns ist es abscheulich, man weiss nicht woran man glauben soll. Die Berichte und Mitteilungen der Regierung sind unrichtig oder belanglos, ein Leben im Innern gibt es bis auf Unterschlagungen und Gerüchte von Spezialkorrespondenten überhaupt nicht.“

„Aber im Auslande gibt es ja auch bloss sensationelle Gerüchte, wobei man für Verbreitung erlogener Nachrichten nicht zu gerichtlicher Verantwortung gezogen wird.“

Koka und Boba löffelten träge in ihren Teegläsern und assen Brot mit schlechter Butter.

„Wohin musst du heute, Nata? Hast du viel zu tun?“ fragte Anna Nikolajewna affektiert.

Nata, ein rothaariges Mädchen mit sommersprossenbesätem Gesicht und vulgär gedrungenem Munde, antwortete etwas, mit beiden Backen an einer Semmel kauend. Onkel Kostja, früher Kassierer eines dunklen Spielklubs, hatte lange Finger gemacht und lebte jetzt, nach verbüsster Haft, ohne Stellung und Beschäftigung, bei seinem Bruder. Eben entrüstete er sich über einen Unterschlagungsprozess.

„Jetzt, wo alles erwacht, erstehen neue Kräfte, alles wird lebendig,“ erhitzte sich Alexej Wassiljewitsch.

„Ich bindurchaus nicht für jedes Erwachen; Tante Sonin, z. B., ziehe ich vor, wenn sie schläft.“

Es kamen und gingen allerhand Studenten und einfache junge Leute in Jacketts, tauschten ihre aus den Zeitungen geschöpften Eindrücke über das gestrige Rennen aus; Onkel Kostja verlangte Schnaps; Anna Nikolajewna sprach, den Hut auf dem Kopfe, von einer Ausstellung und sah, sich die Handschuhe anziehend, unzufrieden zu Onkel Kostja hinüber, der mit etwas zittriger Hand die Gläser füllte. Mit seinen gutmütigen geröteten Augen umherblickend, sagte er: „Ein Ausstand, meine Freunde, wisst ihr, das, wisst ihr, ist . . .“

„Larion Dmitrijewitsch!“ meldete die Köchin, die in die Küche zurückeilte und unterwegs das Teebrett mit den Gläsern und das schmutzige, zusammengeballte Tischtuch mitnahm.

Wanja wandte sich vom Fenster ab, an dem er gestanden hatte, und erblickte im Türrahmen die wohlbekannte Gestalt Larion Dmitrijewitsch Stroops in seinem sackartig breiten Anzuge.

*

Wanja hatte angefangen sich sorgfältiger zu kämmen und schenkte auch seinem Anzug seit einiger Zeit mehr Aufmerksamkeit. Sein Ebenbild in einem kleinen Wandspiegel betrachtend, sah er gleichgültig ein etwas unbedeutendes rundes Gesicht mit roten Wangen, grossen grauen Augen, einem hübschen Mund mit kindlich dicken Lippen und blondem Haar vor sich, das nicht ganz kurz geschnitten, sich ein wenig lockte. Weder gefiel ihm, noch missfiel ihm dieser hohe und schlanke Knabe mit den feinen Augenbrauen, der in einer schwarzen Bluse vor dem Spiegel stand. Durch das Fenster sah man einen Hof mit nassen Fliesen, die Fenster des gegenüber liegenden Hausflügels, Streichholzhändler. Es war Feiertag und alle schliefen noch. Wanja war, wie gewöhnlich, früh aufgestanden, hatte sich ans Fenster gesetzt und wartete auf den Tee, während er dem Glockengeläut einer nahen Kirche und dem Geräusch zuhörte, das die im Nebenzimmer aufräumende Bedienung machte. Er erinnerte sich an die Feiertagsmorgen dort, „zu Hause“, in der alten Kreisstadt, an die sauberen Stuben mit den Tüllgardinen und Lämpchen vor den Heiligenbildern, an die Messe in der Kirche, die Piroggen zum Mittag, alles einfach, hell und lieb, und das Regenwetter draussen, die Drehorgeln auf dem Hofe, die Zeitungen beim Morgentee, das sinnlose und ungemütliche Leben, die dunkeln Zimmer, das alles wurde ihm langweilig.

Konstantin Wassiljewitsch, der Wanja mitunter aufsuchte, blickte zur Tür herein.

„Bist du allein, Wanja?“

„Ja, Onkel Kostja. Guten Tag! Was gibt’s?“

„Nichts. Wartest du auf den Tee?“

„Ja. Ist Tante noch nicht aufgestanden?“

„Auf ist sie schon, sie kommt bloss nicht heraus. Sie ärgert sich. Wahrscheinlich ist kein Geld da. Das ist das erste Anzeichen: wenn sie zwei Stunden im Schlafzimmer sitzt, so bedeutet das, dass kein Geld da ist. Und wozu nur? Sie wird doch sowieso herauskriechen müssen.“

„Wissen Sie nicht, verdient Onkel Alexej Wassiljewitsch viel?“

„Wie’s so kommt. Und was heisst viel? Für den Menschen gibt es niemals viel Geld.“

Konstantin Wassiljewitsch seufzte auf und schwieg. Wanja schwieg auch und sah zum Fenster hinaus.

„Was ich dich fragen wollte, lieber Wanja,“ begann Konstantin Wassiljewitsch wieder, „hast du nicht vielleicht bis Mittwoch etwas Geld überflüssig? Ich gebe es dir Mittwoch gleich wieder ab.“

„Woher sollte ich denn Geld haben? Natürlich habe ich keins.“

„Woher du Geld haben sollst? . . . Na, es kann dir doch jemand welches geben . . .“

„Was sagen Sie da, Onkel! Wer sollte mir denn Geld geben?“

„Also du hast keins?“

„Nein.“

„Das ist schlimm.“

„Wieviel möchten Sie denn haben?“

„So fünf Rubel, nicht viel, gar nicht viel.“ Und Konstantin Wassiljewitsch wurde wieder lebhaft. „Vielleicht hast du sie doch, wie? Nur bis Mittwoch?!“

„Ich habe keine fünf Rubel.“

Konstantin Wassiljewitsch sah Wanja enttäuscht und schlau an und schwieg. Wanja wurde es noch trübseliger zumute.

„Was soll man dann machen? Es regnet noch immer . . . . Weisst du was, lieber Wanja, bitte du Larion Dmitrijewitsch um Geld für mich.“

„Stroop?“

„Ja, bitte ihn, mein Lieber!“

„Weshalb bitten Sie ihn denn nicht selbst?“

„Mir wird er keins geben.“

„Weshalb wird er Ihnen keins geben und mir wohl?“

„Er wird schon geben, glaube mir; aber bitte, mein Lieber, sag ihm nur nicht, dass es für mich ist; als brauchtest du für dich selbst zwanzig Rubel.“

„Sie brauchten doch nur fünf?“

„Ist es nicht einerlei wieviel du bittest? Sei so gut, Wanja!“

„Nun schön. Aber wenn er fragt, wozu ich das Geld brauche?“

„Er wird nicht fragen — der ist nicht auf den Kopf gefallen.“

„Aber sehen Sie zu, dass Sie das Geld selbst abgeben.“

„Aber gewiss, gewiss.“

„Weshalb aber glauben Sie, Onkel, dass Stroop mir das Geld geben wird?“

„Na, ich denk’ mir halt so!“ Und lächelnd schlich sich Konstantin Wassiljewitsch, verlegen und zufrieden, auf den Fussspitzen aus dem Zimmer. Wanja stand lange am Fenster, ohne sich umzusehen und ohne den nassen Hof zu beachten. Als er zum Tee gerufen wurde, blickte er, bevor er ins Speisezimmer ging, noch einmal in den Spiegel auf sein rot gewordenes Gesicht mit den grauen Augen und den feinen Brauen.

*

In der griechischen Stunde störten Nikolajew und Spilewski auf der Vorderbank Wanja die ganze Zeit mit ihrer Balgerei und ihrem Kichern. Vor Beginn der Ferien wurde es mit dem Unterricht nicht so genau genommen, der kleine ältliche Lehrer erzählte, auf einem Beine sitzend, aus dem Leben der Griechen, ohne die Aufgaben abzufragen; die Fenster standen offen und man sah grünende Baumwipfel und ein grosses rotes Gebäude. Wanja zog es immer mehr fort aus Petersburg in die Luft, irgendwohin weit in die Ferne. Die blankgeputzten Griffe an Türen und Fenstern, die Speibecken, die Landkarten an den Wänden, die Schultafel, der gelbe Papierkasten, die geschorenen oder lockigen Köpfe der Kameraden schienen ihm unerträglich.

„Die Sykophanten — Denunzianten, Spione, wörtlich Feigenangeber; als der Export dieser Früchte aus Attika noch bei Strafe verboten war, zeigten diese Leute, oder wie wir sagen würden, diese Chantagisten, dem Verdächtigen unter ihrem Mantel eine Feige als Drohung, dass im Falle er sich von ihnen nicht loskaufen sollte . . .“ Und Daniil Iwanowitsch machte, ohne das Katheder zu verlassen, mit Gesten und Mimik die Angeber und Verleumdeten, den Mantel und die Feige nach; dann sprang er von seinem Platze auf und ging im Klassenzimmer hin und her, wobei er mit sorgenvollem Gesicht irgend etwas wiederholte, wie etwa: „Die Sykophanten, . . . . ja, die Sykophanten . . . . ja, meine Lieben, die Sykophanten,“ dabei gab er dem Worte verschiedene, aber in jedem Falle ganz unerwartete Nuancen.

„Heute werde ich versuchen, Stroop um Geld zu fragen,“ dachte Wanja, durchs Fenster blickend.

Spilewski erhob sich, jetzt schon ganz rot geworden, von der Bank.

„Was will dieser Nikolajew eigentlich von mir haben? Er gibt mir keine Ruh mit seinen Zudringlichkeiten.“

„Nikolajew, weshalb werden Sie gegen Spilewski zudringlich?“

„Ich werd’ gar nicht zudringlich.“

„Was machen Sie ihm denn?“

„Ich kitzle ihn.“

„Setzen Sie sich. Ihnen aber, Spilewski empfehle ich grössere Genauigkeit beim Gebrauche eines Ausdruckes. Im Hinblick darauf, dass Sie kein Frauenzimmer sind, kann Nikolajew, ein ziemlich bejahrter Jüngling, und dazu noch einer mit recht beschränkten Begriffen, Ihnen gegenüber nicht zudringlich werden.“

*

„Ich stelle die Frage so: willst du arbeiten — so arbeite, willst du nicht arbeiten, so arbeite nicht!“ sagte Anna Nikolajewna mit einer Miene, als sei das Interesse der ganzen Welt darauf gerichtet, wie sie die Frage stelle. Im Gastzimmer, das ganz mit stilvollen Möbeln in Gestalt von Sitzbädern, Badestühlen und Papierkästen vollgestellt war, lärmten die Stimmen von Anna Nikolajewna, Nata und den beiden Schwestern, den Künstlerinnen Speier.

„Diesen Schrank liebe ich sehr, aber die Bank reizt mich nicht. Ich würde einen Schrank immer vorziehen.“

„Auch dann, wenn Sie ein Sitzmöbel brauchen würden?“

„Die Dienstboten klagen über Arbeitsüberlastung: sie gehen mehr aus, als wir! Ich komme mitunter tagelang nicht aus dem Hause und unsere Annuschka hat täglich so oft Gelegenheit in die Bude zu laufen, bald hat sie Brot zu besorgen, ein anderes Mal Stiefel zu holen. Und dabei hat sie soviel Möglichkeiten mit Menschen zusammenzukommen. Ich finde die Klagen aller dieser Unzufriedenen stark übertrieben.“

„Können Sie sich vorstellen, er posiert mit einer solchen Stimmung, dass die Malschülerinnen sich fürchten, in seiner Nähe zu sitzen. Dabei ist er eine äusserst interessante Persönlichkeit: ein russischer Zigeuner aus München; er hat ein Gymnasium besucht, war im Corps de ballet, ist Modell gewesen; von Stuck erzählt er riesig interessante Einzelheiten.“

„Auf rosa Foulard wird es zu grell sein, ich würde blassgrünen vorziehen.“

„Danach muss man Stroop fragen.“

„Aber er ist ja eben erst verreist, der Stroop, ihr Unglücklichen!“ rief die ältere Speier.

„Wie, Stroop ist fort? Wohin? Wozu?“

„Ja, das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wie immer ein Geheimnis.“

„Von wem haben Sie es gehört?“

„Von ihm selbst hab’ ich’s gehört: er meinte so auf drei Wochen.“

„Nun, das ist nicht so schlimm!“

„Und Wanja Smurow fragte erst heute, wann Stroop bei uns sein werde.“

„Wozu braucht er ihn?“

„Ich weiss nicht. Er hat irgend etwas mit ihm zu tun . . .“

„Wanja mit Stroop? Das ist aber originell!“

„Nun, Nata, wir müssen gehen,“ zwitscherte Anna Nikolajewna und beide Damen verliessen, mit den Röcken rauschend, das Zimmer, überzeugt, dass sie den Mondainen aus den Romanen von Prevost und Ohnet, die sie in Übersetzungen lasen, sehr ähnlich sähen.

*

Im April wurde die Frage von der Sommerfrische angeschnitten. Alexej Wassiljewitsch musste häufig, fast jeden Tag, in der Stadt sein; Koka und Boba auch, so dass der von Anna Nikolajewna und Nata geplante Aufenthalt an der Wolga wenig Aussicht auf Verwirklichung hatte. Man schwankte zwischen den Bädern Terijoki und Sestrorezk in der Nähe von Petersburg, aber unabhängig von der Frage der Sommerfrische dachten alle an Sommertoiletten. Durch die offenen Fenster drangen Staubwolken, der Wagenlärm und das Geklingel der Trams.

Wenn Wanja lesen oder seine Aufgaben machen wollte, ging er hin und wieder in den Sommergarten. Er sass im Gang vor dem Marsfelde, ein Teubnerbändchen lag, mit dem gelbrosa Umschlage nach oben, neben ihm, seither war er noch ein wenig gewachsen; von der Frühlingssonne eingebrannt, schien er bleicher; er sah sich die Spaziergänger im Garten und jenseits des Lebjashi-Kanals an. Vom Krylow-Platz klang das Lachen spielender Kinder herüber, und Wanja hörte nicht, wie der Sand unter Stroops Füssen knirschte, als dieser auf ihn zutrat.

„Sie arbeiten?“ fragte Stroop, sich neben Wanja setzend, der sich auf einen Gruss hatte beschränken wollen.

„Ich arbeite; aber wenn Sie wüssten, wie langweilig mir das alles geworden ist! . . .“

„Was haben Sie da? Homer?“

„Ja, Homer. Besonders dies Griechisch.“

„Sie lieben nicht Griechisch?“

„Wer liebt es denn?“ lächelte Wanja.

„Das ist sehr schade!“

„Was ist schade?“

„Dass Sie nicht Sprachen lieben.“

„Die neuen gehen ja an, ich liebe sie, man kann später ’mal etwas lesen, aber Griechisch, wer wird Griechisch lesen, so einen alten Kram.“

„Was für ein Kind Sie sind, Wanja. Eine ganze Welt, ganze Welten sind Ihnen verschlossen; und das — Welten der Schönheit, die nicht nur zu kennen, sondern zu lieben die Grundlage jeder Bildung ist.“

„Man kann Übersetzungen lesen; und wieviel Zeit verliert man mit der Grammatik?!“

Stroop blickte mit unendlichem Bedauern auf Wanja.

„Statt eines Menschen aus Fleisch und Blut, der lacht und traurig ist, den man lieben, küssen, hassen kann, an dem man sieht, wie das Blut durch die Adern fliesst, dessen natürliche Grazie des nackten Körpers uns bezaubert, eine seelenlose Puppe besitzen, die dazu noch häufig aus der Werkstatt eines Handwerkers hervorgegangen ist, das heisst Übersetzungen lesen. Und für die grammatikalischen Vorbereitungsarbeiten braucht man so wenig Zeit. Man muss nur lesen, lesen und lesen. Lesen und jedes Wort im Wörterbuch nachschlagen, wie durch ein Dickicht im Walde sich Weg bahnen, oh, Sie würden einen ungeahnten Genuss kennen lernen. Und mir scheint, Wanja, dass Sie Anlagen haben, ein wahrer neuer Mensch zu werden.“

Wanja schwieg unzufrieden.

„Sie haben eine schlechte Umgebung, aber das kann zu Ihrem Besten dienen, indem es Sie vor Vorurteilen bewahrt, die jedem traditionellen Leben anhaften. Und Sie könnten, wenn Sie wollten, ein durchaus moderner Mensch werden,“ fügte Stroop nach einigem Schweigen hinzu.

„Ich weiss nicht, ich möchte irgendwohin fortfahren, fort von allem: vom Gymnasium, vom Homer, von Anna Nikolajewna, — das ist es.“

„In die Natur?“

„Ja, in die Natur.“

„Aber, mein lieber Freund, wenn in der Natur leben, mehr essen, Milch trinken, sich baden und nichts tun heisst, ja, dann freilich ist es sehr einfach, aber die Natur geniessen ist vielleicht schwerer als die griechische Grammatik und ermüdet, wie jeder Genuss. Und ich glaube auch einem Menschen nicht, der in der Stadt gleichgültig den besten Teil der Natur — Himmel und Wasser — sieht, und die Natur auf den Montblanc suchen geht, ich glaube einem solchen Menschen nicht, dass er die Natur liebt.“

*

Onkel Kostja machte Wanja den Vorschlag, ihn in seiner Droschke bis zum Gymnasium mitzunehmen.

Der heisse Morgen liess schon die Nähe des Sommers spüren, und ganze Seiten des Fahrdammes wurden umgepflastert und waren gesperrt. Onkel Kostja, der dreiviertel der Droschke einnahm, hatte sich bequem mit ausgespreizten Beinen zurechtgesetzt.

„Onkel Kostja, warten Sie ein wenig, ich frage nur, ob der Priester gekommen ist, und wenn er fehlt, fahre ich lieber mit Ihnen mit und komme zu Fuss zurück, als im Gymnasium zu hocken. Einverstanden?“

„Weshalb sollte der Priester nicht zur Stunde gekommen sein?“

„Er ist schon die ganze Woche krank.“

„Einverstanden. Frage nur.“

Einen Augenblick später kam Wanja wieder heraus, ging um die Droschke herum und stieg von der anderen Seite neben Konstantin Wassiljewitsch ein.

„Und Larion Dmitrijewitsch, mein Lieber, ist, als hätte er geahnt, was wir gegen ihn im Schilde führen, auf und davon und kommt nicht mehr zurück.“

„Vielleicht ist er schon zurück.“

„Dann wäre er bei Anna Nikolajewna gewesen.“

„Was ist er eigentlich, Onkel Kostja?“

„Wer? Nach wem fragst du?“

„Nach Larion Dmitrijewitsch.“

„Stroop — nichts weiter. Ein halber Engländer und reicher Mann, ist nirgendwo angestellt, lebt gut, ja, sogar vorzüglich, ist in höchstem Grade gebildet und belesen, so dass ich gar nicht begreife, weshalb er mit Kasanskis verkehrt.“

„Er ist doch nicht verheiratet, Onkel?“

„Ja, sogar ganz im Gegenteil, und wenn Nata glaubt, dass sie es ihm angetan habe, so täuscht sie sich grausam; überhaupt, ich begreife absolut nicht, was er bei Kasanskis zu suchen hat. Gestern, einfach zum Totlachen, lieferte Anna Nikolajewna Alexej eine Generalschlacht.“

Sie fuhren über die Fontankabrücke. Fischhändler von den schwimmenden Fischhandlungen zogen Fische aus den Bassins, kleine Dampfer schossen rauchend vorbei, an der steinernen Balustrade lehnte eine müssige Menge. Ein Eishändler schob seinen rasselnden blauen Wagen über das Pflaster.

„Du hast vielleicht von jemand gehört, dass Stroop zurückgekommen ist oder hast ihn selbst gesehen?“ fragte Onkel Kostja beim Abschied.

„Nein, wo sollte ich wohl, wenn er, wie Sie sagen, nicht zurück ist,“ meinte Wanja errötend.

„Siehst du, du sagst, es sei nicht heiss und schau nur mal, wie rot du geworden bist,“ und die untersetzte Gestalt Konstantin Wassiljewitschs verschwand in der Haustür.

„Weshalb habe ich meine Begegnung mit Stroop verheimlicht?“ dachte Wanja und freute sich, dass er ein Geheimnis habe.

*

Im Lehrerzimmer war es vollgeraucht und die Gläser mit dem schwachen Tee schimmerten im Halbdunkel des Erdgeschosses bernsteingelb. Die Eintretenden bekamen den Eindruck, als bewegten sich die Gestalten in einem Aquarium. Dieser Eindruck wurde noch durch den Regen erhöht, der hinter den Milchglasscheiben herabfloss. Das Gewirr der Stimmen, das Klappern der Teelöffel mischte sich mit dem dumpfen Lärm der grossen Zwischenstunde, der aus der Aula und bisweilen ganz nahe aus den Korridoren herüberdrang.

„Die Sekundaner machen Orlow schon wieder die Hölle heiss; er versteht sich aber auch wirklich keine Stellung zu schaffen.“

„Nun gut, nehmen wir an, Sie stellen ihm eine ungenügende Jahresnote, er bleibt sitzen, — glauben Sie denn, ihn dadurch zu bessern?“

„Ich verfolge keineswegs korrektionelle Zwecke, ich bemühe mich bloss den Stand der Kenntnisse gerecht abzuschätzen.“

„Unsere Gymnasiasten würden sich entsetzen, wenn sie die Programme der französischen Collèges zu sehen bekämen, von den Seminaren schon gar nicht zu reden.“

„Iwan Petrowitsch dürfte damit kaum zufrieden sein.“

„Unvergleichlich, sage ich Ihnen, unvergleichlich, gestern war er, wie selten, bei Stimme.“

„Sie sind auch gelungen, sagen ein kleines Spiel an und haben den König, den Buben und zwei Trümpfe in der Hand.“

„Spilewski ist ein liederlicher Bengel, und ich begreife nicht, weshalb Sie sich für ihn so ins Zeug legen.“

Alle Stimmen wurden vom scharfen Tenor des Inspektors, eines Tschechen, mit grauem Knebelbart und Kneifer, übertönt:

„Dann möchte ich Sie bitten, meine Herren, auf die Fenster zu achten: niemals über 14 Grad, Zug und Ventilation.“

Allmählich ging man auseinander und im leergewordenen Konferenzzimmer war nur der leise Bass des russischen Lehrers zu hören, der sich mit dem Griechen unterhielt.

„Sonderbare Typen findet man dort mitunter. Für den Sommer hatten sie Klassiker zu lesen aufbekommen, ziemlich viel, und da referiert einer zum Beispiel über den Lermontowschen ‚Dämon‘ ex abrupto: ‚Der Teufel flog über der Erde und erblickte ein Mädchen.‘ — Wie hiess denn dieses Mädchen? — ‚Lisa.‘ — Na, es hiess zwar Tamara. — ‚Zu Befehl, Tamara.‘ Nun, und weiter? — ‚Er wollte das Mädchen heiraten, aber der Bräutigam kam dazwischen; dann schlugen die Tataren den Bräutigam tot.‘ — Nun, heiratete der Dämon darauf Tamara? — ‚Nein, gar nicht; der Engel kam dazwischen und vertrat ihm den Weg: so blieb der Dämon denn ein Junggeselle und begann alles zu hassen‘.“

„Ich finde das grossartig . . .“

„Oder eine Kritik über Turgenjews Rudin: ‚Er war ein schlechter Mensch, er sprach immerfort und tat nichts; später geriet er in Gesellschaft von leeren Menschen, und da wurde er auch getötet.‘ — Weshalb, frage ich, halten Sie Arbeiter und überhaupt alle Teilnehmer einer Volksbewegung, in der Rudin ums Leben kam, für leere Leute? — ‚Zu Befehl, er ist für die gute Sache gefallen‘.“

„Es war ganz unnütz, dass Sie die persönliche Meinung dieses jungen Mannes über seine Lektüre zu erfahren suchten. Das macht ja den Militärdienst, wie das Kloster, wie fast jede ausgearbeitete Glaubenslehre, so anziehend, dass sie ein fertiges und bestimmtes Verhältnis zu allen möglichen Erscheinungen und Begriffen geben. Für schwache Naturen ist das eine feste Stütze und das Leben wird unglaublich leicht, wenn die Notwendigkeit, ethisch schaffen zu müssen, in Fortfall kommt.“

Im Korridor wartete Wanja auf Daniil Iwanowitsch.

„Was wünschen Sie, Smurow?“

„Ich möchte mit Ihnen privatim sprechen, Daniil Iwanowitsch.“

„Worüber?“

„Über das Griechische.“

„Hapert’s denn bei Ihnen?“

„Ich habe eine genügende Note.“

„Was brauchen Sie also?“

„Nein, ich möchte mit Ihnen überhaupt über Griechenland sprechen, bitte, Daniil Iwanowitsch, erlauben Sie mir zu Ihnen zu kommen.“

„Ja, bitte, bitte. Meine Adresse kennen Sie? Obgleich das mehr als sonderbar ist: ein Mensch, der eine genügende Note hat und mich privatim über Griechenland zu sprechen wünscht. Ich bitte, kommen Sie. Ich wohne allein, von sieben bis elf Uhr stehe ich zu Ihrer Verfügung.“

Daniil Iwanowitsch war schon im Begriff, die mit einem Läufer belegte Treppe hinaufzusteigen, blieb aber stehen und rief Wanja zu:

„Sie, Smurow, denken Sie sich nur nicht irgend etwas: nach elf bin ich auch zu Hause, aber ich gehe schlafen und bin dann höchstens der allerprivatesten Erklärungen fähig, deren Sie wahrscheinlich nicht benötigen.“

*

Wanja hatte mehr als einmal Stroop im Sommergarten getroffen. Und ohne es selbst zu merken, erwartete er ihn, setzte sich immer in dieselbe Allee, und wenn er fortging ohne Stroops leichten, wenn auch absichtlich zögernden Gang gehört zu haben, so betrachtete er aufmerksam alle männlichen Gestalten, die an Stroop erinnerten. Einmal, als er ohne Stroop erwartet zu haben, durch einen Teil des Gartens schlenderte, den er sonst nicht aufzusuchen pflegte, traf er Koka, der mit aufgeknöpftem Mantel daherkam.

„Hier trifft man dich also, Iwan! Was, gehst du spazieren?“

„Ja, ich bin ziemlich häufig hier, aber worum handelt es sich?“

„Weshalb sehe ich dich denn nie? Sitzest du vielleicht auf der anderen Seite?“

„Wie sich’s macht.“

„Stroop, den treffe ich täglich hier und habe sogar den Verdacht, dass wir beide zu gleichem Zwecke her kommen.“

„Ist denn Stroop wieder zurück?“

„Schon seit einiger Zeit. Nata und alle wissen es, und was für eine Gans Nata auch sein möge, es bleibt dennoch eine Schweinerei, dass er nicht zu uns kommt, als seien wir eine Saubande.“

„Was hat Nata damit zu schaffen?“

„Sie versucht Stroop einzufangen und das ganz vergeblich: er wird überhaupt nicht heiraten, und gar noch Nata; ich glaube, dass er auch mit dieser Ida Holberg bloss ästhetische Gespräche führt und ich rege mich ganz unnütz auf.“

„Regst du dich denn auf?“

„Selbstverständlich, wenn ich nun schon ’nmal in sie verliebt bin!“ und vergessend, dass er mit Wanja sprach, der von seinen Angelegenheiten keine Ahnung hatte, wurde Koka lebhaft: „Ein wunderbares Mädchen, gebildet, musikalisch, eine Schönheit und reich . . . reich! Sie hinkt nur. Und ich komme jeden Tag hierher, um sie zu sehen. Sie geht hier zwischen drei und vier spazieren und ich fürchte, Stroop kommt aus demselben Grunde hierher, wie ich.“

„Ist denn Stroop auch in sie verliebt?“

„Stroop! Nu nee, mein Lieber, der ist nicht von dieser Sorte. Er hält bloss Vorträge und sie betet ihn förmlich an. Die Verliebtheit Stroops das ist ein anderes, ganz anderes Gebiet.“

„Du bist bloss geärgert, Koka!“ . . .

„Unsinn!“

Sie waren gerade an einem Beete mit roten Geranien vorbeigegangen, als Koka ausrief: „Da sind sie ja!“ Wanja sah ein hochgewachsenes Mädchen mit blassem rundlichem Gesicht, ganz hellem Haar, aphrodisischem Schnitt der grauen Augen, die jetzt in der Erregung blau geworden waren und einem Munde, wie auf Botticellis Bildern. Sie trug ein dunkles Kleid und ging hinkend, auf den Arm einer ältlichen Dame gestützt, während Stroop an ihrer anderen Seite sagte:

„. . . und die Menschen sahen, dass jede Schönheit, jede Liebe von den Göttern kommt, und wurden frei und kühn, und ihnen wuchsen Flügel.“

*

Schliesslich hatten Koka und Boba eine Loge zu „Samson und Dalila“ aufgetrieben. Aber die erste Aufführung wurde durch „Carmen“ ersetzt und Nata, auf deren Betreiben dieser ganze Theaterbesuch veranstaltet worden war, weil sie hoffte, Stroop auf neutralem Boden zu treffen, wurde fuchsteufelswild, wusste sie doch, dass Stroop diese allgemein bekannte Oper nicht ohne besondere Veranlassung besuchen werde. Sie trat ihren Platz in der Loge Wanja ab, jedoch nur unter der Bedingung, dass er nach Hause fahren sollte, wenn sie während der Vorstellung doch noch ins Theater käme. Anna Nikolajewna mit den Schwestern Speier und Alexej Wassiljewitsch fuhren in Droschken in die Oper, die jungen Leute hatten sich schon vorher zu Fuss dahin aufgemacht.

Carmen tanzte schon mit ihren Freundinnen bei Lilas Pastja, als Nata, gleichsam als habe sie die Eingebung gehabt, dass Stroop im Theater sei, in der Loge erschien. Sie war ganz in helles Blau gekleidet, gepudert und erregt.

„Nun, Iwan, du wirst dich drücken müssen.“

„Ich bleibe nur bis Aktschluss.“

„Ist Stroop hier?“ fragte Nata flüsternd Anna Nikolajewna, neben der sie Platz genommen hatte. Diese wies schweigend mit den Augen auf eine Loge, in der Ida Holberg, eine ältliche Dame, ein blutjunger Offizier und Stroop sassen.

„Das ist geradezu eine Vorahnung, geradezu eine Vorahnung!“ sagte Nata, ihren Fächer auf- und zuklappend.

„Armes Kind!“ seufzte Anna Nikolajewna.

In der Pause, als Wanja sich anschickte fortzugehen, forderte Nata ihn auf sie ins Foyer zu begleiten.

„Nata, Nata,“ kam Anna Nikolajewnas Stimme aus der Tiefe der Loge, „schickt sich das auch?“

Nata eilte stürmisch, Wanja mit sich ziehend, nach unten. Vor einem Spiegel blieb sie stehen, um ihr Haar zu ordnen und betrat dann langsam den Saal, der sich noch nicht mit Publikum gefüllt hatte. Sie trafen Stroop, er ging in ein Gespräch mit dem blutjungen Offizier vertieft, der in der Loge gesessen hatte und sah weder Smurow, noch Nata an und trat sogar gleich in eins der nächsten Durchgangszimmer hinaus, wo sich vor einem Tisch mit Photographien eine aufgedonnerte Verkäuferin langweilte.

„Gehen wir, es ist furchtbar heiss!“ sagte Nata, Wanja in der Richtung mit sich ziehend, die Stroop genommen hatte.

„Durch jenen Ausgang haben wir es näher zu unseren Plätzen.“

„Als ob es nicht einerlei wäre!“ fuhr ihn das Mädchen an, das in seiner Eile das Publikum fast gewaltsam auseinanderstiess.

Stroop bemerkte jetzt die beiden und beugte sich über die Photographien. Als sie neben ihm standen, sprach Wanja ihn laut an:

„Larion Dmitrijewitsch!“

„Ah, Wanja,“ machte der, sich umkehrend: „Natalja Alexejewna, pardon, ich habe Sie nicht gleich bemerkt.“

„Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu treffen,“ begann Nata.

„Weshalb? Ich liebe ‚Carmen‘ sehr und werde ihrer niemals überdrüssig, in ihr steckt ein tiefer und echter Pulsschlag des Lebens und über alles ist Sonne ausgegossen; ich verstehe, dass Nietzsche sich für diese Musik begeistern konnte.“

Nata hörte schweigend zu und sah schadenfroh mit ihren geröteten Augen zum Sprecher hinüber, dann sagte sie:

„Ich wundere mich nicht darüber, dass ich Sie zur ‚Carmen‘ treffe, sondern, dass ich Sie in Petersburg und nicht bei uns sehe.“

„Ja, ich bin vor zwei Wochen zurückgekommen.“

„Allerliebst!“

Sie begannen im leeren Korridor, an den schlummernden Lakaien vorüber, auf und ab zu gehen und Wanja betrachtete, an der Treppe stehenbleibend, interessiert das sich immer mehr mit roten Flecken bedeckende Gesicht Natas und das ihres geärgerten Begleiters. Die Pause war zu Ende, und Wanja stieg langsam die Treppe zum Balkon hinauf, um sich anzukleiden und nach Hause zu gehen, da holte Nata, das Taschentuch vor dem Munde, ihn fast laufend ein.

„Es ist schändlich, hörst du, Wanja, schändlich, wie dieser Mensch mit mir spricht,“ flüsterte sie Wanja zu und lief nach oben. Wanja wollte sich von Stroop verabschieden und stieg nach einigem Zaudern wieder die Treppe zum unteren Korridor hinunter; dort stand Stroop und der Offizier am Eingang zur Loge.

„Adieu, Larion Dmitrijewitsch,“ sagte Wanja, der tat, als gehe er in seine Loge nach oben.

„Gehen Sie denn schon?“

„Ich war ja nicht auf meinem Platze: Nata kam und ich wurde überflüssig.“

„Was für ein Unsinn, kommen Sie zu uns in die Loge, wir haben freie Plätze. Der letzte Akt ist einer der besten.“

„Macht das nichts, dass ich in die Loge komme: ich bin doch nicht bekannt?“

„Natürlich macht es nichts: Holbergs lieben keine Umstände, und Sie sind ja noch ein Knabe, Wanja.“

Als sie in die Loge traten, beugte sich Stroop zu Wanja, der ihm zuhörte, ohne den Kopf zu wenden:

„Und dann, Wanja, werde ich vielleicht bei Kasanskis nicht mehr vorkehren; wenn es Ihnen recht ist, werde ich immer froh sein, Sie bei mir zu sehen. Sie können sagen, dass Sie mit mir Englisch treiben; aber es wird Sie ja niemand fragen, wohin und wonach Sie gehen. Bitte, Wanja, kommen Sie.“

„Schön. Aber haben Sie sich denn mit Nata verzankt? Sie werden sie nicht heiraten?“ fragte Wanja, ohne den Kopf zu wenden.

„Nein,“ sagte Stroop ernst.

„Wissen Sie, es ist sehr gut, dass Sie sie nicht heiraten, denn sie ist schrecklich widerlich, der reine Frosch!“ lachte Wanja plötzlich auf, Stroop sein Gesicht ganz zukehrend, und fasste, ohne zu wissen warum, dessen Hand.

*

„Es ist interessant, wie gut wir das sehen, was wir zu sehen wünschen und das verstehen, was wir suchen. So fanden die Römer und romanischen Völker des XVII. Jahrhunderts bei den griechischen Tragikern nichts, als die drei Einheiten, das XVIII. Jahrhundert rollende Tiraden und Befreiungsideen, die Romantiker die Heldentaten eines hohen Heroismus und unsere Zeit die scharfe Nuance des Primitiven und das Klingersche Leuchten der Fernen . . .“

Wanja hörte zu und betrachtete das noch in Abendsonne getauchte Zimmer: an den Wänden bis zur Decke reichende Bücherbretter voll ungebundener Bücher, Bücher auf Tischen und Stühlen, ein Käfig mit einer Drossel, ein gelähmter junger Kater auf dem Lederdiwan und einsam in einer Ecke ein kleiner Antinouskopf, gleichsam der Hausgott dieser Wohnung. Daniil Iwanowitsch, in Filzpantoffeln, sorgte für den Tee, zog aus dem eisernen Ofen Käse und Butter in Papierhüllen hervor und der Kater folgte, ohne den Kopf zu wenden, mit seinen grünen Augen den Bewegungen seines Herrn. „Und weshalb haben wir uns bloss eingebildet, dass er alt sei, wo er doch noch ganz jung ist,“ dachte Wanja, der erstaunt den kahlen Kopf des kleinen Griechen betrachtete.

„Im XV. Jahrhundert hatte sich bei den Italienern bereits die Anschauung gefestigt, dass die Freundschaft des Achilleus und Patroklos, wie die des Orest und Pylades sodomitische Verhältnisse waren, während sich bei Homer keine direkten Hinweise hierauf finden.“

„Haben die Italiener sich denn das selbst ausgedacht?“

„Nein, sie hatten recht, aber es handelt sich darum, dass allein das zynische Verhalten zu jeder Art der Liebe sie zu einem Laster macht. Handle ich sittlich oder unsittlich, wenn ich niese, den Staub vom Tische wische, den Kater streichle? Allein diese selben Handlungen können dennoch verbrecherisch sein, wenn ich, sagen wir zum Beispiel, mit meinem Niesen einem Mörder die zum Morde günstige Zeit angebe usw. Jemand, der kaltblütig, ohne Wut einen Mord begeht, beraubt diese Handlung jeglicher ethischer Färbung, es bleibt nur noch die zwischen Mörder und Opfer, zwischen Liebenden, zwischen Mutter und Kind bestehende mystische Gemeinschaft.“

Es war ganz dunkel geworden und man konnte durch das Fenster die Dächer der Häuser und in der Ferne die Isaakskathedrale auf dem schmutzig-rosa Himmel, der ganz in Rauch gehüllt war, kaum noch unterscheiden.

Wanja schickte sich an, nach Hause zu gehen; der Kater humpelte, von Wanjas Mütze, wo er gelegen hatte, vertrieben, auf seinen verkrüppelten Vorderpfoten weiter.

„Sie sind gewiss ein guter Mensch, Daniil Iwanowitsch, allerhand Krüppel lesen Sie auf.“

„Der Kater gefällt mir und es ist mir angenehm, ihn bei mir zu haben. Wenn das tun, was einem Vergnügen macht, gut sein heisst, dann bin ich gut.“

„Sagen Sie bitte, Smurow,“ sagte Daniil Iwanowitsch, Wanja zum Abschied die Hand drückend, „sind Sie selbst darauf verfallen mit griechischen Unterhaltungen zu mir zu kommen?“

„Ja, das heisst, diesen Gedanken hat mir vielleicht jemand anderes eingegeben.“

„Wer denn, wenn es kein Geheimnis ist?“

„Nein, weshalb wohl? Aber Sie kennen ihn nicht.“

„Vielleicht doch?“

„Ein gewisser Stroop.“

„Larion Dmitrijewitsch?“

„Kennen Sie ihn denn?“

„Sogar sehr nahe,“ antwortete der Grieche, Wanja mit der Lampe die Treppe hinunterleuchtend.

*

Die geschlossene Kajüte des kleinen finnischen Newadampfers war ganz leer, aber Nata, die sich vor Zugwind und Zahngeschwüren fürchtete, führte die ganze Gesellschaft gerade hierher.

„Es gibt ganz und gar keine Landhäuser mehr!“ sagte Anna Nikolajewna, die müde geworden war. „Alle gleich schlecht, mit Ritzen und Zugwind!“

„In einem Sommerhause zieht es immer — was haben Sie denn erwartet? Leben Sie vielleicht das erstemal in der Sommerfrische?“

„Willst du?“ bot Koka sein geöffnetes Zigarettenetui, mit einer nackten Dame auf dem Deckel, Boba an.

„Nicht deshalb ist es in der Sommerfrische so urscheusslich, weil es dort scheusslich ist, sondern weil man sich wie auf Biwak, bloss zu vorübergehendem Aufenthalte dorthin gekommen, fühlt. Und das Leben dort ist auch nicht in feste Rahmen eingeteilt, in der Stadt dagegen weiss man immer, was man zu jeder Zeit des Tages zu tun hat.“

„Wenn du nun aber immer, Sommer und Winter, in einem Villenort leben müsstest?“

„Dann wäre es auch nicht so schlimm: ich würde mir ein Programm machen.“

„Das ist richtig,“ fiel Anna Nikolajewna ein, „für kurze Zeit hat man keine Lust sich einzurichten. Im vorvorigen Sommer zum Beispiel hatten wir frisch tapezieren lassen und mussten die reinen Tapeten dem Hauswirt schenken; man konnte sie doch nicht herunterreissen.“

„Bedauerst du vielleicht, dass wir sie nicht beschmutzt haben!“

Nata blickte mit einer Grimasse zum Ufer hinüber, wo die Fenster der Paläste im Schein der untergehenden Sonne flammten, während die rosig-goldenen Wellen der Newa hinter dem Dampfer breit und glatt auseinanderrauschten.

„Und dann diese Menge Menschen, jeder weiss alles vom anderen, was gekocht wird, wieviel die Dienstboten Lohn bekommen.“

„Überhaupt ein Ekel!“

„Weshalb ziehst du denn hinaus?“

„Was heisst weshalb? Wo soll man denn bleiben? Etwa in der Stadt?“

„Nun, was wäre denn dabei? Man kann wenigstens bei Sonnenglut auf der Schattenseite gehen.“

„Onkel Kostja denkt sich doch immer etwas aus!“

„Mama,“ wandte sich Nata plötzlich um, „reisen wir an die Wolga, Liebe: es gibt dort kleine Städte, Pless, Wassilsursk, wo man sich ganz billig einrichten kann. Warwara Nikolajewna Speier erzählte . . . . Sie lebten in Pless mit einer ganzen Gesellschaft, wisst ihr, dort lebte noch der berühmte Landschaftsmaler Levithan; in Uglitsch haben sie auch gelebt.“

„Nun, in Uglitsch hat man sie, glaub’ ich, herausgeschmissen,“ warf Koka dazwischen.

„Nun, und hat sie herausgeschmissen, und was ist denn dabei? Uns wird man eben nicht herausschmeissen! Die Wirtsleute sagten ihnen: Sie sind da eine ganze Gesellschaft von Damen und Herren, unsere Stadt ist still, niemand reist hierher, nun so haben wir halt Angst: entschuldigen Sie schon, aber räumen Sie die Wohnung.“

Der Dampfer legte beim Alexandergarten an, im unteren Stockwerke der schwimmenden Anlegebrücke sah man die hellerleuchtete Restaurationsküche, einen Küchenjungen, der Fische abschuppte, und im Hintergrunde den glühenden Herd.

„Tante, ich gehe von hier zu Larion Dmitrijewitsch,“ sagte Wanja.

„Nun, meinetwegen geh; hast dir da auch einen Kameraden gefunden!“ knurrte Anna Nikolajewna.

„Ist er denn ein schlechter Mensch?“

„Ich sage nicht, dass er ein schlechter Mensch, sondern dass er kein Kamerad für dich ist.“

„Ich treibe mit ihm Englisch.“

„Alles unnützes Zeug, du solltest lieber deine Aufgaben machen . . .“

„Nein, Tante, wissen Sie, ich gehe doch.“

„So geh doch, wer hält dich denn?“

„Küsse dich nur mit deinem Stroop,“ setzte Nata hinzu.

„Nun, ich werd’ auch, und werd’ auch, und niemand hat sich darum zu kümmern!“

„Nun, es käme darauf an,“ wollte Boba anfangen, aber Wanja unterbrach ihn, über Nata herfallend.

„Du selbst würdest dich mit ihm küssen, aber er will nicht, weil du . . . ein rothaariger Frosch bist, weil du eine Gans bist! Ja!“

„Iwan, hör auf!“ ertönte die Stimme Alexej Wassiljewitschs.

„Was wollen diese Weiber bloss von mir haben? Weshalb lassen sie mich nicht gehen? Bin ich vielleicht ein kleines Kind? Morgen schreibe ich an Onkel Kolja . . .“

„Iwan, hör auf!“ rief Alexej Wassiljewitsch, seine Stimme erhebend.

„So ein Bengel, so ein Ferkel, und hat die Frechheit, sich so zu betragen!“ regte Anna Nikolajewna sich auf.

„Und Stroop wird dich niemals heiraten, wird dich nicht heiraten, wird dich nicht heiraten! . . .“ stiess Wanja, ausser sich, hervor.

Nata wurde sofort still und sagte, fast beruhigt, leise:

„Und Ida Holberg wird er heiraten?“

„Ich weiss nicht,“ antwortete Wanja ebenso leise und einfach, „ich glaube kaum,“ fügte er dann fast freundlich hinzu.

„Was sind das für Gespräche!“ berief sie Anna Nikolajewna. „Du glaubst doch nicht am Ende diesem Bengel?“

„Vielleicht, glaube ich ihm,“ brummte Nata und wandte sich zum Fenster.

„Glaube nur nicht, Iwan, dass sie so naiv sind, wie sie scheinen möchten,“ beruhigte Boba Wanja, „sie sind überglücklich, dass sie durch dich noch zu Stroop in Beziehung stehen und Nachrichten über Ida Holberg erhalten können; aber wenn du wirklich mit Larion Dmitrijewitsch sympathisierst, sei vorsichtig, verrat dich nicht.“

„Womit verrat ich mich denn?“ wunderte sich Wanja.

„Hat mein Rat so bald gefruchtet?“ lachte Boba und trat auf den Anlegeplatz hinaus.

*

Als Wanja die Stroopsche Wohnung betrat, hörte er Gesang mit Klavierbegleitung. Er ging leise in das Arbeitszimmer, links von der Entree, ohne das Empfangszimmer zu betreten, und begann zu lauschen. Eine ihm unbekannte Männerstimme sang:

Am lauen Meer der verdämmernde Abend,

Leuchtturmfeuer am dunkelnden Himmel,

Verbenenduft beim Ausklang des Festes,

Morgenfrische nach schlaflosen Nächten,

Ein Gang durch Alleen des Frühlingsgartens,

Schreie und Lachen badender Weiber,

Am Tempel der Juno die heiligen Pfauen,

Händler mit Veilchen, Granaten, Limonen,

Tauben girren, es leuchtet die Sonne, —

Wann, Heimatstadt, seh’ ich dich wieder!

Und das Klavier hüllte mit tiefen Akkorden die sehnsüchtigen Worte der singenden Stimme in dichte Nebel. Es begann ein Kreuzfeuer von Männerstimmen und Wanja betrat den Saal. Wie liebte er dieses grünliche geräumige Zimmer, in dem die Töne Rameaus und Debussys erklangen, wie liebte er Stroops Freunde, welche den Leuten so unähnlich waren, die er bei Kasanskis traf; diese Diskussionen; diese späten Abendessen der Männer bei Wein und leichtem Geplauder; dieses Arbeitszimmer bis zur Decke voll Bücher, wo Marlowe und Swinburne gelesen wurden, dieses Schlafzimmer mit dem grellgrünen, von einer dunkelroten Girlande tanzender Faune umrandeten Waschbestecke dieses ganz in rotem Kupfer gehaltene Speisezimmer; diese Erzählungen von Italien, Ägypten, Indien; dieses Entzücken, das jede wahre Schönheit aller Länder, aller Zeiten erregte; diese Spaziergänge durch die Parks auf den Newainseln; diese beunruhigenden und doch lockenden Erörterungen; dieses Lächeln im hässlichen Gesichte; dieser moderatmende Duft von Peau d’Espagne; diese mageren, starken, ringgeschmückten Finger, die Schuhe mit den ungewöhnlich dicken Sohlen, — wie er das alles liebte, ohne zu begreifen, aber schon in einem dunkeln Bann befangen.

*

„Wir sind Hellenen: uns ist der unduldsame Monotheismus der Juden fremd, die sich von den darstellenden Künsten abwenden und doch am Fleische, an der Nachkommenschaft, am Samen hängen. In der ganzen Bibel findet sich nicht ein Hinweis auf den Glauben an eine Seligkeit nach dein Tode, und der einzige Lohn, dessen die Gebote Erwähnung tun (nämlich für die Achtung der Erzeuger), ist, ‚auf dass du lange lebest auf Erden‘. Eine fruchtlose Ehe ist ein Schandfleck und ein Fluch, der sogar des Rechtes am Gottesdienste teilzunehmen verlustig macht, als hätte man vergessen, dass nach derselben jüdischen Legende Gebären und Arbeiten eine Strafe für den Sündenfall und nicht der Zweck des Lebens sei. Und je weiter die Menschen sich von der Sünde entfernen werden, um so weiter werden sie auch von Zeugung und körperlicher Arbeit stehen. Die Christen haben das dunkel verstanden, wenn das Weib nach der Geburt und nicht nachdem es die Ehe geschlossen hat, sich durch das Gebet reinigen muss, während vom Manne nichts Ähnliches verlangt wird. Die Liebe hat ausser sich selbst keinen anderen Zweck; ebenso fehlt in der Natur jegliche Idee der Finalität. Die Gesetze der Natur gehören einer ganz anderen Ordnung an, als die sogenannten göttlichen Gesetze und die menschlichen. Das Gesetz der Natur ist nicht das, dass der Baum seine Frucht tragen soll, sondern dass er unter gewissen Bedingungen Frucht tragen, und unter anderen keine Frucht tragen, ja, sogar zugrunde gehen wird, und das ebenso gerecht und einfach, wie er seine Frucht getragen hätte. Dass das Herz aufhören kann zu schlagen, wenn es von einem Messer durchbohrt wird, darin liegt keine Finalität, das ist weder gut noch böse. Und das Gesetz der Natur verletzen kann nur der, der seine Augen küssen kann, ohne sie aus den Höhlen gerissen zu haben, und der ohne Spiegel seinen eigenen Nacken zu sehen vermag. Und wenn man euch sagen wird: ‚naturwidrig‘, so schaut auf den redenden Blinden herab und gehet vorüber an ihm, machet euch nicht den Sperlingen gleich, die vor einer Vogelscheuche auseinanderflattern. Die Menschen gehen, wie Blinde, wie Tote einher, wo sie sich ein flammendes Leben schaffen könnten, in welchem jeder Genuss so verfeinert sein würde, als wäret ihr eben geboren und müsstet gleich wieder sterben. Mit solch einem Heisshunger muss man alles in sich aufnehmen. Wunder gibt es rings um uns auf Schritt und Tritt: es gibt Muskeln und Sehnen am menschlichen Körper, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann. Und nur gemeine Lüsternheit lässt den Mann den Begriff von Schönheit mit der Schönheit des Weibes verbinden, und das liegt so weit, so weit von der wahren Idee der Schönheit. Wir sind Hellenen, Liebhaber der Schönheit, Bacchanten des nahenden Lebens. Wie die Visionen Tannhäusers in Frau Venus’ Hörselberg, wie Klingers und Thomas’ Blick in weite, helle Fernen gibt es ein Stammland voll Sonne und Freiheit, mit schönen und kühnen Menschen, und dahin, über Meere, durch Nebel und Finsternis führt uns, Argonauten, der Weg! Und in der unerhörtesten Neuerung erkennen wir urälteste Wurzeln, und in niemals geschautem Leuchten spüren wir unsre Heimat!“

*

„Wanja, sehen Sie bitte im Speisezimmer nach, wieviel Uhr es ist,“ sagte Ida Holberg und liess eine farbige Stickerei auf den Schoss fallen.

Das grosse Zimmer im neuerbauten Hause, das einer hellen Schiffskajüte ähnelte, war dürftig mit einfachen Möbeln ausgestattet; ein gelber Vorhang, der die ganze Wand bedeckte, schloss gleichzeitig alle drei Fenster, und auf die ledernen grossen Koffer, die noch nicht gepackten, mit Messingnägeln beschlagenen Handkoffer, den Kasten mit verspäteten Hyazinthen, legte sich gelbes unruhiges Licht. Wanja klappte den Dante zu, aus dem er vorgelesen hatte, und ging ins Nebenzimmer.

„Halb sechs,“ sagte er, als er zurückkam. „Larion Dmitrijewitsch lässt lange auf sich warten,“ murmelte er dann vor sich hin, als beantworte er die Gedanken des jungen Mädchens. „Werden wir nicht weiter lesen?“

„Es lohnt sich nicht einen neuen Gesang anzufangen, Wanja. Also:

„e vidi che con riso

Udito havevan l’ultimo construtto;

Poi a la bella donna tornai il viso“

und er sah, dass sie mit einem Lächeln die letzte Meinung gehört hatten, dann wandte er sich der schönen Dame zu.“

„Die schöne Dame, das ist die Betrachtung des aktiven Lebens?“

„Man kann den Kommentatoren nicht unbedingt Glauben schenken, Wanja, wenn es sich nicht bloss um historische Auskünfte handelt; verstehen Sie ihn einfach und schön, — das ist die Hauptsache, sonst kommt wahrhaftig statt des Dante so was wie Mathematik heraus.“

Sie hatte ihre Arbeit endgültig zusammengelegt und sass, mit dem Papiermesser auf die helle Stuhllehne klopfend, wie in Erwartung da.

„Larion Dmitrijewitsch wird wohl bald kommen,“ meinte Wanja, wieder die Gedanken des Mädchens erratend, fast mit dem Ton des Beschützers.

„Haben Sie ihn gestern gesehen?“

„Weder gestern, noch vorgestern. Gestern fuhr er am Tage nach Zarskoje Selo, am Abend war er im Klub und vorgestern fuhr er auf die Wiborger Seite, ich weiss nicht wozu,“ berichtete Wanja ehrerbietig und stolz.

„Zu wem er wohl gefahren sein mag?“

„Ich weiss nicht, in Geschäften.“

„Sie wissen nicht?“

„Nein.“

„Hören Sie Wanja,“ begann das Mädchen, das Papiermesser betrachtend. „Ich bitte Sie, — nicht meinethalben allein, auch Ihretwegen, Larion Dmitrijewitschs wegen, im Interesse von uns allen drei, erfahren Sie, was dies für eine Adresse ist. Es ist sehr wichtig, sehr wichtig für alle drei,“ und sie reichte Wanja einen Zettel, auf den Stroop mit seiner grosszügigen weiten Handschrift geschrieben hatte: ‚Wiborger Seite. Simbirskaja Str. Nr. 36, Wohnung 103. Fjodor Wassiljewitsch Solowjew.‘

*

Niemand war sonderlich erstaunt darüber, dass Stroop unter anderen Interessen sich mit dem russischen Altertum zu beschäftigen begann, und dass sich bei ihm teils redselige europäisch gekleidete, teils alte ‚gottesfürchtige‘ in langen russischen Röcken steckende, aber ebenso gaunerische Händler mit Manuskripten, Heiligenbildern, alten Stoffen, imitierten Bronzen einzufinden begannen: dass er sich für alten Kirchengesang zu interessieren anfing, die Smolenski, Rasumowski und Metallow las, auf die Nikolajewskaja Strasse ging, um Kirchengesang zu hören und schliesslich unter Anleitung eines pockennarbigen Kirchenchorsängers begann altrussische Noten zu studieren. „Mir war diese Sackgasse des Weltgeistes ganz unbekannt,“ wiederholte Stroop, bemüht Wanja für seine neue Liebhaberei zu interessieren, der sich jedoch, zu seiner Verwunderung, gerade in dieser Richtung nicht so leicht begeistern liess.

Eines Tags erklärte Stroop beim Tee:

„Das müssen Sie aber unbedingt sehen, Wanja, ein authentischer Raskolnik alter Richtung. Stellen Sie sich vor: er ist 18 Jahre alt, trägt die Podjowka, trinkt keinen Tee; seine Schwestern leben in einem altgläubigen Kloster; er hat ein Haus an der Wolga mit hohem Palisadenzaun und Kettenhunden, wo man sich um neun Uhr abends schlafen legt, so etwas wie Petscherski es beschreibt, nur weniger süsslich. Das müssen Sie unbedingt sehen. Gehen wir morgen zu Sassadin, er besitzt eine interessante ‚Himmelfahrt‘; dorthin kommt auch unser Typ, und ich mache Sie mit ihm bekannt. Notieren Sie sich auf alle Fälle die Adresse; ich fahre vielleicht direkt von der Ausstellung hin und Sie werden ihn selbst aufsuchen müssen.“ Und Stroop diktierte, wie etwas Wohlbekanntes, ohne in sein Notizbuch zu blicken: „Simbirskaja Strasse Nr. 36, Wohnung 103, Möblierte Zimmer. — Sie werden sich dort schon zurechtfragen.“

*

Hinter der Wand hörte man das dumpfe Gespräch zweier Stimmen; die Uhr mit den Gewichten tickte leise; auf Stühlen und Fensterbrettern waren verräucherte Heiligenbilder und in lederbezogene Bretter gebundene Bücher aufgestapelt; es war staubig und roch muffelig und aus dem Korridor drang durch das Fenster über der Tür der faulige Geruch von Sauerkohlsuppe. Sassadin, der vor Wanja stehend, sich seinen russischen langen Rock anzog, sagte:

„Larion Dmitrijewitsch wird erst nach vierzig Minuten, vielleicht sogar nach einer Stunde kommen; ich muss hier in der Nähe ein Heiligenbild holen gehen und weiss nun nicht, wie wir das jetzt machen. Warten Sie vielleicht hier oder gehen Sie unterdessen irgendwohin?“

„Ich bleibe hier.“

„Nun gut, und ich komme gleich wieder. Sehen Sie sich nicht, bis ich komme, die Bücher an?“ und Sassadin, der Wanja ein verstaubtes Exemplar des Limonarj hingelegt hatte, verschwand eilig durch die Tür, durch die jetzt stärker der faulige Geruch von Sauerkohlsuppe hereindrang. Wanja trat ans Fenster und schlug die Legende auf, die berichtet, wie ein frommer Greis nach dem zufälligen Besuche eines Weibes, das einsam, in derselben Wüste wie er, lebte, immer wieder mit sündigen Gedanken zu jenem Weibe zurückkehrte und es schliesslich nicht mehr ertragen konnte, in sengender Glut seinen Stab ergriff und, wie ein Blinder vor sündiger Begier taumelnd, sich zu der Stelle aufmachte, wo er das Weib zu finden hoffte; und in der Verzückung sah er die Erde sich auftun und in ihr lagen drei Leichen: ein Weib, ein Mann und ein Kind. Und er hörte eine Stimme: ‚Das ist ein Weib, das ist ein Mann und das ist ein Kind, wer vermag sie jetzt zu unterscheiden? Gehe hin und stille deine Begierde.‘ Alle sind gleich, alle sind gleich vor dem Tode, vor der Liebe und vor der Schönheit, alle schönen Leiber sind gleich, und nur die sündige Begier lässt den Mann dem Weibe nachstellen und das Weib dürsten nach dem Manne.

Hinter der Wand fuhr die junge, etwas heisere Stimme fort:

„Na, Onkel Jermolai, wenn du immer schimpfst, geh’ ich fort.“

„Ja, wie soll man dich faulen Schlingel nicht schelten? Hat der Kerl angefangen Dummheiten zu treiben!“

„Wassjka hat dir wohl alles vorgelogen; was hörst du auf ihn?“

„Was hat Wassjka für einen Grund zu lügen? Nu, sag doch selbst, leugne es doch ab, dass du Dummheiten treibst?“

„Nun, und was ist dabei? Nu ja, ich tu’s! Und Wassjka, macht er’s vielleicht nicht? Bei uns tun’s alle, vielleicht ist nur Dmitri Pawlowitsch eine Ausnahme, der . . . .“ und man hörte den Sprecher auflachen. Nach einigem Schweigen begann er wieder intim und halblaut: „Wassjka hat mir’s angezeigt; kam da ’nmal ’n junger Herr und sagt zu Dmitri Pawlowitsch: ‚Ich will, dass mich der wäscht, der mir die Tür geöffnet hat,‘ die Tür nun hatte ich ihm aufgemacht und früher hatte ihn Wassjka immer gebadet, der sagte ihm denn auch: ‚Das geht nicht an, Euer Gnaden, dass der allein geht, er ist nicht an der Reihe und versteht nichts von so was.‘ — ‚Na, hol’ euch der Teufel, so kommt alle beide!‘ Als Wassjka in die Badekabine trat, sagt’ er: ‚Was werden Sie uns denn geben?‘ — ‚Bier und zehn Rubel.‘ Bei uns aber ist’s ausgemacht, wenn jemand den Vorhang am Türfenster herunterlässt, so heisst das, dass man Dummheiten treiben wird, und dann darf man dem Oberbader nicht weniger als fünf Rubel abgeben. So sagt ihm Wassjka denn auch: ‚Nein, Hochgeboren, dafür können wir’s nicht machen.‘ Er versprach noch fünf Rubel. Wassjka ging das Wasser im Baderaum vorzubereiten und ich fing an mich auszukleiden, da sagt der Herr: ‚Was hast du da auf deiner Wange, Fjodor? Ist das ein Muttermal oder Schmutz?‘ und lacht dabei und streckt seine Hand nach mir aus. Und ich steh’ da, wie ein Narr, und weiss selbst nicht, hab’ ich ein Muttermal auf der Wange oder nicht. Aber da kam Wassjka wütend zurück und sagte zu dem Herrn: ‚Bitte, das Bad ist fertig,“ so gingen wir denn alle zusammen.‘

„Ist Matwej noch bei euch?“

„Nein, er hat eine Dienerstelle angenommen.“

„Bei wem denn? Beim Oberst?“

„Ja, bei ihm. Dreissig Rubel gibt er ihm und alles frei.“

„Hat Matwej nicht geheiratet?“

„Ja, und der Oberst hat ihm das Geld zur Hochzeit gegeben und ihm einen Paletot für achtzig Rubel machen lassen. Na, und seine Frau, die lebt eben im Dorf. Auf so einer Stelle erlaubt man doch natürlich nicht mit einem Weibe zu leben. Ich will auch eine Stelle annehmen,“ setzte der Erzähler nach einer Pause hinzu.

„Wie Matwej?“

„Ja. Es ist ein guter Herr, er lebt allein. Dreissig Rubel, wie Matwej.“

„Du verkommst, Fedja, sieh zu!“

„Vielleicht verkomm’ ich auch nicht.“

„Was ist denn das für ein Herr, ein Bekannter von dir?“

„Auf der Furstadtskaja Strasse wohnt er, wo Dmitri früher als Laufbursche diente, im zweiten Stock. Er kommt auch hierher, zu Stepan Stepanowitsch.“

„Doch nicht ein Altgläubiger?“

„I wo denn! Er ist gar kein Busse, ein Engländer, glaub’ ich.“

„Lobt man ihn?“

„Ja, man sagt ein guter, lieber Herr.“

„Na, mit Gott!“

„Adieu, Onkel Jermolai, dank’ auch für die Bewirtung.“

„Na, komm doch wieder mal ran, Fedja.“

„Ich komm schon,“ und leichten Schrittes ging Fjodor, mit den Stiefelabsätzen klopfend, durch den Korridor und warf die Tür hinter sich zu. Wanja trat schnell hinaus, ohne sich ganz bewusst zu werden, weshalb er das tat. Er erblickte einen Burschen in einer Jacke über dem russischen Hemde, dessen Gürtelschnüre heraushingen. Er trug niedrige Lackstiefel und hatte sich die Mütze aufs Ohr gestülpt. Wanja rief ihm nach:

„Hören Sie, wissen Sie nicht, wird Stepan Stepanowitsch Sassadin bald zurück sein?“

Der Bursche kehrte sich um und im Lichte, das durch die offene Zimmertür drang, sah Wanja in ein Paar unstete, diebische graue Augen und ein bleiches Gesicht, wie Leute es haben, die immer im Zimmer oder in ewigem Dampfe leben. Das Haar war nach russischer Volkssitte in der Mitte gescheitelt und rundherum glatt beschoren. Sein Mund war schön geschnitten. Ungeachtet einer gewissen Grobheit der Züge, lag in diesem Gesichte etwas Verweichlichtes, und obgleich Wanja voller Vorurteil in diese diebischen freundlichen Augen blickte und das freche Lächeln des Mundes sah, fand er doch in diesem Gesicht und in der ganzen hohen Gestalt, deren Ebenmass selbst unter dem Anzug in die Augen fiel, etwas Bestrickendes, Beunruhigendes.

„Belieben Sie ihn zu erwarten?“

„Ja, es ist schon bald sieben Uhr.“

„Halb sieben,“ verbesserte Fjodor, der seine Uhr herausgezogen hatte, „und wir glaubten, dass niemand bei Stepan Stepanowitsch im Zimmer sei. Er wird gewiss bald zurück sein,“ fügte er hinzu, um etwas zu sagen.

„Ja. Danke Ihnen, pardon, dass ich Sie aufgehalten habe,“ sagte Wanja, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Aber, bitte,“ sagte jener mit einer verbindlichen Geste.

Es wurde laut geklingelt, und Stroop, Sassadin und ein junger hochgewachsener Mann traten ein. Stroop warf einen schnellen Blick auf Fjodor und Wanja, die noch immer einander gegenüberstanden.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen,“ wandte er sich an Wanja, während Fjodor auf ihn zustürzte, um ihm den Mantel abzunehmen.

Wanja sah dies alles wie im Traume und er fühlte, dass er in einen Abgrund hinuntersinke, dass alles sich in Nebel hülle.

*

Als Wanja das Speisezimmer betrat, schloss Anna Nikolajewna gerade ihren Satz: „und es tut einem leid, dass ein solcher Mensch sich so kompromittiert.“ Konstantin Wassiljewitsch wies stumm mit den Augen auf Wanja, der ein Buch genommen und sich ans Fenster gesetzt hatte und meinte dann:

„So sagt man da ‚gekünstelt, unnatürlich, überflüssig‘, aber wenn man bei dem Gebrauche unseres Körpers bleiben sollte, der als natürlich gilt, so müsste man mit den Händen rohes Fleisch zerreissen, um es zu verschlingen und Feinde bekämpfen; mit den Beinen Hasen verfolgen oder vor Wölfen flüchten usw. Das erinnert an ein Märchen aus ‚Tausendundeiner Nacht‘, wo ein von der Finalität gequältes Mädchen immerfort fragt, wozu dieses und wozu jenes geschaffen sei. Und als das Mädchen nach einem bekannten Körperteile fragt, da verabfolgt die Mutter ihm eine Tracht Prügel und wiederholt dabei: ‚Jetzt siehst du, wozu dies geschaffen ist.‘ Diese Mama hat zwar die Richtigkeit ihrer Behauptung anschaulich bewiesen, aber damit dürfte die Handlungsfähigkeit besagter Körperstelle schwerlich erschöpft sein. Und sämtliche moralische Erklärungen der Natürlichkeit von Handlungen bestehen darin, dass die Nase geschaffen ist, um grün angestrichen zu werden. Der Mensch muss alle Fähigkeiten des Geistes und Körpers bis zur letzten Möglichkeit entwickeln und nach Verwendung dieser seiner Möglichkeiten forschen, wenn er nicht Caliban bleiben will.“

„Nun, die Gymnastiker können ja schon auf den Köpfen gehen …“

„Das bedeutet in jedem Falle ein Plus und vielleicht ist das sehr angenehm, würde Larion Dmitrijewitsch sagen,“ und Onkel Kostja blickte herausfordernd zu Wanja hinüber, der fortfuhr zu lesen.

„Was hat Larion Dmitrijewitsch damit zu tun?“ bemerkte sogar Anna Nikolajewna.

„Du denkst doch wohl nicht, dass ich meine eigenen Anschauungen entwickele?“

„Ich gehe zu Nata,“ erklärte Anna Nikolajewna und erhob sich.

„Sie ist doch gesund? Ich sehe sie gar nicht mehr,“ erinnerte sich Wanja.

„Das ist ganz natürlich. Du verschwindest ja tagelang.“

„Wohin verschwinde ich denn?“

„Das muss man schon dich fragen,“ sagte die Tante, das Zimmer verlassend.

Onkel Kostja trank seinen kalten Kaffee aus, und im Zimmer roch es stark nach Naphthalin.

„Sprachen Sie über Stroop, Onkel Kostja, als ich kam?“ entschloss sich Wanja zu fragen.

„Über Stroop? Wirklich, ich entsinne mich nicht. Annette erzählte mir etwas.“

„Ich dachte, es sei von ihm die Rede gewesen.“

„Nein, was sollte ich mit ihr über Stroop zu reden haben?“

„Glauben Sie wirklich, dass Stroop die Überzeugung hat, die Sie eben aussprachen?“

„So spricht er jedenfalls; seine Handlungen kenne ich nicht und die Überzeugungen mancher Menschen sind ein dunkles und heikles Gebiet.“

„Glauben Sie denn, dass seine Handlungen sich nicht mit seinen Worten decken?“

„Ich weiss nicht; ich kenne seine Handlungen nicht, und dann kann man nicht immer seinen Wünschen entsprechend handeln. Wir wollten zum Beispiel schon längst aufs Land ziehen und doch . . .“

„Wissen Sie, Onkel, dieser Altgläubige, Sorokin, ladet mich zu sich an die Wolga ein: ‚Kommen Sie,‘ sagt er, ‚Väterchen wird nichts dagegen haben; sehen Sie sich einmal an, wie man bei uns zu Lande lebt, wenn Sie das interessiert.‘ Er hat plötzlich Zuneigung zu mir gefasst, ich weiss gar nicht warum.“

„Nun was, reise doch.“

„Tante wird kein Geld geben und überhaupt lohnt es sich nicht.“

„Weshalb lohnt es sich nicht?“

„Ach es ist alles ekelhaft, so ekelhaft!“

„Weshalb ist denn alles plötzlich so ekelhaft geworden?“

„Ich weiss wirklich nicht“, sagte Wanja und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Konstantin Wassiljewitsch blickte auf Wanjas herabgesunkenen Kopf und ging leise aus dem Zimmer.

*

Der Portier war nicht auf seinem Platze, die Treppentür stand offen und hinter der Tür zum Arbeitszimmer konnte man eine zornige Stimme hören. Wenn sie schwieg kam eine andere leise, eine weibliche Stimme, wie es schien, in die Entree herüber. Wanja blieb im Vorzimmer stehen, ohne Mantel und Mütze abzunehmen; der Griff der Tür des Arbeitszimmers wurde hinuntergedrückt und im Türspalt erschien eine Hand, die den Türgriff gefasst hielt und der zu ihr gehörende, im roten Ärmel eines russischen Hemdes steckende Arm. Man vernahm deutlich Stroops Worte: „Ich erlaube nicht, dass jemand sich dahineinmischt! Am allerwenigsten eine Frau. Ich verbiete Ihnen, hören Sie? ich verbiete Ihnen darüber zu sprechen!“ Die Tür wurde wieder geschlossen und die Stimme wieder undeutlicher. Wanja sah sich traurig im so gut bekannten Vorzimmer um; die elektrischen Lampen vor dem Spiegel und über dem Tische, die Kleider an den Ständern; auf dem Tische lagen zwei Damenhandschuhe, aber es war kein Hut und kein Mantel zu sehen. Die Tür wurde wieder krachend geöffnet und Stroop ging mit wütendem, erblasstem Gesicht, ohne Wanja zu bemerken, in den Korridor; einen Augenblick später folgte ihm, fast laufend, Fjodor in einem roten Seidenhemde ohne Gürtel, eine Karaffe in der Hand. „Was wünschen Sie?“ wandte er sich an Wanja, augenscheinlich ohne ihn zu erkennen. Fjodors Gesicht war erregt und gerötet, als hätte er getrunken oder sich geschminkt, das Hemd war nicht gegürtet, die sorgfältig auseinandergekämmten Haare schienen etwas gekräuselt zu sein, er roch stark nach Stroops Parfüm.

„Was wünschen Sie?“ wiederholte er Wanja, der ihn anstarrte.

„Larion Dmitrijewitsch.“

„Ist nicht zu Hause.“

„Wieso? ich habe ihn doch eben gesehen.“

„Entschuldigen Sie, aber er ist sehr beschäftigt, er kann Sie unmöglich empfangen.“

„Gehen Sie nur und melden Sie mich.“

„Nein wirklich, kommen Sie schon lieber ein anderes Mal: eben kann er Sie unmöglich empfangen. Er ist nicht allein,“ fügte Fjodor, seine Stimme dämpfend, hinzu.

„Fjodor!“ rief Stroop aus dem Hintergrunde des Korridors, und Fjodor stürzte geräuschlos fort.

Wanja wartete ein paar Minuten und ging dann auf die Treppe hinaus, die Tür zuziehend, hinter der wieder gedämpfte, aber laute und zornige Stimmen hörbar wurden. Unten, im Vestibül stand eine kleine Dame in graugrünem Kleide und schwarzer Jacke vor dem Spiegel und nestelte an ihrem Schleier. Hinter ihrem Rücken vorbeigehend, erkannte Wanja sie, ohne dass sie ihn bemerkte, es war Nata. Nachdem sie ihren Schleier in Ordnung gebracht hatte, stieg sie langsam die Treppe hinauf und drückte den Knopf der Klingel an Stroops Wohnung, während der zurückgekommene Portier Wanja auf die Strasse hinausliess.

*

„Was ist das?“ unterbrach sich Alexej Wassiljewitsch bei der Lektüre des Morgenblattes: „Rätselhafter Selbstmord. Gestern, den 21. Mai, machte auf der Furstadtskaja Strasse in der Wohnung des englischen Untertans L. D. Stroop, das junge, hoffnungsvolle Fräulein Ida Holberg die Abrechnung mit dem Leben. Die jugendliche Selbstmörderin bittet in einem hinterlassenen Schreiben, ihren Tod niemand zur Last zu legen, allein die Umgebung, in der der traurige Vorfall sich abgespielt hat, ruft die Annahme hervor, dass er einen romantischen Hintergrund habe. Nach Angaben des Wohnungsinhabers, hat die Verschiedene, während einer heftigen Auseinandersetzung, nachdem sie etwas auf ein Stück Papier geschrieben, plötzlich seinen, Stroops, für eine Reise vorbereiteten Revolver ergriffen und, bevor die Anwesenden noch etwas zu tun vermochten, sich eine Kugel in die rechte Schläfe geschossen. Die Lösung des Rätsels wird dadurch erschwert, dass der Diener des Herrn Stroop, Fjodor Wassiljew Solowjew, Bauer aus dem Gouvernement Orel, am selben Tage spurlos verschwunden ist, und dass die Personalien der Dame, die eine halbe Stunde vor dem fatalen Ereignis die Stroopsche Wohnung betreten hat, wie der Grad ihres Einflusses auf die tragische Lösung bisher nicht festgestellt werden konnten. Die Untersuchung ist eingeleitet.“

Am Frühstückstische schwiegen alle und im Zimmer, das von Naphthalingeruch erfüllt war, hörte man nur das Ticken der Uhr.

„Nata, was war denn da? Nata? Du weisst es doch?!“ schrie Wanja ausser sich, aber Nata fuhr fort mit der Gabel auf dem leeren Teller zu zeichnen und sagte kein Wort.

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