Zweiter Teil

„Denk nur, Wanja, wie sonderbar das ist: ein fremder Mensch, ein ganz fremder Mensch, andere Beine hat er und andere Haut und andere Augen, und doch ist er ganz dein Eigen, ganz, ganz. Überall kannst du ihn betrachten, küssen, berühren; und jedes Fleckchen auf seinem Körper, wo es auch sein möge, und die goldenen Härchen, die auf den Armen wachsen, und jede Furche, jede Vertiefung der Haut, die über alles Mass geliebt hat, es ist alles dein. Und du kennst alles: wie er geht, wie er isst, wie er schläft, wie sich die Fältchen in seinem Gesicht verziehen, wenn er lächelt, wie er denkt, weisst du und wie sein Körper riecht. Und dann kommt es über dich, dass du glaubst, du bist nicht mehr du selbst, sondern es ist, als wärest du und er ein und dasselbe: mit deinem Fleische, mit deiner Haut pressest du dich an ihn, und wenn dann die Liebe in dir ist, Wanja, dann gibt es kein grösseres Glück auf Erden; aber ohne Liebe ist es unerträglich, unerträglich. Und ich sage dir, Wanja, es ist leichter, liebend nicht zu besitzen, als besitzen ohne Liebe! Die Ehe, die Ehe: nicht das ist ein Sakrament, was der Priester einsegnet, und wenn dann Kinder kommen: die Katze da, die wirft viermal im Jahre; aber wenn die Seele in Verlangen entbrennt sich einem andern hinzugeben und ihn ganz zu nehmen, und sei es nur für eine Woche, nur für einen Tag, und wenn bei beiden die Seele in Flammen loht, dann ist’s ein Zeichen, dass Gott sie vereint hat. Sünde ist es mit kaltem Herzen oder aus Berechnung nehmen oder sich hingeben, wen aber der feurige Finger berührt hat, der bleibt rein vor dem Herrn, was er auch tun möge. Was er auch getan haben möge, wen der Geist feuriger Liebe berührt hat, alles wird ihm vergeben werden, denn er ist dann schon nicht mehr Herr seiner selbst, der Geist erfüllt ihn, er handelt in Verzückung . . .“

Und Marja Dmitrijewna war erregt aufgestanden, ging bis zum nächsten Apfelbaum, und kam zurück und liess sich wieder auf der Bank neben Wanja nieder, von wo aus man einen Teil der Wolga, unendliche Wälder auf dem anderen Ufer und weit nach rechts eine weisse Dorfkirche jenseits des Flusses sehen konnte.

„Es ist schrecklich, Wanja, wenn die Liebe uns berührt; freudig und doch schrecklich; als flöge man, ist es, und fiele immer tiefer, oder als stürbe man, wie man das zu träumen pflegt; und dann sieht man immer nur eins, das, was im Gesicht des Geliebten uns traf: ob’s nun die Augen sind oder die Haare oder sein Gang. Und es ist doch sonderbar: man sieht das Gesicht — was ist denn Besonderes darin? Eine Nase in der Mitte, ein Mund, zwei Augen. Was erregt uns denn so, was fesselt uns in diesem Gesicht? Und man sieht doch viele Gesichter, und hübsche darunter, man hat seine Freude daran, wie an einer Blume oder an einem Stück Brokatstoff, und ein anderes Gesicht ist gar nicht hübsch und doch dreht’s uns die Seele im Leibe um, und nicht allen, nein, nur dir allein und nur dieses Gesicht: woher kommt das? Und noch eins,“ setzte die Sprecherin zögernd hinzu, „Männer lieben Weiber und Weiber lieben Männer, man sagt es kommt vor, dass auch Weiber Weiber lieben und Männer Männer, man sagt es soll vorkommen, ich habe selbst in den Legenden der Heiligen davon gelesen: von der heiligen Jewgenia, von den heiligen Nifont, Pawnutj Borowski; dann auch vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, dem Grausen. Ja, und es ist auch nicht schwer daran zu glauben, kann denn nicht Gott auch diesen Stachel in das Menschenherz drücken? Und es ist schwer, Wanja, gegen das zu kämpfen, was in uns gelegt ist, und es ist vielleicht auch Sünde.“

Die Sonne war fast schon hinter dem fernen zackigen Forst verschwunden und der an drei Windungen sichtbare Spiegel der Wolga leuchtete in Gelb und rosigem Golde auf. Marja Dmitrijewna blickte stumm zu den dunklen Wäldern am anderen Ufer und zum verblassenden Abendrot am Himmel hinüber; auch Wanja schwieg, den Mund halb geschlossen, als fahre er fort, Marja Dmitrijewna mit seinem ganzen Wesen zu lauschen, dann sagte er plötzlich halb traurig und halb verurteilend:

„Aber es kommt doch vor, dass die Menschen auch so sündigen: aus Neugier oder aus Stolz, aus Eigennutz.“

„Ja, es kommt vor, was kommt nicht alles vor! Das ist dann ihre Sünde,“ gestand Marja Dmitrijewna gedrückt, ohne ihre Stellung zu ändern, und ohne sich Wanja zuzuwenden, „aber die, denen es eingegeben ist, die haben es schwer, ach Wanja, so schwer! Ich murre nicht; anderen mag ja das Leben leichter werden, aber es ist ohne Zweck, wie Suppe ohne Salz: sättigend, aber nicht schmackhaft.“

*

Nachdem man zuerst in den Wohnzimmern, auf der Veranda, im Flur, auf dem Hofe unter den Apfelbäumen das Mittagessen hatte decken lassen, setzte man sich jetzt im Keller zu Tische. Im Keller war es dunkel, es roch nach Malz, Kohl und ein wenig auch nach Mäusen, aber es hiess, dass es hier nicht so heiss sei, und dass es keine Fliegen gäbe; der Tisch wurde gerade vor die Tür gestellt, um mehr Licht zu haben, und wenn Malanja, die fast im Laufschritt mit den Speisen über den Hof daherkam, vor der Kellertür stehenblieb, um im Dunkeln die Stufen hinunterzusteigen, wurde es noch finsterer und die Köchin unterliess es niemals zu knurren: „Das ist aber eine Finsternis, Gott verzeih’s! Sag nun ein Mensch, was sie sich ausdenken, wohin sie sich verkrochen haben!“ Mitunter, wenn es zu lange dauerte, lief der kraushaarige Sergej, der Gehilfe aus dem Laden, welcher zusammen mit Iwan Ossipowitsch zu Hause ass, das Essen holen; und wenn er dann die Speisen über den Hof trug und die Schüssel mit beiden Händen hoch emporhob, trottete auch die Köchin, einen Löffel oder eine Gabel in der Hand, hinter ihm her und schrie: „Ja, was soll denn das, als ob ich das Essen nicht selbst bringen könnte?! Wozu war es nötig, Sergej zu jagen? Ich hätte es ja bald gebracht . . .“

„Sie hätten es bald gebracht und ich bringe es gleich,“ parierte Sergej, der selbstzufrieden mit dem Geschirr klappernd, die Schüssel vor Arina Dmitrijewna hinstellte und sich auf seinen Platz zwischen Iwan Ossipowitsch und Sascha setzte.

„Und wozu hat nur Gott eine solche Hitze erdacht?“ forschte Sergej. „Niemand braucht sie: das Wasser trocknet aus, die Bäume verdorren, — alle haben es schwer . . .“

„Die Felder brauchen die Hitze.“

„Und auch den Feldern bringt Hitze zu unrechter Zeit und ohne Mass keinen rechten Nutzen. Aber ob nun zu rechter Zeit oder nicht, alles ist von Gott gesandt.“

„Wenn’s nicht zur rechten Zeit ist, dann ist es eben eine Prüfung für Sünden.“

„Da aber wurde bei uns“, mischte sich Iwan Ossipowitsch in die Unterhaltung, „ein Greis vom Hitzschlage getroffen, der niemand gekränkt hatte und gerade auf der Pilgerfahrt war, und doch hat ihn der Hitzschlag getötet. Wie soll man denn das deuten?“

Sergej triumphierte schweigend.

„So hat er eben für andre, nicht für seine eigenen Sünden gebüsst,“ entschied Prochor Nikititsch mit nicht ganz überzeugtem Ton.

„Wie ist denn das? Andre werden saufen und sich herumtreiben und der Herr wird, statt ihrer, schuldlose Greise totschlagen?“

„Oder — entschuldigen Sie den Vergleich — Sie zahlten Ihre Schulden nicht und mich würde man ins Loch stecken an Ihrer Statt; wäre das denn gut?“ bemerkte Sergej.

„Iss lieber deine Suppe, statt dummes Zeug zu schwatzen, warum und wozu! Selbst lebst du wozu? Du denkst von der Hitze, dass sie zu nichts da sei, und sie denkt vielleicht von dir, dass du, Sergej, zu nichts da bist.“

Nachdem man sich gesättigt hatte, trank man lange und schwerfällig Tee mit Äpfeln oder Eingemachtem. Sergej fing wieder an zu räsonieren.

„Oft ist es sehr beschwerlich, zu begreifen, wie was verstanden werden muss; nehmen wir ein Beispiel: ein Soldat tötet einen Menschen und ich töte einen Menschen; er bekommt das Georgskreuz dafür und mich schickt man nach Sibirien, — weshalb ist das so?“

„Wo sollst du das verstehen? Ich frage aber: es lebt ein Mann mit seiner Frau und ein Junggeselle hat ein Verhältnis mit einem Weibsbilde; mancher wird sagen, das ist ganz dasselbe, und ist doch ein grosser Unterschied. Worin besteht aber dieser Unterschied?“

„Das weiss ich nicht,“ meinte Sergej aufhorchend.

„Stellen wir uns vor: der erste Fall,“ sagte Prochor Nikititsch, als suche er nicht nur nach Worten, sondern auch nach Gedanken, „— der erste Fall: der Verheiratete hat nur mit seinem Weibe zu schaffen, das ist eins; das andere ist, dass sie still, friedlich miteinander leben, sich aneinander gewöhnt haben, und der Mann liebt seine Frau genau so, wie er seine Grütze isst und seine Leute schilt, jene aber haben nur Dummheiten im Kopfe, nur hi-hi und ha-ha, weder Beständigkeit noch Anstand; deshalb ist das eine Gesetz und das andere Sünde. Nicht in der Handlung liegt die Sünde, sondern in der Anwendung, das heisst, welche Verwendung eine Handlung findet.“

„Erlauben Sie, aber es kommt doch vor, dass auch ein Ehemann seine Gattin mit Beben des Herzens anbetet, und ein anderer hat sich an seine Geliebte so gewöhnt, dass es ihm einerlei ist, ob er sie küsst oder eine Mücke zerdrückt: wo soll man denn da unterscheiden, was Gesetz ist und was Sünde?“

„So etwas ohne Liebe zu tun ist nichts anderes, als unrein,“ warf Marja Dmitrijewna plötzlich dazwischen.

„Du sagst da ‚unrein‘, aber es genügt nicht, ein Wort zu wissen, man muss auch seine Kraft kennen. Es steht geschrieben: ‚unrein‘ ist ein Götzenopfer; Hasen essen zum Beispiel ist ‚unrein‘; jenes aber ist Sünde!“

„Nun hört ihr bald auf mit euren Gesprächen! Das gehört nicht vor Knabenohren,“ rief Arina Dmitrijewna.

„Nun, was ist denn dabei, sie können das schon selbst verstehen. Nicht wahr, Iwan Petrowitsch?“ wandte sich der alte Sorokin an Wanja.

„Was das?“ fuhr der auf.

„Wie denken Sie über das alles?“

„Wissen Sie, es ist sehr schwer, über fremde Angelegenheiten zu urteilen.“

„Da haben Sie die Wahrheit gesagt, lieber Wanja,“ freute sich Arina Dmitrijewna, „und urteilen Sie auch niemals darüber: es steht auch geschrieben: ‚Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet‘.“

„Nun, es gibt Leute, die richten nicht und werden doch gerichtet,“ warf Sorokin hin und erhob sich vom Tische.

*

Auf der Anlegestelle und auf dem Dampferstege waren nur die Hökerinnen zurückgeblieben, die Semmeln, Fische, Himbeeren und saure Gurken feil hatten; die Lastträger in bunten Hemden standen ans Geländer gelehnt und spien ins Wasser, und Arina Dmitrijewna, die den alten Sorokin auf den Dampfer begleitet hatte, setzte sich neben Marja Dmitrijewna in der breiten Jagddroschke zurecht.

„Wie haben wir nur die Kuchen vergessen können, Marja? Prochor Nikititsch liebt sie so zum Tee.“

„Ich habe sie ja an die sichtbarste Stelle gelegt und hernach ist’s doch zu nichts nütze gewesen.“

„Du hättest doch daran erinnern können, Parfjon!“

„Wie sollte ich denn? Wenn Sie sie irgendwo draussen vergessen hätten, würde ich schon gerufen haben, aber in die Zimmer bin ich doch nicht hineingegangen,“ rechtfertigte sich der alte Arbeiter.

„Iwan Petrowitsch, Sascha! Wohin geht ihr denn?“ rief Arina Dmitrijewna den jungen Leuten zu, die schon die Höhe hinaufzusteigen begannen.

„Wir gehen zu Fuss, Mamachen, auf dem Fusswege kommen wir noch früher an als ihr.“

„Nun, geht, geht, habt ja junge Füsse. Aber fahren Sie nicht lieber, Iwan Petrowitsch?“ wollte sie Wanja überreden.

„Nein, es macht nichts, wir gehen zu Fuss, danke schön,“ rief der von oben herüber.

„Da ist der Ljubimowsche Dampfer angekommen,“ bemerkte Sascha, seine Mütze abnehmend, und wandte sein etwas beschwitztes, gerötetes Gesicht dem Winde zu.

„Ist Prochor Nikititsch für lange fortgefahren?“

„Nein, er bleibt nicht länger, als bis zum Peterstage an der Unsha, da gibt’s nicht viel zu tun, man muss bloss nach dem Stande der Arbeit sehen.“

„Fahren Sie denn niemals mit Ihrem Vater mit, Sascha?“

„Ich fahre fast jedesmal mit ihm, nur weil Sie bei uns zu Gaste sind, bin ich dieses Mal nicht mitgefahren.“

„Weshalb sind Sie denn nicht gefahren? Weshalb lassen Sie sich durch mich stören?“

Sascha stülpte wieder die Mütze auf sein nach allen Seiten auseinandergewehtes, schwarzes Haar und meinte lächelnd:

„Das ist ja gar keine Störung, lieber Wanja, ich bin sehr froh, mit Ihnen sein zu können. Natürlich, wenn ich nur mit Mama und Tante allein zu Hause geblieben wäre, würde ich mich gelangweilt haben, so aber bin ich sehr froh“; nach einigem Schweigen fuhr er, wie im Nachdenken fort: „ich bin doch häufig an der Unsha, Wetluga, Moskwa und seh’ doch nichts, ausser meinem Geschäft, wie ein Blinder! Überall nur Wald, und von Holz und über Holz: wieviel es kostet und was die Abfuhr zu stehen kommen wird, und wieviel Bretter sich herausschneiden lassen und wieviel Balken — das ist alles! Papachen ist nun einmal schon so veranlagt und erzieht mich ebenso. Und wohin wir auch kommen, gleich geht’s zu den Waldhändlern, in die Teehäuser und überall ein und dasselbe Gespräch. Das ist langweilig, wissen Sie! In der Art, wie zum Beispiel ein Baumeister, der immerfort nur Kirchen baute, und nicht einmal ganze Kirchen, sondern nur die Gesimse an den Kirchen; und er würde die ganze Welt durchwandern und sähe nur Kirchengesimse, ohne die verschiedenartigen Menschen zu bemerken, ohne die Bäume und die Blumen dieser Gegenden zu gewahren — nichts würde er gesehen haben, nur seine Gesimse. Der Mensch muss wie ein Fluss sein, oder wie ein Spiegel — was sich in ihm spiegelt, das muss er auch aufnehmen; dann werden in ihm auch, wie in der Wolga, Sonne und Wolken sein, Wälder und hohe Berge, und Städte mit Kirchen, — für alles muss man das gleiche Interesse haben, dann vereinigt man auch alles in sich. Wenn aber den Menschen nur eins erfasst, den verschlingt es auch, am meisten der Eigennutz oder auch noch das Göttliche.“

„Das heisst, was meinen Sie mit dem Göttlichen?“

„Nun, sagen wir, die kirchlichen Fragen. Wer immer nur an sie denkt und über sie liest, der kann kaum etwas anderes verstehen.“

„Wieso denn? Es gibt doch sogar Bischöfe, die Weltliches nicht scheuen, selbst unter Ihren Glaubensgenossen, zum Beispiel Erzbischof Inokentij.“

„Natürlich gibt es solche, und wissen Sie, meiner Meinung nach, tun sie nicht recht daran: man kann nicht guter Offizier und Kaufmann sein, nicht alles gleich gut verstehen. Deshalb beneide ich Sie auch von ganzer Seele, Wanja, weil niemand aus Ihnen nur eins machen will, sondern, dass Sie alles wissen und alles verstehen, nicht, wie zum Beispiel ich, und doch sind Sie nicht älter, als ich.“

„Nun, wo weiss ich denn alles, im Gymnasium lernen wir ja nichts!“

„Immerhin ist es besser, nichts zu wissen, als nur das eine zu wissen, dass man alles begreifen kann.“

Unten wurde das dumpfe Rollen von Wagenrädern vernehmlich und weit in der Ferne hörte man über dem Wasser laut schimpfen und das Plätschern von Rudern.

„Die Unsrigen kommen lange nicht.“

„Sie sind wohl zu Loginow angefahren,“ bemerkte Sascha und setzte sich neben Smurow ins Gras.

„Sind wir denn im gleichen Alter?“ fragte der, zur Wolga hinüberblickend, wo Wolkenschatten über die Wiesen glitten.

„Gewiss, wir sind fast im selben Monat geboren, ich habe Larion Dmitrijewitsch gefragt.“

„Kennen Sie eigentlich Larion Dmitrijewitsch gut, Sascha?“

„Nicht allzu gut; wir haben uns ja erst vor kurzer Zeit kennen gelernt; und er ist auch nicht ein Mensch, den man auf den ersten Blick kennen lernt.“

„Haben Sie gehört, was für eine Geschichte ihm passiert ist.“

„Ich habe davon gehört, ich war damals noch in Petersburg; aber ich glaube nur, dass das alles nicht wahr ist.“

„Was ist nicht wahr?“

„Dass dieses Fräulein sich nicht selbst das Leben genommen hat. Ich habe das Fräulein einmal gesehen. Larion Dmitrijewitsch zeigte sie mir einmal im Garten: so eine Sonderbare. Ich sagte Larion Dmitrijewitsch schon damals: ‚denken Sie an mein Wort, dieses Fräulein nimmt kein gutes Ende.‘ Sie war, als sei sie nicht von dieser Welt.“

„Larion Dmitrijewitsch braucht sie ja gar nicht erschossen zu haben, kann aber doch der Urheber ihres Selbstmordes sein.“

„Nein, lieber Wanja, wenn sich jemand um etwas kränkt, was ihn nicht angeht und er legt Hand an sich, daran trägt niemand die Schuld daran.“

„Aber legen Sie Stroop das zur Last, weswegen sich Ida Holberg erschossen hat?“

„Weswegen hat sie sich denn erschossen?“

„Ich glaube, Sie wissen das selbst?“

„Wegen Fjodor?“

„Mir scheint es so,“ antwortete Wanja verlegen.

Sorokin schwieg lange, und als Wanja die Augen aufschlug, sah er, dass jener ganz gleichgültig, ja, ärgerlich auf die Strasse hinunterblickte, wo jetzt der Wagen mit Parfjon sichtbar wurde.

„Weshalb antworten Sie nicht, Sascha?“

Der warf einen flüchtigen Blick auf Wanja und sagte geärgert und einfach:

„Fjodor ist ein simpler Bursche, ein Bauernjunge, hat es einen Sinn, sich seinetwegen zu erschiessen? In solchem Falle dürfte Larion Dmitrijewitsch weder einen Kutscher für seine Pferde, noch einen Portier für seine Tür halten und nicht zum Arzte gehen, wenn er Zahnschmerzen hat. Damit es keinen Fjodor gäbe, müsste . . . . .“

„Wartet ihr uns schon?“ rief Arina Dmitrijewna, aus der Droschke steigend, während Parfjon und Marja Dmitrijewna die Säcke und Beutel aus dem Wagen herausholten und der schwarze Hofhund sie bellend umsprang.

*

Am Peterstage wollte man in ein altgläubiges Kloster fahren, das etwa vierzig Werst jenseits der Wolga lag, um an einem so hohen Feiertage den Gottesdienst mit einem Priester zu hören und Anna Nikanorowna, eine entfernte Verwandte von Sorokins, besuchen, die in der Klosterzeidlerei lebte; nach Tscheremschany zu fahren, wo die Töchter Prochor Nikititschs lebten, verschob man auf den Eliastag, um dort bis zum Schlusse der Messe in Nishni zu bleiben, die auch Wanja besuchen wollte. Im September sollten die Frauen aus Tscheremschany, die Männer aus Nishni zurückkehren, und Wanja sollte schon Ende August geraden Wegs, ohne hierher zurückzukommen, nach Petersburg reisen. Ein paar Tage vor dem Aufbruch, als alles schon gepackt war, und alle beim Abendtee sassen und sich zum zehntenmal darüber unterhielten, wohin und für wie lange jeder fahren werde, bekam Wanja, der seit seiner Ankunft noch keinen erhalten hatte, mit der Abendpost gleich zwei Briefe. Einer kam von Anna Nikolajewna, sie bat ihn, sich in Wassilsursk nach einem kleinen Landhause, nicht teurer als sechzig Rubel, umzusehen, weil Nata schliesslich so nervös geworden, dass sie unmöglich in der Nähe von Petersburg auf dem Lande leben könne; Koka sei, um seinen Kummer zu zerstreuen, nach Nodendal bei Hangö gereist, und Alexej Wassiljewitsch, Onkel Kostja und Boba würden ganz einfach in der Stadt bleiben. Der zweite Brief war von Koka, wo er unter Phrasen seines Schmerzes über ‚den Tod dieses idealen Mädchens, das dieser Taugenichts ins Verderben gestürzt‘, berichtete, dass das Kurhaus sich in nächster Nähe befinde und es eine Menge Damen gäbe, dass er den ganzen Tag Veloziped fahre usw. usw.

„Weshalb schreibt er mir das alles?“ dachte Wanja, nachdem er den Brief durchgelesen hatte; „hat er niemand ausser mir, mit dem er davon sprechen kann?“

„Meine Tante und Cousine bitten mich, ein Landhaus für sie zu suchen, sie wollen hierher kommen.“

„Das trifft sich gut, die Hermannsche hat, glaub’ ich, gerade eins leer stehen, es wollten Leute aus Astrachanj kommen, aber bis jetzt sind sie noch nicht da; da hätten auch Sie es nicht weit.“

„Fragen Sie sie doch, Arina Dmitrijewna, ob sie es nicht für sechzig Rubel abgeben will und überhaupt, wie es damit bestellt ist.“

„Sie gibt es auch für fünfzig, seien Sie nur ruhig, ich besorge schon alles.“

Wanja war in sein Zimmer gegangen und sass noch lange, ohne Licht zu machen, am Fenster und dachte an Petersburg, die Kasanskis, Stroop und seine Wohnung, und ohne zu wissen weshalb, besonders an Fjodor, wie er ihn zum letzten Male gesehen hatte, im rotseidenen Hemde ohne Gürtel, mit dem Lächeln im geröteten, aber der Röte ungewohnten Gesicht, in der Hand die Karaffe; er zündete ein Licht an, holte den Band Shakespeare mit ‚Romeo und Julia‘ hervor und versuchte zu lesen; er hatte kein Wörterbuch und verstand ohne Stroop nur den geringsten Teil, aber ein Strom von Schönheit und Leben ergriff ihn, wie nie vorher, als wäre etwas Verwandtes, schon längst nicht Gesehenes, Halbvergessenes wieder lebendig geworden und hielte ihn mit heissen Armen umfasst. Es klopfte leise an die Tür.

„Wer ist da?“

„Ich, kann ich hineinkommen?“

„Bitte.“

„Entschuldigen Sie, ich habe Sie gestört,“ sagte Marja Dmitrijewna eintretend, „ich habe Ihnen einen ledernen Rosenkranz gebracht, wie wir Altgläubigen sie gebrauchen, packen Sie ihn in Ihren Koffer.“

„Ah, schön.“

„Was lasen Sie da?“ fragte Marja Dmitrijewna, die zögerte, hinauszugehen. „Ich dachte mir, ob es nicht das Andachtsbuch ist, aus dem Sie lesen.“

„Nein, es ist ein Stück, ein englisches Stück.“

„So? und ich dachte es sei das Andachtsbuch. Die Worte konnte man nicht verstehen, aber man hörte, dass Sie etwas mit Ausdruck lasen.“

„Habe ich denn laut gelesen?“ wunderte sich Wanja.

„Wie denn sonst? . . . Ich lege den Rosenkranz auf das Regal . . . Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Und Marja Dmitrijewna entfernte sich lautlos, nachdem sie die Lämpchen vor den Heiligenbildern in Ordnung gebracht hatte, und schloss leise, aber fest, die Tür hinter sich. Wanja sah erstaunt, als sei er eben erwacht, auf den Schrank mit den Heiligenbildern, auf das Lämpchen davor, die mit Eisen beschlagene Truhe in der Ecke, das aufgemachte Bett, den festen Tisch am Fenster mit den weissen Gardinen, hinter denen man den Garten und den gestirnten Himmel sehen konnte. Dann klappte er das Buch zu und verlöschte das Licht.

*

„Was für eine Menge Vergissmeinnicht auf dem Sumpfe blühen!“ rief Marja Dmitrijewna ein Mal über das andere, als sie die sumpfige Wiese entlang fuhren, die ganz mit hohem Sumpfgrase und den blauen Blumen bedeckt war, auf denen mit den glänzenden Flügeln und grünlichen Körpern leise zitternde Libellen sassen. Sie war mit Wanja hinter dem ersten Wagen zurückgeblieben, in dem Arina Dmitrijewna mit Sascha fuhr. Bald stieg Marja Dmitrijewna aus dem Wagen und ging den Fussweg dem Sumpf und Wald entlang, bald stieg sie wieder ein, dann wieder ordnete sie die gepflückten Blumen, sang etwas vor sich hin, und unterhielt sich die ganze Zeit mit Wanja, als spräche sie mit sich selbst; sie schien trunken von der Sonne, dem blauen Himmel und den blauen Blumen. Und Wanja blickte mit fast herablassender Teilnahme in das strahlende und wie das eines Backfisches jung gewordene Gesicht dieser dreissigjährigen Frau.

„In Moskau hatten wir einen wunderschönen Garten, wir wohnten in der Samoskworetschje: Apfelbäume, Flieder blühten, in einer Ecke war ein Quell und ein Strauch schwarzer Johannisbeeren; im Sommer fuhren wir nirgendwohin, so sass ich denn den ganzen Tag im Garten; dort kochte ich auch den Beerensaft für den Winter ein . . . . Ich liebe so barfuss über die heisse Erde zu gehen, Wanja, oder im Flusse zu baden, man sieht durch das Wasser seinen Körper, sieht wie die vom Wasser zurückgeworfenen Sonnenflecken über ihn hingleiten und wenn man untertaucht und die Augen öffnet, dann ist alles so grün, und man kann die Fischchen vorbeihuschen sehen, und hernach legt man sich in den heissen Sand zum Trocknen, ein Windhauch weht vorüber. Wunderbar! Und am besten ist es, wenn man allein liegt, keine Freundin dabei ist. Und es ist nicht wahr, was die alten Weiber sagen, dass der Körper Sünde ist, die Blumen, die Schönheit — Sünde, sich baden — Sünde. Hat nicht Gott dies alles geschaffen: das Wasser und die Bäume und den Körper? Sünde ist es, sich dem Willen des Herrn zu widersetzen: wenn jemand für etwas eine Bestimmung hat, zum Beispiel, wenn er nach etwas strebt, ihm dieses verbieten, das ist Sünde! Und wie muss man sich beeilen, Wanja, es lässt sich gar nicht sagen wie! Wie eine gute Hausfrau sich rechtzeitig mit Kohl und Gurken versorgt, weil sie weiss, dass sie später sie nicht bekommen wird, so müssen auch wir uns zu rechter Zeit sattsehen und sattlieben und sattatmen, Wanja! Wie lange währt unser Leben? Und die Jugendzeit ist noch kürzer, und der Augenblick, der vorübergeht, kehrt nie mehr wieder; und daran müsste man sich immer erinnern, dann wäre alles doppelt so süss, wie einem neugebornen Kinde, das eben erst die Augen aufgetan, oder wie einem Sterbenden.“

In der Ferne hörte man die Stimmen Arina Dmitrijewnas und Saschas; hinten holperte Parfjons Wagen über den Faschinenweg, die Fliegen summten, es roch nach Gras, Sumpf und Blumen; es war heiss und Marja Dmitrijewna sass in schwarzem Kleide, das weisse Kopftuch aufgeknüpft, von Müdigkeit und Hitze blass geworden, mit strahlenden dunklen Augen, etwas gebeugt neben Wanja im Wagen und ordnete die gepflückten Blumen.

„Es ist mir ganz dasselbe, ob ich für mich denke oder mit Ihnen denke, lieber Wanja, oder mit Ihnen spreche, weil Sie eine kindliche Seele haben.“

Bei einer Wendung des Weges öffnete sich ein Blick auf eine grosse Lichtung und auf ihr stand ein Haufen Häuser mit den Türen nach innen; viele dieser Häuser hatten überhaupt keine Fenster oder bloss Fenster im oberen Geschoss, das machte sie Scheunen ähnlich, sie standen, von der Zeit grau geworden, in einen Haufen zusammengedrängt da, ohne dass man eine Strasse gewahrte oder Leute sah, nur das Hundegebell im Kloster begrüsste den bestaubten Wagen, in dem Arina Dmitrijewna und Sascha sassen.

*

Nach der Messe machten sich Sorokins und Wanja zum Einsiedler Leontij auf, der eine halbe Werst vom Kloster in der Zeidlerei lebte. Als sie durch den schattigen Waldstreifen auf die Lichtung hinaustraten, wo man unter dem hohen Grase und den Blumen einen unsichtbaren Bach in seiner Holzrinne rauschen hören konnte, berichtete Arina Dmitrijewna Wanja über den Einsiedler Leontij:

„Aus der grossrussischen Kirche ist er zur wahren Kirche übergetreten, schon lange, es ist an die dreissig Jahre her und schon damals war er nicht mehr jung. Ein starker Greis, ein Eiferer ist er, vier Jahre stand er vor Gericht, zwei Jahre hat er in Susdalj verbüsst; er ist gross im Fasten und betet mit einem Eifer, wie ein aufgezogenes Uhrwerk! Und alles sieht er voraus . . . Wanja, sagen Sie ihm lieber nicht, dass Sie zur griechisch-orthodoxen Konfession gehören, vielleicht nimmt er Anstoss daran.“

„Aber vielleicht unterweist er mich dann noch besser?“

„Nein, sagen Sie es ihm schon lieber nicht.“

„Gut, gut,“ sagte Wanja zerstreut und blickte interessiert zur niederen Hütte hinüber, die von rosenroten Malven umgeben war, und vor der ein grauhaariger Greis mit langem schmalem Barte und lebhaften, fröhlich dreinblickenden Augen sass, der ein weisses Gewand trug und ein Käppchen auf dem Kopfe hatte.

„Wie also der Pope zu mir nach oben kommt, geht er gleich an den Tisch und fängt an, im Evangelium herumzublättern: ‚Dein Glück, dass es eine erlaubte Ausgabe ist, sonst würde ich sie konfisziert haben, deine Porträts aber und die Handschriften, die nehme ich dir unbedingt weg.‘ Bei mir hingen nämlich die Bildnisse Semjon Denissows, Peter Filippows und noch einiger anderer an der Wand. Ich war noch nicht alt und stark und sagte: ‚Das sollte mir grad noch fehlen, dass ich dir erlaubte, die Bilder anzurühren.‘ Der Diakon war ganz betrunken und meinte bloss stöhnend: ‚Vater, haltet ein!‘ Da warf der Pope mich aufs Bett und wollte mich aus einer Unterschale mit Tee begiessen, das sollte dann meine Taufe sein; aber ich wehrte mich und er musste mich loslassen. ‚Auf Wiedersehen,‘ sagte er, ‚wir sprechen uns noch.‘ Und wie ich hinausging, Sie zu begleiten, da packte er mich am Arm und stiess mich den Abhang hinunter.“

Und der Alte fuhr fort, als sage er eine Lektion auf, zu erzählen, wie er bei den Nekrassowzy in der Türkei gewesen, wie man ihn hatte ermorden wollen, wie über ihn gerichtet wurde, wie er im Klostergefängnis in Susdalj eingesperrt gewesen und wie ihn überall das Kreuz mit den Reliquien gerettet hatte, und er brachte tief gebeugt ein hohles Kreuz aus der Hütte heraus, auf dessen kupferner Fassung eingegraben stand: „Reliquien des heiligen Wundertäters Peter, des Metropoliten von Moskau, der heiligen rechtgläubigen Fürstin Fewronija von Murom, des heiligen Propheten Jonas, des heiligen rechtgläubigen Zarewitsch Dmitrij, unserer heiligen Mutter Maria von Ägypten.“

In der Hütte sah man Heiligenbilder auf den Wandbrettern stehen, das Licht der Lämpchen und der Kerzen schimmerte rötlich, auf dem Fensterbrett und auf dem Tische lagen Bücher, an einer Wand stand eine kahle Holzbank mit einem Scheit am Kopfende. Und der Einsiedler Leontij sprach mit singender Stimme und sah dabei Wanja mit lustigen Augen an, die nicht mit seinen Worten im Einklang standen:

„Sei standhaft im rechten Glauben, mein Sohn, denn was steht höher, denn der rechte Glaube? Er sühnt alle Sünden und führet in die Hallen des ewigen Lichtes. Das ewige Licht aber unseres Herrn Jesus Christus müssen wir lieben über alles in der Welt. Was ist ewig, was ist unvergänglich, wenn es nicht das lichte Paradies, der Seelen Rettung, ist? Lockt dich ein Blümlein — morgen wird es welken, liebst du einen Menschen — morgen wird er sterben: die hellen Äuglein verlöschen und fallen ein, die roten Wangen werden gelb, Haare und Zähne wirst du verlieren und du bist ganz der Würmer Beute. Wandelnde Leichen, das sind wir Menschen in dieser Welt.“

„Jetzt wird es ja leichter werden, man wird erlauben, altgläubige Kirchen zu bauen, öffentlichen Gottesdienst zu halten,“ versuchte Wanja den Alten abzulenken.

„Jage nicht dem nach, was leicht ist, sondern strebe nach dem, was schwer ist! An dem, was leicht ist, an Freiheit und Reichtum, gehen die Völker zugrunde, aber in schweren Leiden bewahren sie ihren Glauben. Hinterlistig ist des Menschen Feind, geheim sind seine Ränke, und jede Gnade muss man darauf prüfen, woher sie kommen möge.“

„Woher rührt seine Verbitterung?“ fragte Wanja, als sie die Zeidlerei verliessen.

„Und sind denn die Menschen schuld daran, dass sie sterben müssen?“ stimmte Marja Dmitrijewna ihm bei. „Ich würde das nur noch mehr lieben, was bestimmt wäre, morgen unterzugehen.“

„Lieben kann man alles, man muss nur nicht sein Herz an eins allein hängen, damit es uns nicht verschlinge,“ bemerkte Sascha, der die ganze Zeit geschwiegen hatte.

„So ein Philosoph hat uns gerade noch gefehlt,“ sagte geringschätzend die Tante.

„Hab ich vielleicht keinen Kopf?“

„Und wie er bloss nicht erkannt hat, dass Sie nicht rechtgläubig sind? Aber vielleicht hat er vorausgesehen, dass Sie noch zum rechten Glauben kommen werden!“ sagte Arina Dmitrijewna, Wanja zärtlich ansehend.

Im Zimmer, das nur von einem Lämpchen vor dem Heiligenbilde beleuchtet wurde, war es fast ganz dunkel geworden; durchs Fenster konnte man den sattroten, nach oben zu gelblich abgetönten Abendhimmel sehen, von dem sich der schwarze Forst hinter der Lichtung abhob, und Sascha Sorokin, dessen schwarze Silhouette sich vom Fenster abzeichnete, das im Abendrot leuchtete, fuhr fort:

„Das ist schwer zu vereinigen! Wie einer von den Unsrigen einmal sagte: ‚Wie soll man nach dem Theater zu Jesus beten? Es ist leichter, jemand totzuschlagen.‘ Und tatsächlich, morden, stehlen, ehebrechen, das kann man unabhängig vom Glauben, den man hat, aber den ‚Faust‘ verstehen und dann mit Überzeugung den Rosenkranz herunterbeten, das ist undenkbar, das hiesse wahrhaftig den Teufel herausfordern. Und wenn der Mensch nicht sündigt und die Gebote hält, aber von ihrer Notwendigkeit und Heilsamkeit nicht überzeugt ist, so ist das schlimmer, als wenn er sie nicht hielte, aber glaubte. Und wie soll man glauben, wenn man keinen Glauben hat? Wie soll man nicht wissen, was man weiss, vergessen, woran man sich erinnert? Und da darf man nicht urteilen: dies ist weise und ich werde es erfüllen, und jenes sind Nichtigkeiten: wer heisst uns so zu urteilen? Solange die Kirche sie nicht aufgehoben hat, müssen wir alle ihre Vorschriften befolgen, und müssen die weltlichen Künste meiden, dürfen uns nicht von Ärzten behandeln lassen, die einen anderen Glauben haben, müssen alle Fasten halten. Den alten orthodoxen Glauben können nur die Einsiedler im Walde halten; weshalb aber soll ich mich als das bezeichnen, was ich nicht bin, und was zu sein ich nicht für nötig halte? Und wie kann ich glauben, dass nur unser Häuflein gerettet werden wird, und dass die ganze Welt in Sünden versunken ist? Und wenn ich das nicht glaube, wie kann man mich dann einen Altgläubigen nennen? So ist es auch hart, einen Glauben, eine Lebensauffassung, die keine anderen dulden, anzunehmen, und wenn man sie alle zugleich begreift, kann man in keinem rechtgläubig sein.“

Saschas Stimme verstummte, wurde aber wieder laut, als Wanja, der auf dem Bette lag, aus der Dunkelheit keine Antwort gab.

„Ihnen, dem Abseitsstehenden, wird unser Leben, unser Glaube, unser Ritus verständlicher, deutlicher sichtbar sein, als uns selbst, und auch unsere Leute werden Sie verstehen können, aber Sie werden von ihnen nicht verstanden werden, oder Papa und unsere Ältesten werden bloss einen Teil und zwar nicht den wichtigsten begreifen und Sie würden ihnen immer ein Fremder, ein Aussenstehender bleiben. Dabei lässt sich nichts machen! Wie ich selbst Sie auch lieben und achten möge, lieber Wanja, ich fühle dennoch, dass etwas in Ihnen ist, was mich bedrückt, mich befangen macht. Und unsere Väter haben, wie unsere Grossväter auch, ein anderes Leben geführt, anders gedacht und anderes gewusst, und wir selbst können noch nicht einmal ihnen gleich werden, — in irgendeinem Punkte macht sich doch schliesslich der Unterschied bemerkbar, und der Wunsch allein ändert nichts an der Sache.“

Saschas Stimme war wieder verstummt und lange Zeit hörte man nur den Gesang, der weit, weit her durch die offenstehenden Türen des Bethauses herüberdrang.

„Wie macht es denn Marja Dmitrijewna?“

„Wieso Marja Dmitrijewna?“

„Wie denkt denn sie darüber, wie wird sie damit fertig?“

„Wer weiss, wie sie’s macht; sie betet viel und grämt sich um ihren Mann.“

„Ist ihr Mann schon lange tot?“

„Schon lange, an die acht Jahre, ich war noch ein ganz kleiner Junge.“

„Sie ist eine prächtige Frau.“

„Na ja, aber allzu viel begreift auch sie nicht,“ meinte Sascha, das Fenster schliessend.

*

Vor der Pforte machte noch ein Wagen mit Gästen halt; Arina Dmitrijewna, die sich fast gar nicht an den Tisch gesetzt hatte, lief hinaus, sie zu empfangen und man hörte im Stiegenhause Rufe und das Geräusch von Küssen. Im Saal, in dem zehn Männer beim Mittag sassen, war es heiss und geräuschvoll; die barfüssige Frosja, die Malanja zur Aushilfe genommen war, lief immer wieder mit einem grossen Glaskrug in den Keller und brachte ihn mit schäumendem Kwass gefüllt zurück. Im Zimmer, wo die Frauen Mittag assen, sass Marja Dmitrijewna auf dem Platze der Hausfrau, die von Tische zu Tische ging, um die Gäste zum Essen zu nötigen, in die Küche lief und die immer wieder vorfahrenden Gäste empfing, neben ihr sassen Anna Nikolajewna und Nata, weiter die fünf anderen Frauen, die sich mit bereits feuchten Taschentüchern den Schweiss vom Gesichte wischten, während immer noch eine Schüssel nach der anderen aufgetragen wurde, man trank Madeira und Naliwka, den zu Hause bereiteten Beerenlikör. Die Fliegen krochen in die geleerten Gläser, sassen in ganzen Haufen an den weissgetünchten Wänden und auf dem mit Brotkrumen besäten Tischtuche. Die Männer hatten die Röcke ausgezogen und sassen stumpf und laut lachend, plaudernd und rülpsend mit unter der Weste hervorgezogenen bunten Hemden um den Tisch.

Die brennenden Lämpchen vor den Heiligenbildern glänzten in der Sonne, die zur offenen Tür durch den gläsernen Prunkschrank in den Saal hineinschien und auch die gestrichenen Käfige im Nebenzimmer beleuchtete, in denen die Kanarienvögel, durch den allgemeinen Lärm erregt, schmetternd sangen. Immerfort mussten die Hunde hinausgetrieben werden, die sich vom Hofe hereinstahlen und die von Frosjas nacktem Fuss für einen Augenblick aufgesperrte, mit Gegengewichten versehene Tür schlug kreischend zu; es roch nach Himbeeren, Pirogen, Wein und Schweiss.

„Nun, sagen Sie selbst, ich schreibe ihm vor, mir telegraphisch nach Samara zu antworten und er lässt keine Silbe von sich hören.“

„Zuerst muss man es mit Spiritus übergossen in den Keller stellen, dann am folgenden Tage mit Eichenrinde abkochen — es ist dann äusserst schmackhaft.“

„Am Himmelfahrtstage hielt der Priester Wassilij in Gromowo eine famose Predigt: ‚Selig sind die Friedfertigen, deshalb lasst euch das Armenhaus in Tschubykino gefallen, erlasst dem Kurator seine Schulden und verlangt keinen Rechenschaftsbericht!‘ einfach zum Lachen . . .!“

„Ich sage 35 Rubel und er bietet mir 15 . . .“

„Himmelblau, ganz himmelblau und rosa gemustert,“ klang es aus dem Zimmer, wo die Frauen sassen, herüber.

„Auf Ihr Wohl! Arina Dmitrijewna, auf Ihr Wohl!“ riefen die Männer der Hausfrau zu, die in die Küche eilte.

Mit einemmal wurden die Stühle gerückt und alle begannen sich schweigend in der Richtung des Heiligenbildes zu bekreuzigen, das in einer Ecke des Zimmers hing; Frosja schleppte schon den Samowar heran, und Arina Dmitrijewna schärfte den Gästen ein, vor dem Tee nicht zu weit in den Garten hinauszugehen.

„Gefällt dir denn dieses Leben wirklich?“ fragte Nata Wanja, der gekommen war, sie über den Hof zu begleiten, wo die Sorokinschen Kettenhunde frei umherliefen.

„Nein, aber es könnte noch schlimmer sein.“

„Selten,“ bemerkte Anna Nikolajewna, die das Gartenpförtchen wieder öffnete, um den eingeklemmten Saum ihres grauseidenen Kleides freizumachen.

*

„Setzen wir uns hierher, Nata, ich möchte mit dir sprechen.“

„Setzen wir uns. Wovon willst du denn sprechen?“ sagte das Mädchen und liess sich neben Wanja auf die Bank im Schatten der hohen Birke nieder. Die etwas abseits stehende Kirche wurde renoviert und durch die offenen Türen schallte der Kirchengesang der Maler herüber, denen der Priester bei der Arbeit im Innern der Kirche verboten hatte weltliche Lieder zu singen. Man konnte die Kirchenpforte hinter den Spiräagebüschen nicht sehen, hörte aber in der Abendluft deutlich jedes Wort: in weiter Ferne brüllte eine Herde auf dem Heimwege.

„Worüber wolltest du denn mit mir sprechen?“

„Ich weiss nicht; vielleicht wird es dir schwer fallen oder unangenehm sein, dich daran zu erinnern.“

„Du willst wohl von dieser unglücklichen Geschichte sprechen?“ fragte Nata nach einer Pause.

„Ja, wenn du sie mir auch nur ein wenig erklären kannst, dann tu es bitte.“

„Du täuschest dich, wenn du glaubst, dass ich mehr weiss, als alle anderen; ich weiss nur, dass Ida Holberg sich selbst erschossen hat, aber nicht einmal die Beweggründe zu ihrer Tat sind mir bekannt.“

„Du warst doch zu jener Zeit dort?“

„Ich war dort, obgleich es nicht eine halbe Stunde vorher war, sondern vielleicht zehn Minuten, von denen ich sieben im leeren Vorzimmer wartete.“

„Hat sie sich in deiner Gegenwart erschossen?“

„Nein, der Schuss war es ja gerade, der mich veranlasste das Arbeitszimmer zu betreten . . .“

„Und sie war schon tot?“

Nata nickte stumm mit dem Kopfe die Bestätigung.

Die Maler in der Kirche stimmten den Gesang: ‚Herr Gott, erhör mein Rufen‘ an.

„Lass mich los, Teufel! Was machst du? Lass mich!“

„Ah!“ schrie eine Entrüstung heuchelnde Weiberstimme in der Kirchenvorhalle, während ihr unsichtbarer Partner es vorzog sein Werk schweigend fortzusetzen.

„Ah!“ kreischte die Stimme noch lauter, wie die eines Ertrinkenden und die Spiräagebüsche begannen an einer Stelle heftig zu schwanken, obgleich es windstill war.

„. . . das Abendopfer!“ schlossen versöhnlich die Sänger in der Kirche.

„Auf dem Tische stand eine Karaffe oder ein Siphon, etwas aus Glas, eine Flasche Kognak, ein Mensch in rotem Hemde sass auf dem Lederdiwan und machte sich am selben Tisch zu schaffen, Stroop selbst stand rechts, Ida sass am Schreibtische, den Kopf auf die Stuhllehne zurückgeworfen . . .“

„Sie lebte schon nicht mehr?“

„Ja, ich glaube, sie war tot. Als ich eintrat, sagte Stroop zu mir: ‚Weshalb sind Sie hier? Um Ihres Glückes, um Ihrer Ruhe willen, gehen Sie fort! Gehen Sie, bitte, augenblicklich fort!‘ Der Mensch auf dem Diwan erhob sich und ich sah, dass er ohne Gürtel und sehr hübsch war; sein Gesicht war rot und glühte und das Haar kräuselte sich; er schien mir betrunken zu sein. Und Stroop sagte zu ihm: ‚Fjodor, lassen Sie die Dame hinaus‘.“

„Dein Wille geschehe,“ sangen die Maler in der Kirche; die Stimmen im Spiräagebüsch klangen, jetzt schon versöhnt, leise murmelnd herüber; die Frau schien zu weinen.

„Dennoch ist es schrecklich!“ sagte Wanja.

„Schrecklich!“ wiederholte Nata, wie ein Echo: „Und für mich um so mehr: ich habe diesen Menschen so geliebt!“ und sie brach in Tränen aus.

Wanja blickte feindselig auf dieses plötzlich gealterte, aufgedunsene Mädchen mit dem gedrungenen Munde, den Sommersprossen, die sich jetzt zu grossen braunen Flecken verschmolzen hatten, und mit den zerzausten roten Haaren, und sagte:

„Hast du denn Larion Dmitrijewitsch geliebt?“

Sie nickte stumm mit dem Kopfe und begann nach einigem Schweigen ungewöhnlich freundlich:

„Du korrespondierst jetzt nicht mit ihm, Wanja?“

„Nein, ich kenne nicht einmal seine Adresse, er hat doch seine Petersburger Wohnung aufgegeben.“

„Seine Adresse kann man doch finden.“

„Und was wäre, wenn ich mit ihm korrespondierte?“

„Nein, nichts, ich fragte nur so.“

Aus den Gebüschen kam ein junger Mann in einer Jacke, die Mütze auf dem Kopfe, hervor, und als er, an Wanja vorübergehend, diesen grüsste, erkannte er, dass es Sergej war.

„Wer ist das?“ fragte Nata.

„Der Kommis von Sorokins.“

„Das ist wohl der Held des Romans, der sich eben abspielte,“ setzte Nata mit frechem Lächeln hinzu.

„Welches Romans?“

„Vor der Kirche, hast du denn nichts gehört?“

„Ich habe Weiber kreischen gehört, aber was geht das mich an?“

*

Wanja wäre fast auf einen Menschen draufgerannt, der am schattigen Flussufer mit den Armen unter dem Kopfe schlafend lag. Er trug einen weissen Anzug und die Sommeruniformsmütze, die er sich aufs Gesicht gelegt hatte, war heruntergerutscht. Wanja war nicht wenig erstaunt, an der Glatze, der aufgestülpten Nase, dem schütteren roten Bärtchen und der ganz kleinen Gestalt seinen griechischen Lehrer zu erkennen.

„Sind Sie denn hier, Daniil Iwanowitsch?“ fragte Wanja, der vor Staunen vergass, ihn zu begrüssen.

„Wie Sie sehen! Aber was wundert Sie denn dabei so, wo Sie doch selbst aus Petersburg hierher gekommen sind?“

„Wie bin ich Ihnen denn nicht früher begegnet?“

„Das ist ganz erklärlich, wo ich doch erst gestern angekommen bin. Leben Sie mit Ihrer Familie hier?“ fragte der Grieche, der sich endgültig aufgerichtet hatte und seine Glatze mit einem rotgeränderten Taschentuche abtrocknete: „Setzen Sie sich her, es ist hier schattig und der Wind weht kühl.“

„Ja, meine Tante und meine Cousine sind auch hier, aber ich lebe nicht bei ihnen, sondern bei Sorokins, Sie haben vielleicht von ihnen gehört?“

„Ich habe einstweilen noch nicht das Glück gehabt. Aber hier ist es nicht übel, durchaus nicht übel: die Wolga, die Gärten und alles Weitere.“

„Und wo ist denn Ihr Katerchen und die Drossel, haben Sie die auch mitgenommen?“

„Nein, ich werde eine weitere Reise machen.“

Und er begann mit Begeisterung zu erzählen, wie er ganz unerwartet eine kleine Erbschaft gemacht und Urlaub genommen habe, um seinen langgehegten Traum zu verwirklichen: nach Athen, Alexandria, Rom zu reisen. In Erwartung des Herbstes, wenn es weniger heiss für eine Reise im Süden sein werde, sei er mit einem kleinen Handkoffer und drei, vier Lieblingsbüchern an die Wolga gegangen, um haltzumachen, wo es ihm gerade gefalle.

„Jetzt werden in Rom, Pompeji, in Asien interessante Ausgrabungen gemacht und man hat dort neue literarische Erzeugnisse der Alten gefunden.“ Und der Grieche sprach lange mit glänzenden Augen, die Mütze wieder ins Gras werfend, von seinen Träumen, Plänen, Genüssen, und Wanja blickte traurig in das strahlende lebenbewegte hässliche Gesicht des kleinen kahlköpfigen Lehrers.

„Ja, das alles ist interessant, sehr interessant,“ murmelte er träumerisch vor sich hin, als jener seinen Bericht schloss und eine Zigarette anrauchte.

„Sie bleiben bis zum Herbste hier?“ fragte plötzlich Daniil Iwanowitsch.

„Wahrscheinlich. Ich will nach Nishni zur Messe,“ gestand Wanja, als schäme er sich der Nichtigkeit seiner Pläne.

„Sind Sie zufrieden? Sind diese Sorokins interessante Leute?“

„Sie sind ganz einfache, aber gute und treuherzige Menschen,“ antwortete Wanja und dachte mit Feindseligkeit an sie, die ihm plötzlich so fremd geworden waren. „Ich habe es langweilig, sehr langweilig! Wissen Sie, es gibt niemand, der einen mit seiner Begeisterung anstecken könnte, oder auch nur fähig wäre einen bloss zu verstehen, die geringste Bewegung der Seele zu teilen,“ entrang es sich plötzlich Wanja, „hier nicht und vielleicht auch in Petersburg nicht.“

Der Grieche schaute ihn scharf an.

„Smurow,“ begann er etwas feierlich. „Sie haben einen Freund, der befähigt ist die höchsten Wallungen des Geistes zu schätzen, und bei dem Sie immer Sympathie und Liebe finden können.“

„Ich danke Ihnen, Daniil Iwanowitsch,“ sagte Wanja, dem Griechen die Hand hinstreckend.

„Keine Ursache,“ antwortete der, „um so weniger als ich eigentlich nicht von mir sprach.“

„Von wem sprachen Sie denn?“

„Von Larion Dmitrijewitsch.“

„Von Stroop?“

„Ja, . . . warten Sie, unterbrechen Sie mich nicht. Ich kenne Larion Dmitrijewitsch ausgezeichnet, ich habe ihn nach jenem unglücklichen Vorfall gesehen und ich bezeuge Ihnen, dass er daran ebensoviel Schuld trägt, wie etwa Sie, wenn ich mich zum Beispiel in den Fluss stürzen wollte, weil Sie blondes Haar haben. Natürlich ist es Larion Dmitrijewitsch höchst gleichgültig, was man über ihn spricht, aber er drückte mir sein Bedauern darüber aus, dass einige ihm teure Menschen ihre Meinung über ihn ändern könnten und unter anderen nannte er auch Sie. Behalten Sie das im Auge, sowie auch, dass er eben in München im Hotel ‚Zu den vier Jahreszeiten‘ lebt.“

„Ich verurteile Stroop nicht, aber seine Adresse brauche ich auch nicht, und wenn Sie hierher gekommen sind, um mir dies mitzuteilen, so haben Sie sich umsonst bemüht.“

„Mein Freund, hüten Sie sich vor Eigendünkel! Es sollte mir, dem alten Manne, einfallen, auf dem Wege von Petersburg nach Rom nach Wassilsursk zu kommen, um Wanja Smurow Stroops Adresse mitzuteilen?! Ich wusste überhaupt nicht, dass Sie hier seien. Sie sind erregt, Wanja, Sie sind krank, und ich zeige Ihnen als guter Arzt und Lehrer, dass Ihnen jenes Leben fehlt, welches sich für Sie in Stroop verkörpert, und nichts weiter.“

*

„Wie Sie schön gewachsen sind, lieber Wanja,“ sagte Sascha beim Auskleiden, die nackte Gestalt Wanjas betrachtend, der auf dem trockenen Sande stand und sich zum Flusse neigte, um Wasser zu schöpfen und sich den Kopf und die Achselhöhlen zu benetzen, bevor er ins Wasser ging. Wanja blickte auf das durch die auseinandergleitenden Kreise im Wasser bewegte Ebenbild seines hohen, geschmeidigen, von Bädern und Sonne gebräunten Körpers mit den schmalen Hüften und schlanken langen Beinen, die langgewordenen Locken über dem dünnen Halse, den grossen Augen im abgemagerten Gesicht und stieg mit stummem Lächeln ins kalte Wasser. Der trotz seines hohen Wuchses kurzbeinige, weisse und volle Sascha liess sich an einer tieferen Stelle ins Wasser fallen, dass es nach allen Seiten aufspritzte.

Dem ganzen Ufer entlang bis zur weidenden Herde badeten Kinder, die kreischend durch das Wasser oder am Ufer hinliefen, hie und da lagen Haufen von roten Hemden und Wäsche, und in der Ferne, höher den Fluss aufwärts, unter den Weiden auf dem saftig grünen gemähten Grase huschten zart rosa Körper von Kindern und Halbwüchslingen vorüber, an ein Bild des Paradieses in der Art Thomas erinnernd. Wanja fühlte mit fast leidenschaftlicher Freude, wie sein Körper das kalte tiefe Wasser zerteilte und in schnellen Wendungen, wie ein Fisch, die wärmere Oberfläche aufschäumen machte. Er war müde geworden und schwamm auf dem Rücken, ohne die Arme zu bewegen, und sah nur den in der Sonne leuchtenden Himmel, ohne zu wissen, wohin er getragen wurde. Er kam wieder zu sich, als die Rufe am Ufer lauter wurden, die sich immer weiter in der Richtung entfernt hatten, wo die Herde weidete und die Baggermaschine arbeitete.

Die Kinder eilten, im Laufen ihre Hemden anziehend, am Ufer entlang, und ihnen schollen Rufe entgegen: „Sie haben ihn, sie haben ihn, man hat ihn aus dem Wasser gezogen.“

„Wen das?“

„Den Ertrunkenen, der schon im Frühling ins Wasser ging; erst jetzt hat man ihn gefunden, er hat sich an einem Balken verhakt und konnte nicht zur Oberfläche aufsteigen,“ erzählten die laufenden und einander überholenden Kinder.

Vom Berge her kam, laut weinend, eine Frau in rotem Kleide und weissem Kopftuche gelaufen; als sie an die Stelle kam, wo auf einer Bastmatte die Leiche lag, warf sie sich mit dem Gesicht in den Sand und schluchzte, noch lauter wehklagend.

„Arina, die Mutter! . . .“ flüsterte es ringsum.

„Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen seine Lebensgeschichte erzählt,“ wiederholte Sergej, der von irgendwoher aufgetaucht war, Wanja, der mit Entsetzen auf die aufgedunsene schleimige Leiche mit dem bereits formlosen Gesicht starrte, die nackt, bloss mit den Stiefeln an den Füssen im grellen Sonnenschein ekelhaft und fürchterlich inmitten der lärmenden neugierigen Kinder mit ihren zart rosa Körpern, die unter den offenen Hemden sichtbar waren, dalag. — „Es war der einzige Sohn seiner Mutter, wollte immer Mönch werden, dreimal ist er von Hause fortgelaufen, aber sie haben ihn immer wieder zurückgebracht: geprügelt haben sie ihn sogar, aber es half nichts; andere Kinder kaufen sich Pfefferkuchen, er gab alles für Kirchenkerzen fort; lief da so ein Weibsbild, so’n Ekel, ihm über den Weg, er verstand nichts, als ihm aber die Augen aufgingen, da ging er mit den Kindern baden und ertrank; er war nur sechzehn Jahre alt . . .“ klang Sergejs Erzählung, als spräche er unter dem Wasser.

„Wanja! Wanja!“ schrie durchdringend die Frau, die sich bald erhob, bald wieder sich in den Sand fallen liess, beim Anblick der aufgedunsenen schleimigen Leiche.

Wanja stürzte entsetzt den Berg hinan, er stolperte, zerkratzte sich an den Büschen und Nesseln, sah sich aber nicht um, als jage man hinter ihm her, und machte erst im Sorokinschen Garten halt. Hier war es still, die Äpfel schimmerten aus dem Grün der weit auseinander gepflanzten Bäume hervor, hinter der stillen Wolga dehnten sich die dunklen Wälder, im Grase zirpten Grillen, es duftete nach Honig und Frauenminze.

*

„Es gibt am menschlichen Körper Muskeln und Sehnen, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann,“ fielen Wanja Stroops Worte ein, als er entsetzt beim Schein einer Kerze sein feines, jetzt schrecklich bleiches Gesicht mit den feinen Brauen und den grauen Augen, dem purpurroten Munde und dem lockigen Haar über dem dünnen Halse im Spiegel betrachtete. Er wunderte sich nicht einmal, dass plötzlich Marja Dmitrijewna zu einer so späten Stunde geräuschlos in sein Zimmer trat und leise, aber fest, die Tür hinter sich schloss.

„Was wird denn daraus werden? Was wird daraus werden?“ fragte er sie erregt. „Die Wangen werden einfallen und erblassen, der Körper wird aufdunsen und schwammig werden, die Würmer werden die Augen ausfressen, alle Gelenke des lieben Körpers werden auseinanderfallen! Und es gibt Muskeln, Sehnen am menschlichen Körper, die man nicht ohne Herzklopfen betrachten kann! Alles wird vergehen, verderben! Und ich weiss nichts, ich habe nichts gesehen, und ich will, ich will . . . Ich bin doch nicht gefühllos, bin kein Stein; und ich kenne jetzt meine Schönheit! Es ist schrecklich, schrecklich! Wer wird mich retten?“

Marja Dmitrijewna blickte, ohne zu staunen, freudig auf Wanja.

„Wanja, Teurer, Sie tun mir leid! Ich habe mich vor diesem Augenblick gefürchtet, aber die Stunde ist wohl gekommen, wo der Wille des Herrn geschehe,“ und langsam die Kerze verlöschend, umarmte sie Wanja und bedeckte seinen Mund, seine Augen und Wangen mit Küssen und drückte ihn immer fester an ihre Brust. Wanja war sofort ernüchtert, ihm wurde heiss, schwül und peinlich, und sich aus der Umarmung befreiend, sagte er mit einer Stimme, die schon ganz anders klang: „Marja Dmitrijewna! Marja Dmitrijewna! Was haben Sie? Lassen Sie mich! Nicht doch!“ Aber jene drückte ihn nur um so fester an ihre Brust, küsste ihn schnell und lautlos auf Wangen, Mund und Augen und flüsterte: „Wanja, mein Lieb, du meine Freude!“

„So lass mich doch, widerliches Weib!“ schrie Wanja schliesslich, stiess Marja Dmitrijewna zur Seite und lief hinaus, die Tür hinter sich zuschlagend.

*

„Was soll ich denn jetzt tun?“ fragte Wanja Daniil Iwanowitsch, zu dem er geraden Wegs aus dem Hause durch die Nacht gelaufen war.

„Meiner Ansicht nach,“ sagte der Grieche, im Schlafrock über der Unterwäsche und mit Morgenschuhen an den Füssen, „meiner Ansicht nach, müssen Sie fortfahren.“

„Wohin soll ich denn fahren? Bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als Petersburg? Und man wird mich fragen, weshalb ich zurückgekommen bin und langweilig ist es da auch noch.“

„Ja, das ist unangenehm, aber hier bleiben ist auch unmöglich, Sie sind — ganz krank.“

„Was soll ich denn tun?“ wiederholte Wanja, hilflos auf die Hand des Griechen herabblickend, die auf der Tischplatte trommelte.

„Ich kenne ja Ihre Umstände und Vermögensverhältnisse nicht und weiss nicht, wie weit Sie reisen können; und allein können Sie auch gar nicht reisen.“

„Was soll ich denn tun?“

„Wenn Sie meiner Zuneigung zu Ihnen glauben und nicht weiss Gott was für Geschichten machen wollten, würde ich Ihnen vorschlagen mit mir zu reisen.“

„Wohin?“

„Ins Ausland.“

„Ich habe kein Geld.“

„Es würde für uns beide reichen; später, mit der Zeit, würden wir uns verrechnen; wir würden zusammen nach Rom gehen und da würde man dann eben sehen, mit wem Sie zurückreisen und wohin ich weiterreisen werde. Das wäre das allerbeste.“

„Sprechen Sie wirklich im Ernst, Daniil Iwanowitsch?“

„Man kann nicht ernster.“

„Ist denn das möglich: ich — in Rom?“

„Und sogar sehr!“ lächelte der Grieche.

„Ich kann es nicht glauben!“ . . . rief Wanja erregt aus.

Der Grieche rauchte schweigend seine Zigarette und blickte lächelnd auf Wanja.

„Was für ein Prachtmensch, wie gut Sie sind!“ strömte der über.

„Es ist mir sehr angenehm, nicht allein zu reisen; wir werden natürlich unterwegs ökonomisch sein, nicht in allzu feinen Hotels, sondern in einheimischen Gasthäusern absteigen.“

„Oh, das wird nur noch lustiger sein!“ freute sich Wanja.

Und bis zum frühen Morgen sprachen sie von der Reise, bestimmten, wo sie Station machen wollten, die Städte, Orte, entwarfen Pläne für Ausflüge — und als Wanja im hellen Sonnenschein auf die grasbewachsene Strasse hinaustrat, wunderte er sich, dass er noch in Wassil sei und noch die Wolga und die dunklen Wälder vor sich sähe.

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