Erster Abschnitt.

Er war der zweite Sohn des Schuhmachers Adam Starkblom und dessen Ehefrau Elisabeth und hatte die Namen Max Emanuel Karl Wilhelm erhalten; man nannte ihn Karl. Geschwister hatte er sieben: zwei Schwestern, Elise und Kathrine, und fünf Brüder: Adam, Justus, Leberecht, Friedrich und Johannes. Sein Vater hatte anfangs viel zu thun gehabt und die Familie gut erhalten können, war aber später durch sein phlegmatisches und beschauliches Temperament allmählich heruntergekommen und hatte sich, obwohl er früher äußerst nüchtern und zurückhaltend gewesen, nachdem er schon die Grenze des Mannesalters überschritten, dem Trunke ergeben. Er starb am Herzschlag, 64 Jahre alt. Dieser Lebensführung des Vaters entsprechend war die Erziehung der Kinder ausgefallen: Adam hatte seiner Neigung[6] gemäß in ein großes Handelshaus in Hamburg in die Lehre treten dürfen und brachte es dazu, ein vermögender Plantagenbesitzer in Haïti zu werden, Karl durfte studieren, Elise besuchte die höhere Mädchenschule und heiratete, neunzehn Jahre alt, einen vermögenden Schlossermeister, Justus war beim Vater in die Lehre gegangen und besaß nunmehr eine kleine Schuhfabrik in Pirmasens, Leberecht war Branntweinbrenner, Friedrich Unteroffizier, Johannes war gänzlich verbummelt und schließlich vom ältesten Bruder mit nach Haïti genommen worden, von wo er aber bald auf einem englischen Kauffahrteischiff durchbrannte, seine Spur war verschwunden und er blieb verschollen; Kathrine endlich, die jüngste, war auf ein Operettentheater gegangen, wurde dann die Geliebte eines reichen Offiziers und endlich Straßendirne. Die Mutter war diesem letzten Wochenbett erlegen; kein Wunder, daß das hinterlassene Kind im Hause des blöden, trunksüchtigen Vaters nicht die beste Erziehung erhielt.

Karl hatte schon im Elternhause eine besondere Stellung eingenommen; er beteiligte sich nur ungern an den lärmenden Spielen der Brüder und Kameraden und ging am liebsten allein seiner Wege. Er war ein[7] verschlossenes, träumerisches Kind, das nicht verstand, aus sich herauszugehen. In seinem neunten Jahre etwa fing er an viel zu lesen, alles was er im Vaterhause fand, aber wenn ihm etwas gefiel, las er es immer und immer wieder, sodaß er große Stellen der Romane, die ihm in die Hände kamen, auswendig wußte. Von seinem fünfzehnten Jahre an hörte er mit einem Male fast gänzlich auf mit dieser Art Lektüre und las nur noch wenig und planmäßig: die Klassiker, Bücher litterarhistorischen, religiösen und philosophischen Inhalts. Was er nicht verstand, legte er ruhig beiseite, was ihn ergriff, lernte er durch häufiges Lesen auswendig. Er schloß sich gern an die Schwester Elise und deren Freundinnen an und war bald unter seinen Brüdern und Mitschülern, die den blassen Sonderling nicht leiden mochten, als »Mädlesschmecker« verspottet. Bei Tisch und wenn er sonst mit Eltern und Geschwistern zusammen war, war er still und in sich gekehrt, beteiligte sich aber gern, wenn ihn ein Thema interessierte, am Gespräch der Alten und konnte da schon früh hitzig und vorlaut werden; er war darum verschrieen als altkluges, frühreifes Kind. In der Schule war er immer unter den Ersten, da[8] er sehr schnell auffaßte und ein gutes Gedächtnis hatte, doch arbeitete er wenig. Seine Lehrer konnten ihn nicht leiden, einigen war er verhaßt. Er meldete sich selten, wenn etwas gefragt wurde, wußte aber fast stets Bescheid und antwortete kurz und klar. Nur manchmal hatte er vor sich hingeträumt und stand dann ruhig und blaß da, ohne den Mund zu öffnen. In seltenen Fällen ward er lebhaft, meldete sich, trug warm, ja manchmal feurig vor, was er wußte, oder meinte; ja einige Male hatte er es gewagt, dem Lehrer zu widersprechen.

Noch bevor er sechzehn Jahre alt war, stand es ihm völlig fest, daß er Philosophie studieren und das Rätsel der Welt ergründen wolle. Am Ende des vorletzten Schuljahres jedoch schon kam er allmählich davon ab. Sein kluges Auge sah, wie rasch der Vater herunterkam, und es leuchtete ihm ein, daß er einen praktischen Beruf ergreifen müsse. So antwortete er von da ab ruhig auf alle Fragen, was er studieren wolle: Jurisprudenz, und dabei blieb er. Sowie er sich dazu entschlossen hatte, sah er kein philosophisches Buch mehr an, beschäftigte sich eifriger als früher mit den Schulaufgaben und suchte auch jetzt schon für[9] Fragen des täglichen Lebens Verständnis und Interesse zu gewinnen. Er machte ein gutes Abgangsexamen und bezog, etwas über achtzehn Jahre alt, die Universität.

Freundschaft hatte er erst in seinen letzten Schuljahren, als seine Neigung zur Philosophie hervortrat, kennen gelernt. Vorher hatte er kein Bedürfnis nach Umgang gehabt. Jetzt drängte es ihn, Meinungen, die ihn originell und sogar tief dünkten, teilnehmenden Freunden vorzutragen und im Gespräch auszuspinnen. Es fand sich so eine Anzahl hochstrebender junger Menschen zusammen, von denen indeß, wie es häufig zu gehen pflegt, die meisten in der Schule nicht recht mitkamen. Anfangs bildete sich eine förmliche philosophische Gesellschaft, in der aber auch dem Bedürfnis der Jugend zu dichten und das Geschaffene mitzuteilen und loben zu lassen Genüge geschah; sie organisierten sich als Verein und gaben sich eigene Statuten. Später indessen zog sich Karl, der schon von früh an mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit eine alte Haut, die ihm nicht mehr anstand, abwarf, ganz davon zurück und verkehrte nur noch mit dreien der Genossen, intim nur mit einem, und selbst diesem[10] vertraute er seine geheimsten und kühnsten Gedanken und Pläne nicht an. Anfangs schrieb er seine Ideen tagebuchartig nieder, einiges wenige arbeitete er in größerem Umfang aus; auch das gab er auf, sowie er einsah, daß seine Meinungen sich zu rasch änderten, daß er noch keinen festen Standpunkt gewinnen könne; von da an verfolgte er kaltblütig und mit einer gewissen eigenen Neugierde die Vorgänge in seinem Hirn und hielt meist auf seine neuen Gedanken nicht besonders viel, weil er wußte, wie schnell die alten sich bisher immer verflüchtigt hatten.

Nachdem er sich entschlossen hatte, Jurist zu werden, zog er sich von den wenigen Freunden, denen er geblieben war, mehr und mehr zurück; einmal wollte er nicht in Versuchung geraten, sich allzu tief mit der Weltweisheit einzulassen, dann auch wollte er es nicht mitansehen, wie sich auch in ihnen die Wendung zur praktischen Thätigkeit und zum bürgerlichen Beruf vollzog. Wenn zwei dasselbe thun, ist’s nicht dasselbe, dachte er; was er, soweit es ihn betraf, heroisch nannte, kam ihm bei allen andern verächtlich vor.

Er wurde ein fleißiger Student, der fast nur mit[11] Fachgenossen, die er im Kolleg kennen gelernt, verkehrte und sich von den geselligen Vergnügungen geflissentlich zurückhielt. Erst hier, in den praktischen Übungen an der Universität und in den Gesprächen mit den Bekannten am Biertisch und auf der Bude, ward es ihm zur unumstößlichen Gewißheit, daß er mehr sei als der Durchschnitt seiner Umgebung. Er dachte klarer, beurteilte alles von höherer Warte, faßte Zusammengehöriges aus entfernten Gebieten zusammen und konnte seiner Ansicht geläufig und elegant Ausdruck geben. Jedoch beschäftigte er sich auch jetzt fast ausschließlich mit seinem Fach, besonders allerdings mit theoretischen Problemen, interessierte sich aber mehr als gewöhnlich üblich schon jetzt für Detailfragen. Bei dieser intensiven Bethätigung in der trockenen Wissenschaft aber fuhr es ihm mehr als einmal durch den Kopf: »Wartet nur! ich bin noch der Alte! Noch ist nicht aller Tage Abend! Wohl treibt mein Bewußtsein jetzt keine Weltweisheit und kümmert sich um nichts als Jurisprudenz; unter der Schwelle aber arbeitet es weiter, mir selber nicht bewußt; und finge ich jetzt an zu philosophieren, meine alten phantastischen Unerfahrenheiten wären verschwunden und neue Gedanken[12] kämen mir angeschwommen, ohne daß ich wüßte, woher. Wartet nur! Er ist noch nicht tot, der Prediger in der Wüste! Und wenn er auch spät wieder erwacht, er kommt zu seiner Zeit!« Dann vertrieb er diese Ahnungen wieder, beugte sich über seine dicken Bücher und ochste bis tief in die Nacht.

Im letzten Jahre jedoch seiner Studienzeit, wo andere Studenten gerade anfingen, ernstlich zu arbeiten, klappte er seine Bücher zu und machte eine Pause. Er hatte das Gefühl, nun sei ein Abschnitt erreicht und für’s Examen wisse er jetzt schon völlig genug. Für kurze Zeit erwachte in ihm ein neuer Mensch: er ward gesellig, heiter, harmlos, lebensfroh und lernte auf einmal das Plaudern. Er nahm jetzt Tanzunterricht, verliebte sich dabei in ein hübsches Mädchen und verlobte sich heimlich mit ihr.

Indessen hörte diese Weltläufigkeit bald wieder auf; er wurde wieder der alte stille geruhsame Mensch, der sich in Gesellschaft nicht wohl fühlte, nur ernstes zu reden verstand, alles von seiner tiefen Seite nahm und den Plauderton wieder gänzlich verlernte. Dann kam das Examen, das er glänzend bestand.

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Nunmehr diente er sein Jahr ab, beim Infanterieregiment seiner Vaterstadt. Jetzt untersagte er sich jede geistige Thätigkeit; er war nur Soldat; im Innern mürrisch und kalt, äußerlich streng diszipliniert.

Dann ward er wieder mit allen Kräften Jurist, es kam die Praktikantenzeit und dann das zweite Examen und das allmähliche Emporklimmen an der Leiter der Beförderungen. Schon als Student war er entschlossen gewesen im Staatsdienst zu bleiben und Richter zu werden.

Als er 36 Jahre alt war, konnte er es nach sechzehnjähriger treuer Brautschaft wagen, sein Lorchen zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Es ging immer noch knapp genug her beim Herrn Amtsrichter, und es hätte auch jetzt noch nicht reichen können, hätte er es nicht endlich über sich gebracht, eine nicht ganz unbedeutende Summe von dem Bruder Adam, dem es damals in Haïti schon recht gut ging, nach öfterem Anbieten von Seiten des treuen Menschen, leihweise anzunehmen.

Die Ehe schien eine äußerst glückliche werden zu sollen; war Karl ruhig und ernst, so war Lorchen ruhig und heiter; sie hatte einen ungemeinen Respekt[14] vor dem Geiste ihres Mannes und war doch fähig und willig, ihn zu verstehen und mit ihm zu reden über das, womit er sich beschäftigte. Das war freilich auch jetzt fast nur die Rechtspflege, und nunmehr meist Fälle aus der Praxis, deren Konsequenzen er zu ziehen pflegte. Mit anderen Dingen gab er sich nicht viel ab; ein wenig interessierte er sich für Kunst und Theater, selbst mit Politik sich ernsthaft zu beschäftigen, hatte er noch nicht die Zeit gefunden. »Wartet nur! jetzt bin ich ein alter Mann! aber ich werde noch einmal jung!« So pflegte er auch jetzt wieder zu sagen.

Bald aber begann das Unglück und ließ mit zäher Beharrlichkeit nicht nach, bis es das Äußerste erreicht hatte: das erste Kind, ein Mädchen, starb, nachdem es zwei Tage kümmerlich gelebt hatte; das zweite, wieder ein Mädchen, starb nach drei Monaten an der Lungenentzündung; und das dritte Wochenbett bettete Mutter und Kind, diesmal wäre es ein Knabe gewesen, in den Tod.

Nach fünfjähriger Ehe stand Karl Starkblom wieder allein auf der Welt. Äußerlich blieb er ruhig wie er war. Aber bei Tag und Nacht ließ ihm die[15] Frage keine Ruhe mehr: »wozu nun noch arbeiten? wofür jetzt noch leben? warum jetzt noch dein eigentliches wahres Geisterleben unterdrücken? jetzt wäre es Zeit, höchste Zeit!«

Als wollte das Geschick durchaus keinen Zweifel aufkommen lassen, wohinaus es wolle, fügte es nach Verlauf von dreiviertel Jahren einen weiteren Todesfall hinzu: der Bruder Adam in Haïti starb plötzlich am Fieber; sein gesamtes bedeutendes Vermögen hatte er dem geliebten Bruder Karl testamentarisch vermacht.

Als Starkblom in den Besitz dieses Vermögens kam, war er gerade zweiundvierzig Jahre alt. Seit knapp drei Jahren war er Landgerichtsrat. Nunmehr sagte ihm sein kleines Seelenteufelchen: »Halt Mann! Umspannen!« Er kam um Urlaub ein und zog sich in ein freundliches Städtchen am Fuße des Schwarzwalds zurück. Kurze Zeit darauf nahm er nach reiflichem Überlegen seinen Abschied.

Seine Kollegen machten hinter seinem Rücken bitter höhnische Bemerkungen über den unerhört frühen Rückzug Starkbloms; jetzt war er erkannt. Bisher freilich hatten ihn alle, die er überflügelt hatte oder zu überholen drohte, für einen ehrsüchtigen Streber[16] erklärt; das hinderte aber durchaus nicht, nun zu behaupten, das sehe ihm völlig ähnlich, das sei von ihm zu vermuten gewesen: er sei eben ein ganz pflichtvergessener Mensch, dem es nur um möglichst schnellen Gelderwerb zu thun gewesen, und vermutlich sei er im geheimen ein roher Genußmensch; die große Erbschaft sei ihm recht zupaß gekommen. Jetzt konnte er seinen Vergnügungen nachgehen, ohne mehr arbeiten zu müssen. Nun zeigte der hochnäsige Herr seinen wahren Charakter; aristokratisch hatte er immer gethan, aber seine gemeine Herkunft konnte er nicht verleugnen.

Was hätten diese Herren für dumme Gesichter gemacht, wenn er ihnen seine wahren Gründe anvertraut hätte: daß er einen anderen Beruf in sich fühle, als zeitlebens Richter zu sein, daß er seinen Geist und die Bestrebungen seiner frühen Jugend jetzt voll und ganz auszuleben gedenke.

Sich selber ausleben – das war sein Ehrgeiz, an seine Jugend wollte er wieder anknüpfen. Was aber war er denn selbst? was steckte eigentlich in ihm? was war noch übrig von den Idealen seiner Jugend? Was konnte er der Menschheit bringen?

Er schaute tief in seine eigene Seele und fand,[17] daß trotz aller äußern Ruhe der Kern seines Wesens Trauer und Weh geworden war. Und er merkte mit einem Mal, daß Jammer und Schmerz die ganze Menschheit und die ganze Welt durchzog.

Als er aus der Unschuld des Kindes langsam zum Manne erwachte, war er rascher als wohl sonst die Regel, über die verzweiflungsvolle Zeit des Aufblühens der Sinnenwelt hinweggekommen; äußere Umstände waren schuld daran. Jetzt, da er ein reifer Mann war und alle Schmerzen und Wonnen, die der Mensch durchmachen kann, erprobt und gekostet hatte, stürmte eigenes Weh, philosophische Verzweiflung und soziales Elend mit voller Wucht und gleichzeitig auf ihn ein.

Es schien ihm, als habe er mehr als zwanzig Jahre geschlafen und dummes unverständiges Zeug geträumt, als er jetzt wieder ernstlich begann, über Menschengeist und Weltzweck nachzudenken und in der Welt umherzublicken.

Es fuhren ihm jetzt Gedanken durch den Kopf, er lebte jetzt in ganz eigentümlichen Stimmungen, wie er sie nie gehabt seit langer Zeit, und doch war es ihm, als habe er das alles genau so, selbst unter[18] denselben kleinen äußerlichen Umständen, schon einmal gedacht und empfunden, vor langer, unendlicher Zeit, vor mehr als tausend Jahren wohl.

Dann kam es ihm, er solle wohl seine alten Tagebücher und Aufzeichnungen aus der Knabenzeit wieder vorsuchen, und er las eifrig darin. Gar manches verstand er nicht mehr, vieles mißverstand er und legte ihm einen ganz andern Sinn unter, als er damals gewollt; einiges aber fand er schon fast genau in derselben Art gedacht und ausgesprochen, wie es ihm jetzt als neue Wahrheit aufgegangen.

Ihm grauste vor sich selber; der Student und der Richter, wie hatte der denn nur je sein können? wie hatte er daran sein Genügen finden können? Und eine stille Freude überkam ihn, daß er wieder jung geworden war.

»Der Menschheit will ich meine Dienste weihen; ein neues Wort will ich sprechen, das noch keiner gesprochen hat.« So hatte er als Sechzehnjähriger geschrieben und so wollte er jetzt wieder. Die Kraft fühlte er in sich. Er war mehr als die andern, er wußte es sicher; noch keinen hatte er getroffen, der ihm gleichkam.

[19]

Er beabsichtigte, vorerst in dem kleinen sonnigen Städtchen, wo er gegenwärtig weilte, zu bleiben. Die Einsamkeit sollte ihm wohlthun. In sich selbst wollte er sich versenken, auf sich selbst sich besinnen. In die Natur wollte er sich wieder einleben und sich verjüngen im frischen Waldesgrün, seine poetische Phantasiethätigkeit, die er zu so langer Ruhe verurtheilt hatte, erwachte jetzt wieder aus ihrem dumpfen Schlafe. Dem Vogelsang wollte er lauschen und das Sonnenlicht einsaugen.

Eines Morgens ging er bei heiterkühlem Frühlingswetter den Fluß entlang zur Stadt hinaus, thalaufwärts. Er liebte diesen Weg besonders. Zur Seite hatte er Anhöhen und vor sich Berge von immer neuer Gestalt und Färbung, da die Straße in langsamer Krümmung das Gebirge vermied. Rechts war der Fluß, jenseits saftige Wiesen und weiter entfernt wieder Berge, die mit dunklen Tannenwaldungen bestanden waren. Blickte er sich um, so sah er die Stadt mit ihren hohen Schlöten hinter sich liegen; die abgebrochenen Schläge des Kupferhammers vor der Stadt, an dem er vorhin vorbeigegangen, drangen leiser und leiser zu ihm. Sein Sinn war fröhlich[20] und unternehmend; seine Gedanken abgerissen und hüpfend, er träumte mehr als er dachte. Am frühen Morgen war ein starkes Gewitter niedergegangen, das erste des Sommers. Noch immer schoben die abziehenden Wolken an der Sonne vorbei und verdunkelten kurze Zeit das Thal. Doch bald wieder schwanden die Schatten und er schritt fröhlich vorwärts.

Nachdem er eine schwache Stunde gegangen war, sah er etwa in der Mitte des Berges, der hinter der Krümmung des Flusses gerade vor ihm emporstieg, auf einem Vorsprung ein weiß schimmerndes schloßartiges kleines Haus liegen. Es grüßte ihm freundlich entgegen mit seinem weißen Verputz, seinen hell blinkenden Fenstern, seinem roten Ziegeldach und dem kleinen mit Schiefer gedeckten Türmchen an der linken Seite.

»Da wäre gut wohnen,« dachte er.

Er ging noch etwa eine Stunde, dann kehrte er auf einem andern Wege, der über die Anhöhen führte, zurück.

Mittags beim Essen erzählte er seinem Nachbar, dem Stadtbaumeister, von seinem Ausflug und von dem Schlößchen, das ihm so sehr gefallen hatte. Der[21] sagte ihm, das weiße Haus, so nannte man es, stünde schon seit einem halben Jahre leer, da der Besitzer nach Wien gezogen sei. Liebhaber sei keiner da, da es für die Fabrikanten der Stadt und die paar andern, die noch etwa in Betracht kommen könnten, zu entlegen war. Und Fremde besuchten ja bekanntlich trotz der reizenden Umgebung die Stadt kaum, die als Fabriknest verschrieen war.

Starkblom war rasch entschlossen. Noch am selben Mittag besuchte er den Rechtsanwalt, der die Angelegenheit für den Weggezogenen in Händen hatte und nach Verlauf von wenigen Tagen war das Geschäft abgeschlossen.

Starkblom war im Besitz des weißen Hauses und die nächsten Wochen schon verwandte er darauf, seine Möbel kommen zu lassen und einige neue zu kaufen. Einen Teil der Zimmer richtete er nicht ein, weil er Raum für eine Bibliothek lassen wollte. Eine Sammlung erlesener Bilder schwebte ihm für die spätere Zukunft vor.

Eine ältere Frau, die er gedungen, sollte ihm kochen und Wirtschaft führen.

Am 1. Juli bezog der neue Schloßherr das weiße[22] Haus und er erschrak gleich nach den ersten Tagen, sowie er sich angewöhnt hatte, über die erbärmliche Beschäftigung mit nichtigem Tand, der er sich in den letzten Wochen hingegeben hatte. Das wurde von jetzt ab anders. Nur Großes und Tiefes sollte ihm zuschwimmen mit den klaren Wellen des Flusses, der am Fuße »seines Berges« langsam und ruhig dahinfloß.

Er bestellte in der Hauptstadt eine große Zahl Bücher, in die er sich in den nächsten Wochen vertiefte. Er merkte bald, als er sich mit Liebe seinem Studium und seinem Sinnen hingab, daß es besser sei Bücher zu haben als eine Bibliothek und noch besser Gedanken als Bücher und noch besser Erleben als Denken. An Gedanken mangelte es ihm nicht, und was das Erleben anging, nun – er hatte ein ganzes reiches Leben hinter sich und gern vertiefte er sich in seinen Erinnerungen darein als in etwas völlig abgeschlossenes.

Er gedachte seines Vaters, dessen Lebensende sich so jammervoll gestaltet hatte; gar wohl aber erinnerte er sich noch an seine frühere bessere Zeit, wie er als gedankenvoll auf seinem Schusterstühlchen saß und mit seinem beschränkten Geiste über tiefe Probleme[23] seine Weisheit zum besten gab, eine mürrische, unzufriedene Weisheit, die die Farbe der grauschwarzen Wichse an sich hatte, mit der er seine Stiefel schmierte … Dann die Mutter … an die war nicht viel zu erinnern. Das war eine arbeitsame Frau, die ihr Bündel Not und Kummer mit Ergebung trug nachts und tags über mit Raunzen und Brummen und Schelten. Sie hatte nie viel Zeit für ihre Kinder übrig gehabt und für den früh einsamen Karl erst recht nicht. Die rechte Liebe zur Mutter hatte er nie kennen gelernt und bemühte sich auch jetzt nicht sie zu erwecken. Die große zärtliche Liebe zum Vater war ihm geblieben und seiner gedachte er stets mit Wehmut. Glaubte er doch jetzt, wo er über alles grübelte und sein eigenes Wesen nach allen Richtungen zu zerfasern und aufzudecken suchte, viel von seinem nachdenklichen Geiste und seinem ruhigen Äußern geerbt zu haben, abgesehen von den kleinen Zügen in Gang und Haltung.

Die Brüder, die noch in Deutschland wohnten, zum Teil ganz in der Nähe seines neuen Wohnortes, waren ihm aus dem Gesicht entschwunden und er nahm kein Interesse an ihrem Leben. Oft gedachte[24] er mehr mit freudiger Dankbarkeit als mit Schmerz des verstorbenen Adam, dessen Testament der letzte Anstoß gewesen war zur neuen Blüte seines innern Menschen. Er war ein urtüchtiger Mensch gewesen von mächtigem Körper, umfassendem Blick für sein Geschäft und großer Energie; dabei soweit es anging voll Interesse für geistige Dinge. Aber eigentümlich – so oft seine Gedanken sich Haïti zuwandten, immer war es der schwach umrissene Schatten eines Menschen, den er sich bemühte vor sich zu sehen und der ihm doch immer wieder nebelhaft zerrann. Sein jüngster Bruder, der verschollene Johannes wollte seine Wiedergeburt feiern in seiner Liebe. Ihre Wege in der Kindheit waren weit auseinandergegangen, der Sinn des Spätgeborenen war vielfach nur äußerlichen Dingen zugewandt gewesen; aber Starkblom ging es jetzt auf, was ihm die ganze lange Zeit nie eingefallen war: es war ein glänzender, strahlender Geist in diesem schmiegsamen Leibe, der da auf Irrwege geraten und vielleicht für immer für sich und die Menschen verloren war. Starkblom entsann sich jetzt der philosophischen Stunden der Primaner, wo der braunlockige Knabe manchmal ins Zimmer gehuscht[25] war und mit mancherlei Ulk und kindischem Gethue die furchtbar ernsten Abgrundsgedanken der grübelnden und Pläne türmenden Jünglinge gestört hatte, bis er mit einem Mal eine Bemerkung dazwischen warf, von der man immer noch nicht recht wußte, war sie kindliche Einfalt oder geniale Improvisation. Der wilde Hans – was mochte aus ihm geworden sein? Ob er wohl noch lebte? Starkblom schien es, er müsse ein kühner Mann und ein eisklarer Geist geworden sein, wenn er nicht gänzlich zu Grunde gegangen; ein Mensch, nach dem er sich sehnen konnte in düsteren einsamkeitsschweren Stunden, ob auch schon seine Gestalt nur unklar und verschwommen vor ihm schwebte.

Die Erinnerung an sein treues Lorchen rief er selten ins Bewußtsein herauf. Desto öfter gedachte er seiner drei Kinder, die so kurz gelebt hatten. Eigentliche Liebe für die seltsamen Wesen hatte er seiner Zeit kaum empfunden; ja des Knaben dachte er auch jetzt nur mit bitterer Empfindung. Aber doch war jetzt ein eigentümliches, der Liebe sehr nah verwandtes Gefühl in ihm: er hatte Kinder gehabt! Er könnte jetzt ein kluges fünfjähriges Töchterchen haben. Eine leise Sehnsucht nach Vaterfreude und[26] Kinderspielen und Erziehungslust regte sich oft in ihm. Doch unterdrückte er das immer rasch. Er würde die Erde nie mehr bevölkern helfen, das wußte er; so mußte er denn der Menschheit in anderer Weise dienen. Er konnte sich Menschen denken, die von vorn herein auf Ehe und Kind verzichten und von Jugend auf ihren physischen Zeugungstrieb mit mächtiger Energie in einen rein geistigen verwandeln. Auch solche erfüllen ihre Pflicht gegen ihr Volk und die Menschheit, besser als die gewöhnlichen Väter. Und plötzlich überkam ihn auch da ein Grauen vor sich selber. Wie hatte er sich nur je wie ein ganz gewöhnlicher Mensch verlieben können und alle die Thorheiten mitmachen? Und heiraten? Und – und? Zeugen? rohesten Sinnengenuß suchen? jahrelang? Hatte ich denn das nötig? Durfte ich das? Entsprach das meiner wahren Natur? Nein, nein.

O warum hatte er sich denn nur je dem Joch des Eigennutzes und des Herkommens gebeugt? Wäre er doch ruhig und ohne nach rechts und links zu sehen, seine Bahn vorwärts gegangen, gleichgiltig ob er sein Ziel erreichte oder scheiterte! Hätte er sich doch ausgelebt; wäre er doch jung geblieben! O[27] diese häßliche gewöhnliche eingeengte niederdrückende Zwischenzeit. Konnte er denn noch einholen, was er versäumt? Er mußte es einholen; er mußte denken, leben, wirken. Vorbild wollte er sein, Prophet … Erlöser – War er denn noch jung genug? Ja er glaubte an sich, er mußte ja an sich glauben; er wollte doch nicht verzweifeln? Er betrachtete sich im Spiegel und lächelte sich Mut zu; ja er war noch jung und frisch. Der Glanz seiner braunen Augen hatte noch nicht nachgelassen, noch hatte er den sprechenden, eindringlichen Zug um den Mund. Wohl waren die Haare an seiner hohen energisch vorspringenden etwas plebejischen Stirn ein wenig zurückgetreten; aber noch kein graues Haar war zu finden in seinem dichten, schwarzen Vollbarte.

Gewiß, gewiß, er war noch nicht zu alt; ihm war noch Frist genug übrig, um sein Werk zu vollenden. Und nun suchte er sich zu überzeugen, wie vorteilhaft im Grunde das lange Verstummen seiner Weisheit für ihn war, für ihn und die Welt, der er das Geschenk seiner Gedanken entgegentrug. Wäre damals, noch als er Schüler war, nicht die plötzliche Wendung gekommen, die ihn ins Philistertum getrieben[28] hatte, was wäre vermutlich aus ihm geworden? Ein frühreifer, hitziger, unaufgeklärter Mensch, der seine jünglingshaften Ideen für unantastbare Wahrheit genommen hätte, ein intoleranter, fanatischer Sklave seiner Erstgeborenen, der seine eigene Zukunft noch vor dem Entstehen abgetrieben hätte aus feiger Rücksicht aufs Vergangene, aus erbärmlicher Liebe zu irgend einem gehätschelten Erfolg in der Gegenwart. Früh, vor der Zeit, hätte er sich verausgabt, und wäre dann wenn er sein erstes verheißungsvolles Wort gesprochen, mit leeren Händen und Taschen vor der erwartenden Welt dagestanden, die jetzt erst das beste hören wollte, was aber hätte er noch geben können? Ein besonderes, kaum denkbares Glück wäre es gewesen, wenn er nach langer Pause, die jetzt doch hätte kommen müssen, sich wieder gesammelt hätte zu neuer Weisheit; aber ob man ihn dann noch hören wollte – wer hätte es wissen können? Nein, nein – besser in der Jugend gelernt und geschwiegen, und geredet als Mann.

Ihn dünkte, er brauche sich jetzt nur sorgsam zu besinnen auf alles, was er ohne besonders aufzumerken in seinem Leben gesehen, er brauche nur in Zusammenhang zu bringen die Gedanken und Stimmungen, die[29] ihm die Jahre her über die Seele gehuscht, und die Weltanschauung, die er in seinem Herzen ahnte, stände klar und abgerundet vor seinem Geiste, sein Wille sei entschieden und seine Rede für die Menschen dazu. Er meinte, dann habe er ausgelernt, es bleibe ihm nur noch übrig, die Konsequenzen aus seinem Leben zu ziehen. Erst leben, dann lehren, das schien ihm das Motto zu sein für seine Aufgabe, das war die Grabschrift, die er sich im voraus verfaßte, und der erste Teil schien ihm vollendet. War es die lange Beschäftigung mit der Jurisprudenz, die ihm damals noch alles Komplizierte einfach, alles Verwirrte schön gesondert, alles Verflochtene auseinandergesträhnt erscheinen ließ, die ihn verleitete, den gährenden Most des ungeschiedenen Lebensdranges auf die durchsichtigen Flaschen kahler Abstraktionen zu ziehen, vorzeitig einzupressen und zuzupfropfen, weil die wilde Lust überzuschäumen, sich für einen Augenblick im Verborgenen hielt? Täuschte ihm der äußere Anstrich der Geistesruhe einen Gemütsfrieden, eine Herzenskälte vor, die er am Ende doch nicht besaß? Wähnte er, sein Wille allein sei jung geblieben, sein Geist aber besitze nicht mehr die Triebkraft und Verwandlungsfähigkeit der Jugend? Sein Herz sei gefeit gegen neues unerhörtes Erleben?

[30]

Solche Erwägungen konnten ihm damals nicht ankommen. Kalt und energisch sammelte er seine zerstreuten Erfahrungen und Ideen, um dann unter die Menschen zu treten und zu zeigen, was er war und wußte und wollte. Vorderhand führte er wirklich nur ein reines Leben im Geiste, das ganz unabhängig war von seinem völlig gleichmäßig verlaufenden einsamen Leben nach außen.

Immer auf sein bisheriges Leben zurückschauend, ließ er seine Weltanschauung sich weiter entwickeln, und lebte nur, um eben nicht zu sterben.

Manchmal aber hatte er Augenblicke, und sie kamen häufiger von Woche zu Woche, wo es ihm ganz grotesk und ungeheuerlich vorkam, daß er etwas besonderes sein wolle, daß er jetzt, wo er sich dem Alter näherte, sich über seine bescheidene Stellung erheben wollte, erheben über alle die anderen Mitmenschen. War er denn wirklich mehr als andere? Und wenn auch – wozu denn das alles? Was wollte er denn? Hatte er denn etwas zu sagen? Wäre es nicht besser, die Menschen zu lassen wie sie sind? Was ging ihn schließlich das alles an? In Ruhe und Zurückgezogenheit wollte er seinen Gedanken[31] leben, und sich langsam dem Tode entgegengrübeln. Er war doch kein Weltverbesserer, war nicht geschaffen für das Auftreten in der Öffentlichkeit.

Denn schließlich – was war denn diese Welt? War denn da noch etwas zu bessern, oder auch nur zu ändern? Er lebte sich tiefer und tiefer ein in das metaphysische Gespinnst, seine Gedanken schienen ihm bald das einzig Wahre, die Welt war das Produkt seiner Sinne und seines Bewußtseins überhaupt. Lohnte es sich denn, an solchem trügerischen Schein ändern zu wollen, in eiteln Traum Vernunft zu bringen, die Gestalt einer Seifenblase zu verbessern? Die Formen mochten wechseln, der innerste Kern der Welt blieb doch derselbe und war unabänderlich.

Dann aber kam wieder neuer Zweifel über ihn: war es denn nicht verwegenste Überhebung, alles für Trug erklären zu wollen, nur damit seine Gedankenwelt wahr bleibe? Wäre es nicht bescheidener, die Welt vorerst zu lassen wie sie ist und an der Richtigkeit seines eigenen Denkens zu zweifeln?

So bohrte er sich gewaltsam tiefer und tiefer in Unzufriedenheit hinein und raubte sich vollends den[32] Rest von Naivität und unfragsamer Lebensfreude, den er noch bis dahin besessen hatte. Schließlich hatte er oft Momente, wo ihm diese ganze Grübelei als dilettantische oberflächliche unersprießliche Kindereien erschien, hauptsächlich dem Bedürfnis entsprungen, einen Vorwand für seine Weltfremdheit und Beobachtungsfaulheit zu haben.

Ja, was wollte er denn auch noch in der Welt? So fragte er bald entschlossen. Mochten die anderen dahinleben, ohne zu fragen, mochten sie die Arbeit für ihren vom Weltenschöpfer gesetzten Lebenszweck halten und handwerksmäßig in engem Stall dahinvegetieren, bis sie starben – was lag ihm daran? Er empfand mehr und mehr einen tiefen Ekel vor bürgerlichem Beruf, vor unbewußtem dämmerhaftem Leben, vor Leuten, die nicht die Zeit hatten zu fragen, wozu?

Bald hatte er jetzt ganze Tage, an denen ihm alles lächerlich, fast verrückt vorkam. Wenn er gemächlich spazieren ging, halb nachdenkend, halb seine Sinne der Welt öffnend, mußte er sich immer wieder fragen: wozu denn aber in Drei-Teufels Namen das alles? Da rennen sie und hasten[33] sie und alle arbeiten sie drauf los und einer verdrängt eifersüchtig den andern; zu welchem Zweck denn? was haben sie denn Großes vor Augen? haben sie sich denn überhaupt ein Ziel gesteckt? Hat auch nur jeder ein besonderes Ideal, das er heiß begehrt zu erreichen, oder arbeitet gar alles in schön verteilten Rollen auf einen Punkt hin? Von alledem schien ihm keine Rede zu sein. »Machen sie sich gar was vor?« murmelte er einmal vor sich hin, als er an einem Steinbruch vorbeikam, wo alles eifrig bei der Arbeit war. »Mir scheint wahrhaftig, das ist eine bunte Komödie, das alles! Wen wollen sie wohl täuschen?« Und so grübelte er weiter. Natürlich, jeder wollte dem andern vormachen, er habe ein Ziel, er wisse, wofür er arbeite, und jeder that, als glaube er dem andern. Dann kam er am Friedhof vorbei und da fiel ihm noch ein neues ein. Sich selber täuschten sie auch, und das war wohl die Hauptsache. Der Tod, der war es, der bestimmte ihr ganzes Leben, das was sie Leben nannten. Jeder machte möglichst viel Lärm, um sich nicht ans Sterben zu erinnern, und alle hegten wohl insgeheim die Hoffnung, an ihn komme die Reihe nicht, er brauche nicht ins Gras[34] beißen. Und weil sie sich das doch nicht recht glaubten, betäubten sie sich durch lächerliche, ganz überflüssige Beschäftigung, und das nannten sie dann »leben«. War das nicht zum wahnsinnig werden? Wenn sie einsähen, daß alle ihre Arbeit ganz und gar überflüssig wäre, wenn sie sich zugeständen, es sei nicht der mindeste Zweifel erlaubt, daß sie alle mit einander, einer nach dem andern, sterben müßten, dann würden sie wohl ihr Maschinengerassel zur Ruhe bringen und ihr Handwerkszeug, die Requisiten der großartigen Komödie, unberührt an die Wand lehnen und – ja, wie denn? War es denn nicht überhaupt ungeheuer gleichgiltig, ob man jetzt stirbt, oder in zehn, zwanzig, fünfzig, siebzig Jahren? War denn die Zeit überhaupt etwas, das ernstlich in Betracht kam? Nein, nein. Nicht im mindesten. So viel er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keinen andern Lebenszweck, als den Tod; auf den lief alles hinaus. Eine lächerliche Einrichtung in dieser verrückten Welt allerdings, daß man geboren wurde, um zu sterben, nur um zu sterben. Aber es war nun doch einmal so, und das beste mußte wohl sein, sich damit abzufinden und diese Erkenntnis zu verbreiten,[35] damit jeder, der das eingesehen, möglichst rasch sein Ziel erreiche und stürbe.

Oder war es doch nicht so? War es ein ungeheurer Irrtum, eine großartige Stumpfheit seines Geistes, daß er, so lange er auch sein Hirn zermarterte, keinen andern Lebenszweck ausfindig machen konnte? Darüber mußte er sich eigentlich vergewissern. Er war doch nicht der einzig Vernünftige unter den Lebenden, aber er hatte doch noch keinen gefunden, dem diese schauerliche Einsicht so klar, so selbstverständlich und unabänderlich gewesen wäre. Er mußte sich doch erkundigen, was die andern eigentlich vom Leben hielten. »Was dünket euch vom Leben?« Er meinte, mit dieser Frage jeden Menschen überfallen zu sollen, den er antraf. Er blickte, wenn er in der Stadt war, den Leuten, die ihm begegneten, prüfend ins Gesicht, ob da wohl ihre Gedanken über ihr eigenes Dasein zu lesen wären, aber er fand nichts dergleichen. Ihre Mienen deuteten immer nur auf lächerliche täuschende Kleinigkeiten, Essen, Schlafen, Trinken, Spazierenfahren, Kirchengehen, Theaterbesuchen, Holz hauen, Kohlen fahren, Kessel heizen, Schuhe flicken, Hemden nähen, Strümpfe stricken,[36] Kinder unterrichten, Gemüse kaufen, Waaren verkaufen, Wechsel einlösen, Häuser bauen, Steuern einziehen, Soldaten drillen, Gesetze machen, Reden halten – immer und immer nur die Maske, der Schein, die Comödie; nirgends, auf keinem Gesicht zu lesen das Ziel, die Sehnsucht nach dem Ziel, die Verzweiflung. Waren sie alle Narren und er der einzig Vernünftige; oder waren sie alle klug und er ein wahnsinniger Thor? Das hätte er gerne herausgebracht.

Diese Richtung hatten seine Gedanken genommen während der ersten Monate seines Aufenthaltes in dem weißen Hause. Die beschauliche Kälte seines Geistes war rasch von ihm gewichen, nachdem er sich erst wieder tiefer mit der Frau Welt und ihrer Weisheit eingelassen; eine unruhige, oft leidenschaftlicher Verzweiflung nahe Gemütsverfassung war Herr über ihn geworden. Das war besonders begünstigt worden durch seine gänzliche freiwillige Vereinsamung. Er hatte niemanden aufgesucht und Gelegenheiten vermieden, wo er hätte flüchtige Bekannte treffen oder neue Menschen finden können.

Jetzt, wo ihn eine Ahnung überkam, es könne ihm nicht schaden, wieder unter Menschen zu kommen, nun[37] wo alles in ihm ins Wanken geraten war und er Genossen brauchte, die ihn stärkten und fortführten in anderes freundliches Gebiet des Denkens, brachte ihn der Zufall mit einem Freunde aus seinen ersten Jugendjahren zusammen, den er längst völlig aus den Augen verloren hatte.

Es war in den ersten Tagen des August, an einem schönen Nachmittag. Er hatte sich in die düstern Canzonen des Leopardi versenkt. Da brachte ihm die Haushälterin eine Visitenkarte. Der Herr warte außen, ob Herr Doctor zu sprechen sei. »Robert Wangaus, Fabrikant,« stand auf der Karte. Wangaus – Robert Wangaus – er mußte sich wirklich einen Augenblick besinnen. Dann schämte er sich, daß es ihm nicht gleich eingefallen war, wer den Namen trug, und daß er seit Jahrzehnten nicht mehr an ihn gedacht hatte. Ich lasse bitten, ich lasse bitten, antwortete er der Frau. Er war wirklich froh, einen Bekannten nach so langer Zeit wieder zu sehen, einen Freund aus seiner frühesten Jugend. So so, der war Fabrikant geworden. Also auch ein Berufsmensch, wie er selbst noch bis vor Kurzem. Ja ja, das war vorauszusehen. Er war begierig, wie er nun war.[38] Es war einer von seinen intimen philosophischen Freunden gewesen, der Wangaus, ein kühner, phantasievoller Knabe.

Ein dicker Herr mit glatt rasirter Miene trat ins Zimmer, legte seinen Seidenhut auf einen Stuhl an der Thür und die rothbraunen Handschuhe darauf. Dann ging er auf Starkblom zu, der aufgestanden und ihm entgegengetreten war.

»Ich habe mich also nicht geirrt, Herr Landgerichtsrat, ich erkenne in Ihnen –«

»Aber Wangaus,« unterbrach ihn Starkblom, »natürlich bin ich der Karl Starkblom, wie Du der Robert Wangaus. Das freut mich recht. Bitte setz dich doch. Wir wollen doch das alte Du beibehalten, meinst du nicht? Wie ging dir’s denn immer? Du bist Fabrikant? Wohnst du hier? Bist du verheiratet? Bitte setz dich doch.«

In der nun folgenden Unterredung ergab sich, daß Wangaus Besitzer einer Goldwaarenfabrik am Orte war und mit seiner Familie – er war seit Jahren verheiratet – in der Stadt lebte. Er hatte schon vor mehreren Wochen von der Anwesenheit Starkbloms gehört, habe eigentlich gleich gewußt, daß er ein alter[39] Bekannter vom Gymnasium her sei, habe auch schon früher kommen wollen, aber wie das nun so gehe, es habe sich eben verzögert, er komme zu nichts mehr, die Geschäfte, die Geschäfte, die Geschäfte –

»Ja ja, die Geschäfte,« wiederholte er noch einmal, indem er bedächtig ein paar Haare am Rande seiner Glatze zurecht legte. »Sie, Herr – entschuldige, ich muß mich erst wieder daran gewöhnen – du hast’s nun freilich gut. Das heißt, offen gesagt, ich wüßte nicht, was ich den ganzen lieben langen Tag treiben soll, wenn ich meine Arbeit nicht hätte.«

»Seit wann hast du denn das zu deinem Lebensberuf gemacht?«

»Wie?«

»Ich meine, seit wann du die Welt mit deinen Schmuckwaaren beglückst?«

»Erlaube, das ist nun eigentlich nicht ganz richtig ausgedrückt. Ich fabricire nicht eigentlich Schmuckgegenstände; – ich weiß nicht, hast du eigentlich die Entwicklung unserer Industrie genauer verfolgt? Sie hat einen riesigen Aufschwung genommen. Wenn du die Sache nicht studirt hast, kann ich dir’s nicht in Kürze erklären. Die Sache ist die, daß wir nur eine[40] bestimmte Art Gold herstellen, wie es die Schmuckfabriken zu weiterer Verarbeitung gebrauchen. Es ist da eine kolossale Arbeitsteilung eingetreten; der ganze Verarbeitungsproceß hat sich mechanisirt; überhaupt, wenn ich einmal Zeit finde, mich theoretischer Betrachtung hinzugeben, die Entwicklung der modernen Industrie zu betrachten, werde ich nicht müde. Das ist etwas herrliches; einfach großartig! Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern –«

Starkblom unterbrach ihn durch ein feines, spöttisches Lächeln.

»O, du solltest nicht lächeln, daß ich Poesie citire. Ich bin freilich ein Geschäftsmann, habe wenig Zeit, aber man steht doch sozusagen immer noch unter dem Bann seiner Jugendduselei, und wenn ich Zeit hätte, ich würde wahrhaftig heute noch manchmal etwas von Goethe und Schiller lesen.«

»Ins Theater gehst du aber doch öfter?«

»Ins Theater? Ja freilich, ja freilich. Das heißt – meine Frau ist abonnirt, und wenn sie gerade keine Zeit hat oder auch keine Lust – du verstehst –«

»Jawohl, jawohl. Nun, da wird wohl Goethe und Schiller öfters an dich kommen?«

[41]

»Du meinst, meine Frau? – Ja allerdings. Aber doch nicht. Da gehen die Kinder herein. Klassische Stücke sind für die Kinder. Meinst du nicht auch?«

»Hm, ja – weißt du, wir wollen lieber erst gar nicht anfangen, darüber zu streiten. Ich fürchte, ich stehe da auf einem so ganz, ganz anderen Standpunkt, wie du.«

»So, wie du willst; das ist leicht möglich. Sag einmal, hast du eigentlich Kinder?«

»Nein.«

»Auch nie welche gehabt?«

»Gehabt? nein. Nur zu haben versucht. Drei. Das zweite überlegte sich’s drei Monate lang, ob es leben wollte, entschied sich dann aber auch für’s Gegenteil.«

»Das ist hart.«

»Nein. Es ist nicht hart. Oder meinst du wirklich? Wieso eigentlich hart?«

»Na, das ist aber doch nicht dein Ernst. Das ist doch selbstverständlich.«

»Daß der Mensch stirbt, früher oder später? Ja, das ist allerdings selbstverständlich.«

»Ja, aber es ist doch wahrhaftig ein Unterschied,[42] ob ein kleines Kind stirbt oder ein Mann, der seine Lebensarbeit hinter sich hat. Das ist doch klar.«

»Merkwürdig – euch ist alles selbstverständlich und klar, was mir heute zweifelhafter als je ist. Lebensarbeit, Lebensarbeit. Was ist denn das? Ehrlich gesagt, was ist denn nun deine Lebensarbeit?«

»Gott stellt jeden auf den Platz, den er einnehmen muß. Es ist keine Arbeit vergebens. Wenn ich auch nur verschwindend wenig der Menschheit nütze, ein bischen ist’s immerhin und ich erhalte Weib und Kinder. Das ist meine Philosophie.«

»Meine ist’s nicht,« sagte Starkblom sehr ernst, indem er aufstand und hin und herging. »Ganz abgesehen von Gott, der, scheint’s, heutzutage nur noch zwei Zwecken dient.«

»Und die wären?«

»Erstens zur Ausrede und zweitens, vernünftige Menschen nervös zu machen. Gott stellt jeden auf seine Stelle! Haha! – Übrigens hast du in deiner Jugend auch anders gesprochen.«

»Nun, du hast doch diese Jugendtorheiten auch längst hinter dir. Man wird gesetzter. Übrigens ist’s dir wohl nicht ganz Ernst mit alledem. Ich erfülle[43] als Fabrikant meine Pflicht so gut wie du als Richter – und erfülle sie heute noch.«

»Pflicht, Pflicht. Gegen wen denn Pflicht?«

»Das weiß doch jeder. Wozu solche Dinge fragen?«

»Warum nicht fragen? Nochmals – Pflicht gegen wen?«

»Nun, gegen die Mitmenschen.«

»Wirklich? Wann kam dir denn der Ruf?«

»Wie?«

»Wieso empfandest du denn das unwiderstehliche Bedürfnis, die Menschheit mit Schmuckwaaren, nicht doch, mit Gold einer bestimmten Art zu versorgen?«

»Ach, das läßt sich doch nicht so einfach sagen. Das sind sehr verwickelte Verhältnisse. Du als Jurist mußt das doch wissen, besser als ich. Nationalökonomie hast du ja doch jedenfalls studirt.«

»Ich studire sie sogar noch. Aber trotzdem –«

»Na, siehst du. Und übrigens – in die Wiege gelegt wurde dir wohl auch kaum die Bestimmung, Richter zu werden.«

»Da hast du sehr recht. Das darfst du mir vorwerfen. Du weißt aber auch, daß ich’s jetzt nicht mehr bin.«

[44]

»Ja allerdings. Du hast’s eben nicht mehr nötig. Glücklicher.«

»Du irrst. Das war nicht mein Grund. Mein Grund nicht.«

Jetzt war das Lächeln an Wangaus.

»Na, na. Täusche dich nicht selbst. Hätte ich so eine Erbschaft gemacht – überhaupt, wer hätte nicht so gehandelt an deiner Stelle?«

»Ja wo bleibt denn da der Beruf und die göttliche Bestimmung? So sagtest du doch?«

»Nun, nun – das schließt nicht aus, daß man sich im Alter zur Ruhe setzt. Wenn man’s kann, natürlich.«

»So alt bin ich noch nicht. Im Gegenteil – meine Arbeit fängt jetzt erst an.«

»So?«

»Ja allerdings. – Das Philosophieren hast du also gänzlich aufgesteckt?«

»Das kannst du dir doch wohl denken. Wozu auch, selbst wenn ich Zeit hätte? Das führt ja doch zu nichts.«

»So? Na, ich weiß nicht. – Ich will jedenfalls jetzt auch versuchen –«

[45]

Er hielt inne.

»Nun?«

»Ich meine, ich werde jetzt erst beginnen zu arbeiten, wie gesagt. Ich will auch Gold fabriciren.«

»Was? Das ist doch kaum dein Ernst. Die Branche liegt jetzt sehr darnieder. Leider.«

»Ich mein’s natürlich nur bildlich. Dir werde ich keine Concurrenz machen.«

»Nun, die Firma Wangaus u. Co. hätte das kaum zu fürchten. Bildlich? Das verstehe ich nicht.«

»Ja, anders kann ich’s kaum ausdrücken. Mein Beruf ist denken und aufklären.«

Wangaus schaute sich im Zimmer um und gewahrte die vielen zerstreut da liegenden Bücher.

»Ach so, du willst schriftstellern? Bücher besprechen, alte Meinungen umstoßen, neue aufstellen? Dazu wünsche ich dir von Herzen Glück. Dazu hast du jedenfalls Talent. Da kannst du dir bald einen Namen machen. Oder willst du pseudonym schreiben?«

»Nein. Das jedenfalls nicht. Überhaupt, ob’s auf’s Schriftstellern hinaus läuft, das weiß ich auch noch nicht. Ich bin kein sonderlicher Freund von Papier. Das ist alles noch ganz unbestimmt, übrigens[46] auch ziemlich gleichgiltig. Auf’s Wirken kommt mir’s an, in welcher Weise, das wird sich schon finden.«

»Jawohl, freilich, es giebt ja auch noch andere Wege. Die kaufmännischen Vereine veranstalteten ja jetzt überall populäre Vorträge. Wenn du das willst, ich bin im Vorstand des hiesigen, da könnte ich dir behilflich sein im nächsten Winter.«

»Danke, danke, ich glaube kaum, daß mir das passen wird.«

»Oder bist du ein großer Politiker geworden? Willst dich um ein Reichstagsmandat bewerben? Dir stehen ja jetzt alle Wege offen.«

»Auch dazu werde ich wohl kaum je den Trieb in mir fühlen. Wie gesagt, das wird sich finden. Ich bin noch nicht so weit, das entscheiden zu können, aber bald, hoff’ ich.«

Wangaus stand auf.

»Soso. Na, jedenfalls freut’s mich, dich so wohl getroffen zu haben. Kann leider nicht länger bleiben. Das Geschäft ruft, das Geschäft. ’s ist verdammt weit zu dir heraus. Bitte, besuch mich bald. Du wirst ja wohl den Weg zu mir finden.«

Damit nahm er seine Handschuhe und den Cylinderhut[47] und ging nach den üblichen Abschiedsredensarten. Als er die Treppe hinunterstieg, dachte er:

»Wahrhaftig, er ist noch der alte unklare Strudelkopf. Nicht im mindesten hat er sich verändert. Kaum glaublich, daß der’s zum Landgerichtsrat gebracht hat.«

Starkblom aber ließ zunächst alles persönliche beiseite, ihm war gegen Ende des Gesprächs eine psychologische Wahrnehmung aufgestoßen, die er schnell ein wenig weiter verfolgen mußte. Merkwürdig, ganz merkwürdig, wie zwei Menschen, die im Grunde gar nichts mehr mit einander zu thun haben, zusammen reden können, obwohl ihre Naturen so gänzlich verschieden sind, daß der eine immer den andern mißverstehen muß. Und das nennt man dann Unterhaltung! Er sprach von Aufklärung und Wirksamkeit, Wangaus antwortete mit einer Bemerkung über Schriftstellern und die kaufmännischen Vereine, er deutete seine Sehnsucht an, seine Natur auszuleben, Wangaus dachte an Ehrgeiz und Ruhmbegierde. Und schließlich ging dieser gute Philister noch weiter als er selbst, er fragte leidenschaftlich: wozu? und jener antwortete mit behäbiger Ruhe: wozu wozu? Und hatte er am Ende recht? Wozu sich quälen? Doch nicht nur, um sich[48] eben zu quälen? Doch nicht blos, weil er nichts anderes zu thun hatte? Wangaus hielt seine Arbeit für ernsten Lebensberuf, die Grübelei verachtete er als unnützen werthlosen Luxus; er selbst aber verachtete die geistlose Arbeit, die aus bloßer Gewöhnung hervorging und keinem vernünftigen Zweck diente, keinem festgesteckten Ziele zustrebte, er hielt das Einbohren in das Denken für’s höchste. Wer war der Narr? Leicht beide?

Er hatte gute Lust, nach diesem seltsamen Zusammentreffen mit einem seiner liebsten Freunde aus der Knabenzeit sich noch mehr abzusondern von den Menschen und sich in seiner Einsamkeit zu begraben. Er wurde nicht begriffen von diesen Menschen und ihm fehlte auch das Verständnis für ein Leben, wie sie es führten. Hinaus aus dieser Erbärmlichkeit sehnte er sich, und weg wollte er auch, weit weg von seinem eigenen selbstmörderischen Grübeln. Er brauchte einen andern Umgang, ihn ekelten diese Menschen, und ihn ekelten seine eigenen Gedanken. – Er dachte im Ernst daran, sich einen großen edeln verständigen Hund anzuschaffen. Dann aber versuchte er es doch noch einmal mit etwas menschlichem. Er flüchtete nach[49] Arkadien, ins Reich der reinen Formen, ins Land der Kunst. Die nächsten Tage versenkte er sich in die edelsten Dichtungen, die in deutscher Sprache geschaffen sind: er las Goethes Iphigenie, Partien aus dem 2. Teil Faust, Pandora. Als er nach diesem erlesenen Genuß zu Schillers Braut von Messina kam, klappte er das Buch nach wenigen Minuten schon angewidert zu: selbst diese Kost war ihm zu grob geworden, zu menschlich ordinär. Auch Schopenhauer konnte er nicht mehr lesen, der war ihm jetzt wie ein wildes gieriges Tier in enger stinkender Menageriezelle, das nicht durfte, wie es wollte. Selbst Leopardi war ihm zu unfein.

So hütete er sich denn von da an, mit Menschen und Büchern und Einfällen zusammen zu stoßen, die ihn hätten aus seiner Gemütsruhe reißen können, in die er sich mit Gewalt hineinzwang. Nur nichts unangenehmes, nichts gewaltsames, nichts aufregendes. Vielleicht später … später … jetzt wollte er Ruhe. Er ging früh zu Bett und stand spät auf. Dann ein langsames Frühstück, während dem die Morgenträume sich weiterspannen und langsam verwehten. Darauf ein kleiner Spaziergang durch den Tannenwald,[50] bei dem er nichts dachte. Dann las er: Goethe, Spinoza, Platon, Ranke. Altes, Weisheitsvolles, Greisenhaftes war ihm das liebste. Daneben auch mystische Romantik und Heiterkindliches: Brentano’s Rosenkranz, Arnim, Eichendorff, Jean Paul, Gottfried Keller. So trieb er es wochenlang, monatelang. Dieses oberflächliche Wohlleben mit der scheinbaren Vergnüglichkeit, während innen kaum bewußt etwas in ihm fraß und zur Oberfläche sich langsam empornagte, hatte etwas bänglich – entsetzliches an sich. Und weiter ist demnach vorerst nichts über ihn zu vermelden.

[51]

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