Zweiter Abschnitt.

Solche Menschen, die ähnlich Karl Starkblom, freilich selten so heftig von einem Trieb in den andern geschleudert, von einer Verzweiflung der andern geraubt, früher oder später mit unabwendbarer Bestimmtheit sich aus der menschlichen Gesellschaft in die Einsamkeit hineinstahlen, gab es damals in Europa eine kleine Schaar, die nichts von einander wußte und nichts von einander wollte, die keinen Verein bildete und keine Partei, deren Ekel zu groß und deren Glaube zu schwächlich war, um in der Gegenwart etwas zu lieben und von der Zukunft viel zu erhoffen. Ab und zu tötete sich einer von ihnen, und den andern fuhr es durch die Glieder und sie ehrten den unbekannten Toten, indem sie sich fragten, worauf sie selbst eigentlich warteten mit dem Sterben.

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Doch das waren nur ganz vereinzelte Erscheinungen, halb oder ganz verrückte Sonderlinge ohne Gefahr, die die Welt nicht weiter beachtete; ihretwegen hätte sie ruhig und unbesorgt ihren mäßigen Pflichten und bescheidenen Genüssen nachkommen können. Aber von ganz entgegengesetzter Seite her war inzwischen eine neue Lehre so gewaltig in die Massen der Völker hineingedrungen oder aus ihnen heraus entsprungen, man wußte es nicht recht, daß vorschauende Politiker eine große Revolution ahnten, manche philosophische Historiker aber die Zeichen einer mächtigen religiösen Volksbewegung erblicken wollten. Die internationale Socialdemokratie war eine Weltmacht geworden, mit der der größte Staatsmann und der kleinste Dorfpfarrer rechnen mußte.

Am mächtigsten gefördert worden war das riesenhafte Wachstum des Sozialismus durch die Kläglichkeit des europäischen Bürgertums, wie es sich nach der französischen Revolution entwickelt hatte. Das harte gute Gewissen des Mächtigen und Reichen war nunmehr für immer dahin, nunmehr wurden so viele Freiheiten und Rechte von der Gesammtheit als ewige unantastbare Menschenrechte anerkannt, daß jene erbärmliche[53] Gesellschaft aus dem Widerstreit der überlieferten Verhältnisse, deren Früchte sie genoß, und der ihr vererbten Freiheits- und Gleichheitsideen nicht mehr herauskam. Fortwährend wurden sie gepeinigt von dem bösen Gewissen, sich mit dem Blut der Armen zu nähren und auf den Leibern des Proletariats Paläste zu bauen, mit zitternden Händen und schielenden Blicken scharrten sie Genüsse zusammen, sie steckten den Kopf in den Sand und warfen mit Phrasen um sich, zur Brutalität hatten sie keinen Mut und zur Entsagung keinen Gedanken.

Der Liberalismus war damals aufgekommen und die Verpönung aller Gewaltsamkeit, und eine dilettantische Moral machte sich breiter als je zuvor. In keiner Zeit war die Lehre und das Leben in einem so kläglichen Gegensatz gestanden, aber sie glaubten an ihre Lehre und an ihr Leben und ließen sich’s wohl sein, so gut es gehen wollte; denn niemals kam ihnen ein Zweifel an dem, was beides so merkwürdig verband, an ihrer Moral.

Diese chaotische anarchische Zeit war so recht das fruchtbare Mistbeet, dem wunderbare, unerhörte Erscheinungen entsprießen konnten. Das war die Zeit,[54] wo alle Richtungen, die je nach langer, bedächtiger Vorbereitung auf Erden erwachsen waren, von frischem erstanden und angepriesen wurden als neue erlösende Wahrheiten, wo ein neuer Glaube schneller wieder weggelegt wurde als ein unmodernes Gewand, das war die späte Zeit, in der alles Frühe und Ungegorene gierig geschlürft wurde.

Damals berührten sich in der That die Extreme, und die Stärksten und die Schwächsten fanden sich zusammen im Ekel und in der Resignation. Damals pries in Rußland ein Graf und Philosoph die segnende Macht der körperlichen Arbeit und entsagte seiner gesellschaftlichen Stellung und ward Bauer und Schuhmacher; und zu gleicher Zeit war der deutsche Schuhmacherssohn, der Schloßherr vom weißen Hause, nahe daran, die Arbeit zu verhöhnen. Und doch gehörten diese beiden einsamen Prediger, denen der Ekel gemeinsam war, zusammen.

Diese Vereinzelten waren übersatt und schlichen sich weg vom Tische des Bürgertums; in der Socialdemokratie aber erstand eine organisierte Masse von Hungrigen. Stürmisch begehrten die Arbeiter Einlaß in die Paläste des Geistes. Diese Schaaren von[55] zielbewußten Kämpfern boten ein Bild, wie es niemals dagewesen war. Es war in diesen Köpfen eine merkwürdige Mischung von Phantasie und Nüchternheit, von Leidenschaft und Zurückhaltung, von Glauben und Skepsis, von Aufschwung und Bedacht. Sie hatten die Gefahr der schönen Worte erkannt und hüteten sich meist ängstlich vor ihnen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – was war geworden aus diesem berauschenden Kampfruf der Revolution? Freiheit? Nie war ein schönes Wort schnöder mißbraucht worden. Ja freilich, die Wahl stand ihnen völlig frei, nach den Bedingungen des Kapitalismus zu arbeiten, oder zu verhungern und zu vertieren. Kein Zwang wurde ausgeübt, niemand beeinträchtigte ihre persönliche Freiheit. Und Gleichheit – nun allerdings, sie waren eine im wesentlichen gleiche proletarische Masse geworden. Aber die Brüderlichkeit, die mußten sie selbst dazuthun, an die hatte man nicht mehr gedacht, und sie wollte nun empor in der Socialdemokratie. Arbeiter aller Länder vereinigt euch! Dieser Ruf zog durch die ganze Welt und rüttelte die Unterdrückten auf und verband sie zu gleichem Zwecke; zur Befreiung der Menschheit von der anarchischen Waarenproduction[56] und Circulation, zur communistischen Herstellung und Distribution der Bedürfnisse, zur Vernichtung des blinden Egoismus; zur Zertrümmerung der nationalen Gegensätze; zur Herstellung einer wirklichen Menschheit und Menschlichkeit.

* * *

Karl Starkblom hatte, als er damals in neu aufflammender jugendlicher Begeisterung ein Ziel vor sich hatte erstehen sehen, als er sich dann vorbereitete zu seinem Wirken unter den Menschen, auch manche sozialistische Schriften, vor allem das Hauptwerk des Karl Marx, ziemlich gründlich studirt. Dann aber war der neue Mensch in ihm emporgekommen, der so lange geschlummert, der ungestüme Frager und Peiniger, der Befriedigung wollte für sich selbst und seine unbestimmte Sehnsucht, der an alles herantrat mit der Frage: wozu? warum so? warum nicht anders? was soll werden? So konnte ihm, der sich selber auszuleben gedachte, und doch sich selber nicht ergründen konnte, ihm, der nicht wußte, was der Mensch sei, der Sozialismus, der die armseligen Proletarier zu Menschen machen wollte, damals keine abschließende[57] Weltanschauung bieten. So hatte er sich schließlich vor allem Grübeln und Verzweifeln, vor dem hastigen Suchen einer neuen Welt, in den Bereich einer alten fertigen toten Kunst und Weltanschauung zurückgezogen, um vorerst Ruhe zu haben, Ruhe um jeden Preis. Manch anderer wäre endlich nach so vielfacher innerer Gährung dabei geblieben, und wie der junge Schwärmer Karl sich in die Beamtenlaufbahn einfriedete, war der Mann nahe daran, sich unter der schützenden Decke einer vereinsamten und versteinerten Cultur zu begraben. Aber es lebte etwas Unsagbares in dem Manne, das immer wieder sich aufbäumte gegen den ruhsüchtigen Quietismus und die Selbstbetäubung des Schuhmacherssohnes; etwas robust in die Höhe Strebendes und Mitteilsames; dasselbe was den verstorbenen Adam nach Haïti, Johannes in die weite Welt gezogen hatte. Sein Geist arbeitete zu rasch, als daß sein Wille immer gleich mitkommen konnte; daher sein Abspannen und scheues Reifenlassen, sein willkürliches Abbrechen und Vereinsamen des Denkens. Er war ein sehniger Mann von langem Leben und hatte Zeit; das schlummerte unbewußt hinter all seinem Thun und Lassen.

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So war es denn allmählich so weit gekommen, daß ihn diese beschauliche Ängstlichkeit seines Lebens, diese Zurückgezogenheit und dieses Traumgedämmer anfing zu langweilen. Seine Seele rankte sich langsam wieder ins Leben hinaus und horchte, was draußen vorging und tastete vorsichtig nach Stützpunkten, um in frischer Öffentlichkeit und mitten unter den Menschen sich festzulegen und doch ihre Ruhe zu bewahren. Er ahnte, es könne auch in ihm noch eine Heiterkeit leben und vielleicht auch ein Glaube. Er hatte die Gescheitheit und Gebundenheit seines Lebens satt und rüstete sich zu fröhlicher Dummheit und Hingerissenheit.

Es war an einem wunderschönen, durchsichtigen Wintertage, als sich mehr wie je wieder etwas wie Frische und Mut und zartkeimende Lebenslust bei ihm einstellte, und wer weiß, woher ihm der Gedanke angeflogen war, er suchte unter allerlei Gerümpel ein Paar altmodische Schlittschuhe vor, die er seit langen Jahren nicht mehr an den Füßen gehabt, und machte sich auf den Weg nach dem seit mehreren Wochen fest zugefrorenen Teich, auf dem sich die Einwohner des Städtchens zu tummeln pflegten. Es schien ihm selbst wunderbar, als er mit großen Schritten auf dem[59] knisternden Schnee wandelte, daß er sich endlich wieder unter Menschen wagte, unter ganz gewöhnliche sinnfreudige Menschenkinder. Besonders wohl fühlte er sich anfangs nicht, er war den Lärm und das Schwätzen und vor allem das Lachen nicht mehr gewohnt, und er erinnerte sich, daß er sich früher schon manchmal staunend überlegt, bei welcher Gelegenheit wohl die Menschen zum ersten Male das Lachen gelernt. Es mußte wohl etwas gewaltig Verzerrtes, unbegreiflich Dämonisches urplötzlich auf sie heruntergefallen sein, denn dies kindliche, heitere Lachen der harmlosen Jetztlebenden war gewiß nur das armselige mißratene und umgedeutete Überbleibsel einer tiefgewaltigen Erschütterung von Urmenschen, bei der übergroßer Schmerz und Lust nicht zu trennen gewesen.

Bald aber kam doch ein ungewohnt Friedliches und Sanftes in ihn hinein, wobei indessen Wehmut und Ungewißheit nicht von ihm weichen wollten. Wie kam der Einsame jetzt mit eins in diese ausgelassene jugendliche Schaar? Er sah sich forschend um und fand, daß er wohl fast der Älteste auf dem Eise war. Vielleicht auch der Ungeschickteste; doch das störte ihn wenig. Als er einmal in einen Riß eingefahren und[60] zu Boden gefallen war, kam ihm der bizarre Einfall, daß er sich einen Christus auf Schlittschuhen nicht gut vorstellen könne. Er lachte bitter vor sich hin und warf den Gedanken weg. Mußte man sich denn in eine Wüste zurückziehen, um den Menschen Großes zu holen? O man konnte auch einsam sein unter Menschen. In großen Bogen strich er über das klirrende Eis, bald an wenig befahrenen Orten, bald mitten durch die Menschenknäuel sich hindurchwerfend, und vertiefte sich in sein Grübeln. Wenn jetzt das Eis mit schrillem Krach bräche und die Menschen in sich hineinschlänge und sich dann wieder schlösse, was wäre viel dran? Und wenn die ganze Menschheit versänke und die Erde in die Sonne stürzte und die Sonne – und die Welt – und alles hin – und nichts – was wäre dran? was wäre hin? Was für ein unendlicher Zweck wäre für immer geschwunden? und wen betrübte es? Einen Zuschauer und erhabenen Betrachter des Ganzen? Oder das Ganze selbst? War Ursprung und Fortgang und Ende und Mittel und Zweck und Handeln und Genuß ein und dasselbe und eins mit dem Frager? Und wenn alles und alles –

Und wenn der Himmel einfällt, sind alle Spatzen[61] tot! Damit unterbrach er schroff halb unmutig, halb doch belustigt sein Forschen. Es muß jetzt ein Ende werden mit dem Denken, ich muß handeln! Ich gehe nach Hause und überlege, aber praktisch, was zu thun, wie mich wenden an die Menschen, wie ihnen mitteilen, was ich gedacht und will – ja was will ich denn, du Narr? Ach was, das Beste, was man hat, weiß man nicht mit klaren Worten. Das kommt schon. Oder vielmehr, es ist schon da. Es liegt schon in mir. Ich muß den Schatz nur heben. Ich muß anfangen zu reden. O mir ist auf einmal die Zunge gelöst. Ich habe lange genug geschwiegen. Ich muß nur anfangen mit dem Reden. Dann wird es mir wie ein Feuerstrom von den Lippen fließen. Anfangen, nur anfangen. Jetzt ist es Zeit.

Und als ob er es nicht abwarten könnte mit dem Beginnen, rannte er mit gewaltig großen ungeschickten Zügen zur Belustigung der hinter ihm dreinfahrenden Jugend nach einer Bank, schnallte rasch die Schlittschuhe ab und eilte nach Hause, diesmal den näheren Weg durch die Stadt wählend.

Unterwegs bemerkte er an verschiedenen Straßenecken große blaue, weiße und rote Plakate, vor denen[62] sich Bürger und Schulkinder trotz der grimmigen Kälte eifrig lesend hinstellten. Gedankenlose Neugier, vielleicht auch etwas frischerwachtes Interesse an dem Treiben der Leute ließen Starkblom auch anhalten. Da las er auf dem großen hellblauen Plakat: Aufruf. Mitbürger! Die Reichstagswahlen stehen vor der Thür. Bei keiner der vergangenen Wahlen stand Größeres auf dem Spiel.

So ging es ziemlich lange weiter. Zum Schlusse ward aufgefordert, Mann für Mann einzutreten für den bewährten Kämpfer der freiheitlichen Sache, Herrn Commerzienrat N. N., und eine Versammlung für den folgenden Tag, Dienstag, den 23. Januar, einberufen. Starkblom nahm sich vor, einmal da hin zu gehen, um zu sehen, ob es denn einen Sinn habe, sich um diese Dinge anzunehmen, und die Art kennen zu lernen, wie die Leute die Sachen betrieben.

Starkblom war früher, als der Landgerichtsrat und seine Frau noch lebten, auf eine Zeitung abonnirt gewesen, und sein ordentliches Lorchen hatte die seltene Gewohnheit gehabt, die Nummern zu sammeln, vielleicht weil sie glaubte, diese Dinge könnten in späteren Jahren noch einmal interessant werden, vielleicht[63] aber auch nur, um die Papierballen später im Großen als Maculatur zu verkaufen. Doch war sie vorher gestorben, und Starkblom hatte die große Kiste bewahrt und auch mit ins weiße Haus gebracht. Jetzt ließ er sich von der Haushälterin vom Speicher herunterholen, soviel sie unter beide Arme bekommen konnte, und las darin am Montag Abend und im Laufe des Dienstags. Er wollte sich etwas vorbereiten auf die Wählerversammlung und glaubte, Zeitungslesen sei dazu das beste. Und er wollte einmal sehen, ob die Politiker noch dasselbe redeten, wie sie vor einigen Jahren schrieben oder wie. Es war eine üble Arbeit, dieses Lesen in den morsch und gelb und stinkend gewordenen Neuigkeiten und Streitigkeiten von anno dazumal, aber er biß sich durch. Freilich hatte er schon lange nicht mehr so oft bedenklich den Kopf geschüttelt wie jetzt.

Die Versammlung schien sich anfangs ganz so anzulassen, als ob sich in der politischen Welt inzwischen nichts verändert hätte. Da saßen ungefähr 800 mehr oder minder wohlgenährte Bürger und hörten mit Bedacht und ohne sich irgendwie activ einzumischen, ihre Redner an, die von Kornzoll sprachen und der Brodverteuerung, von Freihandel und freier[64] Concurrenz, vom Militarismus und allzugroßer Belastung der Volksschultern, von Zuckerexportprämien und unerhörter Begünstigung der Agrarier, und was des Erbaulichen mehr war. Den Leuten erschien Leben und Brodessen und einigermaßen gerechte Verteilung der Lasten und Politisieren und maßvolle Unzufriedenheit und bedächtiger Ehrgeiz als selbstverständliches Menschenrecht. Man müßte sie aufrütteln! dachte Starkblom. Man müßte ihnen mit Vernunft beizukommen suchen und mit tiefsinniger Betrachtung. Verzweiflung wäre ihnen einzuimpfen und Lust zum Tod. Aber warum? wandte er sich ein. Den Leuten ist ja so ganz außerordentlich wohl bei ihrem überlegungslosen Vegetieren. – Warum? Und warum nicht? Und wenn es aus Bosheit geschähe, ich will es thun! Was brauchen sie dumpfe Tiere sein, wenn ich es nicht bin? Was muß ich ihnen ihr Glück gönnen, wenn mir davor ekelt? Warum sollte ich sie lassen, wie sie sind, wenn Menschenwort sie umgestalten kann und in Aufruhr bringen, wie mir es beliebt? Fürwahr, wenn ich Macht über sie habe, will ich sie üben! Warum? wozu? Frage nicht länger. Weil ich will; zu meiner Freude!

[65]

Da wurde er in seiner Willenserwägung gestört durch eine knarrende Stimme, die von neuen Dingen sprach. Die Versammelten hörten aufmerksamer als bisher zu und beistimmend nickte ab und zu einer mit dem Kopfe. Auf einmal schien der Freisinn die Maske abzuwerfen, der Kampf gegen die Regierung schien nur ein vorläufiges Späßchen gewesen zu sein. Sie waren die Vertreter des zahlungsfähigen, aufblühenden, honnetten Bürgertums, sie hatten die Macht in den Händen und sie vor allem wollten sich wehren gegen begehrliche Arme, die von unten sich emporhoben und Unmögliches verlangten. Mit längst abgethanen Utopien köderten die Sozialdemokraten die ungebildete Masse der Arbeiter, die ihnen Glauben schenkte wie neuen Propheten. Diese Revolutionsprediger waren eine Gefahr geworden für das Vaterland und die Gebildeten aller Länder; sie vor allem waren zu bekämpfen. Der Freisinn allein bietet die wahre Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen; in ihm einzig blüht auch das Heil der Zukunft. Sagt euch los, ihr irre geführten Arbeiter, von den Lügen der Sozialdemokratie. Stürmischer Beifall lohnte den Redner, aber das Händeklatschen wurde[66] übertönt von höhnischem Gelächter, das von einer kleinen Gruppe ausging, die festgeschlossen in einer Ecke des Saals stand.

Ein anderer Redner, eine hagere, knochige Gestalt, lüftete die Maske noch mehr. Oder hatte er eine neue aufgesetzt? Der Freisinn war wieder fromm geworden. Erst redete er nur von der Natur und vom Kampf Aller gegen Alle und von Darwin. Auf einmal fiel auch das Wort Gott. Starkblom lauschte erstaunt und ekelahnend. Gott habe die Welt so geschaffen, daß alle gleiche Rechte haben, aber nicht gleiche Gaben und gleichen Charakter und gleiches Glück. Reiche und Arme, Fleißige und Faule, Kluge und Dumme, das sei ein Gegensatz, der nicht auszurotten. Und wieder hörte er erbittertes Lachen. Und das Erben? fragte eine schreiende Stimme. Erben nur Kluge? Ja, das sei gut und nötig für das Wohl des Staates, daß die Kinder von des Vaters Gaben zehrten. Die Familie sei die Grundlage des Staates und aller Gesittung.

Während dieser Rede hatte sich ein Arbeiter aus jener Ecke langsam einen Weg durch die Reihen gebahnt und war auf die Tribüne gegangen und hatte[67] dem Vorsitzenden etwas zugeflüstert. Der sah ihn zweifelhaft an und zuckte mit den Achseln. Der andere machte eine leichte selbstverständliche Handbewegung. Der Vorsitzende breitete fragend die Arme aus. Da schlug der Arbeiter ärgerlich leicht mit der Faust auf den Tisch, daß die Glocke, die darauf stand, leise zitternden Ton gab, und der Vorsitzende ergab sich zögernd darein. Nachdem nun der laute Beifall verklungen war, verkündete er, daß sich ein Gegner zum Worte gemeldet habe, und da freie Diskussion ihr Prinzip sei, müsse der das Wort erhalten. Er werde die Geduld der Versammlung hoffentlich nicht lange in Anspruch nehmen.

Nun trat der Arbeiter, ein Mann in den mittleren Jahren mit ernstem wenig sagendem Gesichtsausdruck vor. In der linken Hand hielt er seinen breiten Filzhut zusammengedrückt und mit dieser machte er während er sprach seine lebhaften aber gleichmäßigen Bewegungen. Er will scheint’s Holz hauen, flüsterte jemand in Starkbloms Nähe und lachte unbändig über seinen Witz. Der Mann sprach nicht gut und nicht schlecht und wunderlich mischte sich in seinen Worten nüchterne Trockenheit mit trivialen aufgefangenen[68] Redeblumen. Er hoffe nicht, so begann er, die Herren zu überzeugen, das sei nicht möglich, aber er wolle ihnen seine Meinung sagen, damit sie sähen, wie der Arbeiter denke.

Das Licht der Vernunft sei aufgegangen im Proletarierhirn und das sei das Verdienst der Sozialdemokratie. Diese allein habe ein Herz fürs Volk, sie allein habe ein festes Ziel und suche die ganze Menschheit zu beglücken. Was nützt uns Ihr Gott, wenn er uns in unserem Elend läßt? Wir haben uns abgewandt von ihm; behalten Sie ihn allein für sich. Solange der Kapitalismus dauert, hört die Lohnsklaverei nicht auf; darum muß die kapitalistische Gesellschaft mit Stumpf und Stil vernichtet werden. Die Menschen haben im wesentlichen gleiche materielle Bedürfnisse; oder können Sie mehr als einmal zu Mittag essen? Nein? Dann ist es auch lächerlich, daß einer gegen den andern streitet, wer das meiste Geld verwischt, dann muß die Produktion der Lebensmittel gemeinsam werden und das ist möglich. Der Kampf Aller gegen Alle muß aufhören, und das ist Ihre vielgerühmte Freiheit. Der Satte kann Freiheit brauchen, aber für die Freiheit zu hungern und geknechtet[69] zu werden, danken wir. Erst wollen wir satt werden und das Paradies der Menschheit erobern für alle, meine Herren, für alle und jeden; dann wird die schöne Freiheit von selber da sein. Sie haben einmal gekämpft für die Sache des Volkes, als Sie selbst unterdrückt waren, aber jetzt, wo Sie selber wohlgenährt sind und obenauf, jetzt haben Sie die Sache des Volkes verraten! Wir brauchen Sie aber auch gar nicht mehr. Wir sind zielbewußte Proletarier, wir stehen auf dem Boden des Klassenkampfes und den werden wir nicht verlassen, bis die Sonne des Ostens emporsteigt und die Klassengegensätze aus den Angeln hebt. Und wie zum Hohn rief er zum Schluß, indem er fest auf die Versammlung blickte und auf seine paar Kameraden im Winkel: Es lebe die internationale revolutionäre Sozialdemokratie, und jubelnd stimmten seine Genossen ein: hoch, hoch, hoch! und der Einklang schwebte über dem gemischten Toben der Versammlung.

Starkblom fühlte sich wie erhoben von etwas Nieerhörtem. Er stand auf und sah den Arbeitern nach, die den Hut auf dem Kopf, fest auftretend, wie zum Protest den Saal verließen. Er hörte wieder die[70] Stimme des Vorsitzenden, der von unerhörtem provocierendem Benehmen sprach, aber er hatte genug und wollte nicht länger bleiben. Er ging zu einer Seitenthüre hinaus. Herr Fabrikant Wangaus hat das Wort, hörte er gerade noch beim Schließen der Thüre. Also der wollte den Mann widerlegen. Er lächelte. Dessen Rede kannte er schon, der Hagere und der Fette, die beiden sprachen in gleicher Weise. Gott stellt jeden auf seinen Platz! Seid doch zufrieden und rüttelt nicht an der überlieferten Ordnung der Gesellschaft. Unsere ganze große Cultur ruht ja nur auf ihr. Er wollte doch rütteln, und die Arbeiter rüttelten auch. Freilich, diese Arbeiter, die standen nicht zusammen mit ihm. Die wollten noch leben, die wollten erst beginnen und das rechte freudige Leben schaffen. Das freudige Leben? Sie täuschten sich wohl. Das Leben war keine Freude. Diese Naiven, wenn sie alles das hätten, was er sich errungen und was ihm vom Glücke zugefallen, Reichtum, Unabhängigkeit, Bildung, Wissen – sie wären elender als jetzt. Oder sie wären stumpfsinnige Tiere wie diese Bürgersleute da drinnen. Oder gab es ein drittes? Gab es ein drittes? Gab es ein …?[71] Er konnte es nicht glauben. Ja wenn er glauben könnte! An die Zukunft glauben. An eine Bestimmung des Menschen, an einen Zweck, an einen Sinn … aber so, alles dumm und zwecklos und so, freudlos und lächerlich. Werdet wie die Kinder. Dann werdet ihr glauben und das Leben genießen, solange ihr lebt, und das Paradies der Menschheit erobern. Hatte er nicht so gesagt? Und warum genießen, nochmals und immer wieder? Ich kann nicht genießen, denn ich frage; und wenn ich nicht mehr frage und mich aufbäume und forsche und grüble und schließlich verzweifle: bin ich dann nicht ein Tier? – Und warum willst du kein Tier sein? Ein heiteres, herrliches Wesen, strotzend von Fülle und Kraft und Übermut und Verwegenheit, immer in neue Tiefen sich hinabstürzend und sich wieder emporschwingend zu himmlisch-reinen Ätherfernen und Glockentönen? Fragend genießen, genießend fragen; in der Erde wurzeln und hinaufragen mit dem Götterleib zur reinen Höhe, das wäre doch schön, schön? Ja das wäre schön! Also doch – arbeiten? Arbeiten für ein Ziel, hinaufstreben, aufklären, predigen, veredeln? Kämpfen? Mitstreiter suchen? Und finden? Genossen?[72] Wo? Sozial … demokraten? Ja? Ob das nicht am Ende die rechten Menschen für ihn waren? Sie schienen ein Ziel zu haben, ein festes, unverrückbares, sie wollten etwas; und war es nicht schön und groß, was sie wollten? Und war es nicht möglich? O, aber es mußte ja möglich sein, wenn das Leben einen Sinn haben sollte. Und es mußte doch einen Sinn haben, da er leben wollte und sich freuen wollte und hoffen wollte? Und wenn der Mensch etwas denken konnte und wollen konnte, dann war es doch auch erfüllbar? Freilich leugneten das die Philosophen; aber sollte es nicht eben darum –? Alles Vernünftige ist möglich; sonst ist das Vernünftige wahrhaftig sehr unvernünftig. Also – versuchen wir es zum mindesten. Her mit dir, du meine Vernunft, und du, mein Leben! Wir wollen euch noch einmal erproben. Hierhin stell dich, Vernunft, und hier gegenüber, du Leben. Wenn ihr nicht zusammenkommt, solange ich euch beobachte, dann werf’ ich euch beide ins Wasser; da könnt ihr zusammen ersaufen und krepieren. Und das Beobachterlein geht dann schon von selber mit ein ins Reich des Todes. Also: ich beginne. Ich will versuchen. Die Sozialdemokraten,[73] die muß ich kennen lernen. Am Ende werde ich selber einer. Sie werden mich brauchen können. So wäre dann der Kreis glücklich vollendet. Die Höhe hat die Tiefe wieder getroffen und verbindet sich mit ihr. Man wendet sich solange vom Leben ab, bis man ein neues beginnt. Vom Leben mit Ekel! War es denn nicht nur dieses Leben, unter diesen Umständen, in diesen Verhältnissen? Und all mein Denken, und all mein Ekel und meine Verzweiflung – nur eine Frucht meiner Umgebung und meiner Zeit? Neue Verhältnisse schaffen? Fort mit der allgemeinen, unklaren, dem Einzelnen feindlichen Philosophie? Lebe die Nationalökonomie und die Geschichte und die Naturwissenschaft? Sozialdemokrat werden? Einrichtungen bekämpfen und nicht mehr den Menschen an sich? Verhältnisse aufheben und nicht mehr sich selber? Wissen und nicht mehr ahnen? Glauben und nicht mehr verzweifeln? Freude und nicht mehr dumpfer Schmerz? Leben und nicht mehr Tod? Sozialdemokrat werden? Sozialdemokrat sein?

Hierher kehrte sein Denken immer wieder zurück und hier blieb sein Denken stehen. Damit legte er sich[74] ins Bett, damit schlief er ein und damit wachte er wieder auf.

Als er ein paar Tage später sich aufmachte, um einer Versammlung beizuwohnen, die der sozialdemokratische Leseklub »Menschheit« einberufen hatte, war sein ganzes Wesen nichts als Willfährigkeit und fruchtbarer Boden. Er hatte keinen neuen Entschluß gefaßt, er hatte über die Sache noch nicht tiefer nachgedacht, er hatte nichts studiert über soziale Zustände und materialistische Geschichtsauffassung, aber er war in ahnungsvoller Bereitschaft, sich in etwas Neues hineinzustürzen mit dem ganzen leidenschaftlichen Feuer, das sich in ihm die Zeit über angesammelt. Menschen zu finden, denen er sich anschließen, die er leiten konnte, Genossen haben im Streit und im Ziel!

Als er kurz nach 8 Uhr in das Lokal trat, war der große Saal noch ziemlich leer. Erst nach einer halben Stunde etwa kamen Gruppen von Arbeitern und setzten sich an die Tische. Als kurz nach 9 Uhr die Versammlung eröffnet wurde, war der Saal überfüllt, überall an den Wänden und zwischen den Tischen standen noch Menschen. Frauen waren ganz vereinzelt zu sehen. Starkblom saß an einem Tisch[75] etwa in der Mitte des Saales, wohl der einzige Fremde unter mehr als tausend Arbeitern. Nur kurz vor Eröffnung der Versammlung waren zwei feingekleidete junge Herren gekommen, offenbar Kaufleute mit ausgeprägt jüdischem Typus und waren prüfend und unsicher im Saale hin und her gegangen. Dann sagte der eine zum andern: Komm, Nathan, wir wollen gehen, es ist ja kein rechter Mensch da. Ein Arbeiter, der in der Nähe stand, drehte sich ruhig um, packte den einen links und den andern rechts hinten am Kragen, schob sie zur Thüre und warf sie mit einem tüchtigen Stoß hinaus. Starkblom, der die Szene beobachtet hatte, lachte herzlich und nickte dem jungen Mann, als er wieder vorbeikam, freundlich zu. Der setzte sich zu ihm an den Tisch, und unterhielt sich mit ihm über politische und naturwissenschaftliche Dinge. Es war seit langer, langer Zeit das erste Gespräch, das Starkblom mit innerem Anteil und mit Genuß führte.

Nun erhielt der Referent das Wort; er sollte über das Thema: »Wie stellen wir uns zu den Wahlen?« sprechen. Er war noch ein junger Mensch, wohl höchstens 26 Jahre alt, der vor Kurzem in[76] Berlin zuerst in der Öffentlichkeit aufgetreten war und von Stadt zu Stadt zog, um für seine Ansichten zu agitieren und die Arbeitermassen zu neuer Begeisterung, neuem Zielbewußtsein und neuer Energie aufzurütteln.

Genossen, die Reichstagswahlen stehen vor der Thür, so begann auch er gleich den unzähligen Aufrufen und Reden, die in diesen Tagen überall in Deutschland in die Massen geworfen wurden. Aber nur zum Spotte. Denn er fuhr gleich fort: Was gehen uns diese Wahlen an? Sollen wir den Volksverführern, die auf unsere Dummheit und auf die Aufregung dieser Zeit spekulieren, glauben, daß von dem Stimmzettel, den wir in die Urne werfen, von dem Abgeordneten, den wir nach Berlin schicken, unser Wohl und Wehe abhängt? Sollen wir glauben, daß wir Arbeiter einen Vertreter brauchen, um zu erreichen, was wir wollen? Nein, sage ich, falsch ist diese Ansicht, wir wollen uns selber helfen.

Falsch ist die Meinung, das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht, das man uns vor einigen Jahrzehnten gegeben hat, sei ein Zugeständnis der Regierung an die sogenannte Souveränität des Volkes. Im[77] Gegenteil, es war ein überaus schlaues Mittel, um durch alle Künste der Lüge und der Verführung, mit Hilfe der unverständigen Masse, die revolutionäre Bewegung der freien Geister zu lähmen und durch scheinbare Beteiligung an der politischen Macht ehrgeizige Demagogen, die sich als Vertreter des Volkes aufspielen, zu ködern und zu glatten parlamentarischen Regierungsspießgesellen zu machen.

Ist es nicht überaus bezeichnend, daß es üblich geworden ist, unter parlamentarischem Ton eine gewisse aalglatte, höfliche, heuchlerische, durch und durch verlogene Manier zu reden und aufzutreten zu verstehen? Ist es nicht bedenklich, daß in allen Parlamenten die feinen, schwächlichen, sogenannt aristokratischen Leute, die nichts ihr eigen nennen als ihre geläufige alle Unebenheiten und Derbheiten vermeidende Zunge, daß diese überall die Hauptrolle spielen? Ja, wenn es so wäre, wie man uns vorzuspiegeln sucht auch von Seiten solcher, die es ehrlich mit uns meinen, wenn das Parlament die Heimstätte des freien Wortes wäre, wenn hier, wo man ungestraft sagen darf, was man für gut hält, in allen Fragen, in denen der Religion, der Nationalität, der Rasse, des[78] sozialen Lebens, der Moral, in allen Fragen wie gesagt, wenn da Männer aufträten mit dem Mute ihrer Überzeugung, und das mit ihrer feurigen Beredsamkeit verträten, was wir denken oder wenigstens unklar fühlen, was wir aber nicht sagen dürfen, weil das sogenannte »Gesetz« es verbietet – dann hätten wir nichts gegen das Parlament, obwohl es auch dann noch lange nicht die Bedeutung hätte, die viele ihm jetzt schon zuschreiben. Aber wo in aller Welt ist es denn so? Fürchten sich denn nicht im Gegenteil unsere Vertreter vor dem Ordnungsruf des Präsidenten oder vor dem Spotte der andern Abgeordneten, ihrer geschätzten Kollegen, mehr als vor dem Strafrichter? Sprechen nicht auch diese Herren, wenn sie mitten unter uns stehen, wenn sie das Echo vernehmen, das aus unserer Masse zu ihnen emporschwillt, freier, mutiger, wahrhafter als dort? Oder – lügen sie da mit ihrem freien Ton ebenso sehr wie dort mit ihrem feinen? Dann wehe diesen Vertretern und Führern! Dann sind wir verraten und verkauft!

Der sogenannte konstitutionelle Staat bedeutet eine Einigung, ein Kompromiß der feudalen, mittelalterlichen[79] Regierung, des Junkertums, des Königtums von Gottes Gnaden auf der einen Seite mit der bürgerlichen Gesellschaft auf der andern. Wohl ist es wahr, solange dieser Kampf zwischen der bürgerlichen und der feudalen Welt ausgefochten wurde, war unser Platz auf der Seite der Bourgeoisie; damals waren wir noch zu schwach, um gegen beide zugleich anzukämpfen oder als lachende Dritte zuzusehen, wie sie mit einander stritten. Heute aber ist dieser Kampf überhaupt nur noch ein Scheinkampf, heute kämpft nicht mehr eine Lebensauffassung gegen eine andere, sondern nur ein Interesse gegen ein anderes. Nur wir, die wir stark sind in unserer Gemeinschaft, wir haben eine neue Lebensauffassung, wir müssen mehr und mehr unsere Gegner gegen uns vereinen, indem wir sie beide bekämpfen. Wir lassen ihnen ihren Staat und ihre kapitalistischen Einrichtungen und ihre Kirche und ihr Parlament – wir stehen außen, und wo wir noch nicht außen stehen, wo uns die Not zwingt, ihnen Frondienst zu leisten, bei der Arbeit um des Lohnes willen, da werden wir auch einmal aufhören, aufhören mit einem Mal, dann, wann es uns beliebt, wann der rechte Zeitpunkt gekommen ist.

[80]

Hier wurde der Redner, der sich in ein lebhaftes Feuer hineingeredet hatte und seine Worte mit starken Bewegungen seiner Arme und seines Kopfes begleitete, durch lebhaften Beifall unterbrochen. Starkblom horchte hoch auf. Da war er am richtigen Fleck. Aufhören mit der Arbeit, wann es beliebt. Das war seine Sache. Freilich – es war alles in anderm Zusammenhang. Nichts im Gegensatz zum Leben, alles vielmehr um des Lebens willen, für das vernünftige Leben. Das war es, was diesen Männern allen so felsenfest sicher stand: es gab eine Vernunft im Leben, es gab eine Zukunft, es gab Freude und Lebenszweck, man hatte ein Interesse an der Welt, auch an den Nachkommen, man handelte und brachte Opfer für eine Sache, an die man glaubte, für ein Ziel, auch wenn man es nicht erlebte. Das war es, das war es, wonach er sich gesehnt, so heiß gesehnt mit all seinem Sinnen – diese Männer hatten es, sie wußten wofür sie lebten, ja wofür sie starben. Und Starkblom bemühte sich, die Zweifel, die sich ungeordnet von allen Seiten her in ihm aufbäumen wollten, zu vernichten. Er wollte nicht mehr unglücklich sein, er wollte mitmachen und[81] er konnte es. Er ließ sich hinreißen – gleichviel wohin.

Der Redner hatte indessen einen Schluck Bier getrunken und fing nun wieder an.

Die Frage, was uns die Wahlen angehen, erweitert sich zu der Frage: Was geht uns die Politik an? Sind wir, wie es vorgegeben wird, eine politische Partei oder sind wir etwas anderes, etwas größeres? Was ist denn Politik? Staatskunst nennt man sie zu deutsch, und das ist richtig. Ohne Staat giebt es keine Diplomatie und kein Parlament und keine Politik. Was aber in Dreiteufelsnamen geht uns der Staat an, der Gehilfe der heutigen Gesellschaftsordnung? Falsch ist die Meinung, wir könnten uns durch ein Hinterthürchen einschleichen in den heutigen Staat und könnten auf diese Weise unser Ziel erreichen. Falsch ist die Ansicht, dieses Hinterthürchen, der Parlamentarismus, sei aus Versehen offen geblieben, oder aus Not; im Gegenteil, sperrangelweit haben es die heutigen Machthaber geöffnet, um uns zu ködern und uns zu sanften Regierungsschafen und Staatseseln zu erziehen, und groß ist die Gefahr, sie könnten ihr Ziel erreichen.

[82]

Genossen, wir sind keine politische Partei; wir wollen keine Gesetze machen, um die Ordnung herzustellen im Interessenkampf und um die Schwachen zu unterdrücken und die Reichen zu sichern; wir wollen nicht flicken an der heutigen Welt, um sie erträglicher zu machen, nein, ich sage es offen, wir wollen sie unerträglich machen, um sie rascher ihrem Tod entgegenzutreiben. Wir kennen keinen Gegensatz zwischen den einzelnen Nationen, wir sind heute alle eins als Proletarier im Kampf gegen das Kapital, und wollen, daß alle Menschen eins werden als Menschen, als Individuen im Kampf gegen feindliche Naturkräfte, im Streit für den Fortschritt und die Kultur! Nochmals und immer wieder: wir wollen uns nicht beteiligen, wir wollen abseits stehen, wir wollen die heutige Gesellschaft allein lassen, und wenn es an der Zeit ist, im Stiche lassen.

Um das zu erreichen, wenden wir uns vor allem aufklärend an den einzelnen Menschen. Wir sagen ihm: siehe, mein Bruder, es giebt für dich keine Pflicht gegen den Staat oder die sogenannte Gesamtheit, es giebt auch keine Pflicht gegen Gott, das alles hat man dir vorgelogen und anerzogen. Wie du zu[83] handeln und was du zu glauben hast, darüber hast du dich einzig mit deiner Vernunft auseinanderzusetzen. Und dafür ist gesorgt durch die gemeinsame Abstammung aller Menschen, daß sie trotz aller Ungleichheiten und Differenzen nur eine Vernunft haben, und daß ein normaler Geist das Größte zu erfassen wenigstens im Stande ist, was der Fortgeschrittenste, der Höchststehende, der Genialste, gefunden und entdeckt hat. Freilich, einen Wust von Aberglauben und Unsinn und Lüge müssen wir vorher wegräumen, das kapitalistische Denken ist auch dem Arbeiter nur allzu sehr aufgepfropft worden, aber glücklicher Weise verträgt es sich auf die Dauer nicht mit seinen Interessen und daher kommt es, daß die Masse der Arbeiter sehr wohl Verständnis hat für jede neue große Idee. Das gilt nicht für den Bourgeois – ihm kann man Vernunft predigen so lange man will, der Durchschnittsbourgeois kann uns nicht recht geben, selbst wenn er ehrlich ist. Soll ein Bourgeois sich überzeugen lassen von einer Idee, die einer neuen Weltanschauung angehört, dann muß er ein freier Mensch sein, der sich zu erheben versteht über die Interessen seiner eigenen Klasse. Und derer sind wenige.

[84]

Wer aber unter uns Arbeitern versteht es nicht, wenn ich ihm sage: du zahlst Steuern, du bist Soldat, du arbeitest in der Fabrik, nicht weil es dein Wille ist, sondern weil du mußt, weil du geknechtet bist, weil vorerst die dich knechten, noch die Stärkeren sind. Du kannst, auch du Einzelner kannst es, du kannst aufhören zu arbeiten, wenn du nur willst, aber du wirst verhungern, du kannst dich aufbäumen gegen Staatsgesetze und Moralgesetze, die dich nichts angehen, aber du wirst dann deiner Freiheit beraubt, wenn nicht getötet, und das von Rechtswegen – denn Recht ist Macht. Du kannst alles, was du thust, lassen, wenn es nicht dein Wille ist; aber unter der Knechtschaft, unter der du stehst, kannst du nicht thun, was du willst. Du kannst deinen heißen Bildungstrieb nicht befriedigen, du kannst dir kein menschenwürdiges Dasein schaffen, du kannst nicht aus der Welt schaffen, wovor dir ekelt, nicht die Schwindelgeschäfte, nicht die Börse, nicht die Prostitution, nicht lügnerisches Pfaffentum und Beamtentum, nicht verkehrte, geistverstümmelnde Jugenderziehung. Kurz, du kannst nicht leben wie du willst, du mußt leben, wie es die Verhältnisse wollen, die aufrecht[85] erhalten und verteidigt und idealisiert werden von der heutigen bürgerlichen Gesellschaft.

Unter diesen Umständen giebt es nur ein Mittel. Wir alle, die wir unter diesen Verhältnissen leiden, thun uns zusammen zu einer kämpfenden Gemeinschaft. Wir wollen nicht aufhören Vernunft zu lehren und die Massen aufzuklären, bis wir es erreicht haben, daß die Proletarier aller Länder sich vereinigt haben, um zu stürzen die kapitalistische Weltanschauung und einzurichten die sozialistische. Organisieren wir uns in den Gewerkschaften, werbet überall, in den Fabriksälen, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, in der Familie, in großen Versammlungen. Ist diese freie Organisation stark genug, dann kann jede einzelne Gruppe im Kampf um die vorläufige Besserung der Lebensbedingungen, um Verkürzung der Arbeitszeit, um Erhöhung des Lohns auf die Unterstützung aller andern rechnen und dem Kapital die Spitze bieten. Dann kann jede einzelne Gruppe schon vorläufig der bürgerlichen Gesellschaft kündigen, sei es auch nur um zu zeigen was kommen wird. Und diese unsre Kampforganisation muß schon ein Abbild sein der zukünftigen Gesellschaft. Da tritt jeder ein mit Gut[86] und Blut für den andern, für die gemeinsame Sache; einer für alle; alle für einen.

Darum rufe ich euch zu: Genossen, wählt nicht zum Reichstag! Wählt keinen Vertreter, der für euch kämpfen soll durch Parlamentsreden. Das Wort ist nicht da zum Kampf, sondern zur Belehrung, und für den Kampf giebt es keine Vertretung. Kämpft selbst, Proletarier, nicht mit der Zunge, kämpft mit eurer ganzen Person, kämpft da, wo der Kampf ausgefochten werden muß, auf dem Boden der Arbeit, und da könnt ihr nicht allein kämpfen, sondern nur alle zusammen festgeschlossen und einig. Vereinigt euch, Proletarier klärt auf, Genossen, werbet für unsere Idee, der Sieg wird unser sein!

Wieder ertönten starkes Händeklatschen und lebhafte Rufe der Zustimmung, durch die nur ein ganz vereinzeltes: »ganz unrichtig«; kaum dringen konnte. Die Diskussion wurde nun eröffnet und ein Arbeiter nach dem andern trat vor, um mehr oder weniger geläufig seine Zustimmung zu dem Gehörten auszusprechen und nunmehr Ergänzendes beizubringen, indem hauptsächlich gegen die einzelnen Volksvertreter schwere Vorwürfe erhoben wurden. Nachdem nun noch der Gegner,[87] der sich vorhin bemerkbar gemacht, zu Wort gekommen war, um außerordentlich fließend in ununterbrochener Rede zu sagen, wie ungerecht die Vorwürfe seien, wie großes Verdienst sich die Führer um die Sache erworben, wie vortrefflich die Parlamentswahlen und das Parlament selbst sich zur Agitation eigneten, wie auch manches auf diesem Wege für die Arbeiter herauszuschlagen sei, – erhielt der Referent noch einmal das Wort, um das Ergebnis der Diskussion zusammenzufassen.

Gesinnungsgenossen, so begann der Redner, für ganz unrichtig muß ich es halten, wenn der Herr Vorredner gemeint hat, die Bourgeoisie, d. h. ihre Vertretung, das Parlament, habe uns Konzessionen gemacht, weil wir eine in Betracht kommende Anzahl Abgeordnete ins Parlament gesandt hätten. Keineswegs, sage ich. Diese Konzessionen sind gemacht worden (übrigens kann man ja bisher kaum schon von solchen reden, aber ich gebe zu, es werden noch solche gemacht werden) weil die Bewegung in den Massen zu groß geworden ist und zu gefährlich, weil etwas gethan werden mußte, um den Anschein zu erregen, die herrschende Klasse sei sich der Ungerechtigkeit[88] unserer Zustände bewußt und wolle abhelfen. Wieviel stärker und energischer aber wäre heute schon die sozialistische Bewegung, wenn unsere Agitation nicht nur Wahlagitation gewesen wäre, wenn wir von vornherein uns im Gegensatz zum Parlament gestellt hätten. Ich behaupte, die Herren im Reichstag und am grünen Tisch hätten ein ganz anderes Gruseln verspürt und hätten viel entschiedenere Konzessionen gemacht, wenn niemals ein Sozialist ihren Sitzungssaal betreten hätte, wenn sie ganz allein unter sich geblieben wären und nur die drohenden Stimmen gehört hätten, die lauter und lauter von außen eingedrungen wären, von dem arbeitenden Volk, das nichts mit ihnen gemein haben will. Was aber kümmern sich die Herren jetzt darum, wenn ihnen ein glatter Redner zwei Stunden lang möglichst maßvoll dies oder jenes auseinandersetzt und immer Rücksicht darauf nimmt, daß er nicht zuviel von den Herren verlangt? Und wie ganz anders aufreizend hätten die Reichstagsverhandlungen gewirkt, wenn die Herren Bourgeois unter sich geblieben wären, wenn sie die Zeit vertrödelt hätten mit ihrem einsichtslosen und thörichten Geschwätz, mit ihrem unsinnigen tagelangen[89] Streit über Formalien und Lappalien, während draußen die Arbeiter sich fester und fester zusammenschließen zum Kampf ums Brod (was etwas anderes heißt als die Bekämpfung des Kornzolls), aber auch um ein hohes Ideal, für die Neugestaltung der Menschheit! Und wenn dann einmal eine festgeschlossene Kolonne Arbeiter auf der Galerie erschienen wäre, um dem Geflunker zuzuhören, wenn die Aufregung dann bis zum Siedepunkt gestiegen wäre, und das Volk anfinge, mitzureden und den Herren zu sagen, was von ihnen zu halten ist, dann könnte man sehen, wie die Herren Bourgeois sich vor Angst in alle Winkel verkröchen. Hat man etwas dem Ähnliches schon einmal erlebt, wenn einer unserer Abgeordneten gesprochen hat? O nein, man hat ihn höchstens aufmerksam angehört und hat dann die oratorische Leistung bewundert. Das muß anders werden. Auf diesem Wege verflacht unsre große Bewegung mehr und mehr. Hüten wir uns, daß nicht abgespannt wird; hüten wir uns, daß die Massen nicht anfangen zu ermatten und an unsere Sache nicht mehr zu glauben. Die Unzufriedenheit, die leidenschaftliche Begier, unsere Lage zu bessern und von Grundaus[90] zu ändern, darf nicht schwinden, muß gesteigert werden. Und Aufklärung und Belehrung muß sich damit fort und fort vereinen. Nehmen wir uns in Acht! Stehen wir zusammen Mann für Mann! Und vor allem: nicht wählen wollen wir, sondern protestieren gegen das Wählen!

Mitten unter dem Beifallssturm, der sich wieder erhob, während einige sich schon zum Weggehen bereiteten, indeß die große Masse ruhig sitzen blieb in der Erwartung, daß zum dritten Punkt der Tagesordnung »Verschiedenes« nach etwas von Interesse zur Sprache käme, stand Starkblom auf. Während der letzten halben Stunde hatte ihm der Gedanke: Du mußt reden, und immer wiederholt das eine Wort: reden, reden, reden keine Ruhe mehr gelassen. Es fröstelte ihn und dann stand ihm wieder der Schweiß auf der Stirn und es drückte ihn etwas ohne Unterlaß an der Kehle, und nun war er aufgestanden, er wußte selbst nicht, um das Fieber und die Beklemmung von sich zu schütteln oder zu reden.

Nun fragte der Vorsitzende seiner Gewohnheit nach: »Wünscht noch jemand das Wort? – Es scheint, daß –« Da streckte Starkblom, wie er es[91] vorher bei den andern, die sich gemeldet, gesehen hatte, gedankenlos den Arm in die Höhe und währenddem fuhr es ihm durch den Kopf: Nun mußt du reden, nun mußt du reden, was wirst du denn sagen, ich weiß ja gar nichts zu sagen, die Gedanken gehen mir ja aus, jetzt ist es Zeit, Zeit, Zeit, groß – bedeutend – mannhaft – alles, alles.

»Sie haben das Wort. Bitte rasch; Namen und Wohnung, kommen Sie vor,« sagte der Vorsitzende sofort.

Starkblom ging vor; er hatte sich gefaßt, aber er konnte nicht überlegen; meine Herren, meine Herren, ich, meine Herren, ich will, meine Herren, so wiederholte er in seinem Denken immerfort und fast mit den Lippen. Aber als er vorn stand, sagte er ganz ruhig zum Polizeilieutenant, der die Versammlung überwachte, gewendet: Karl Starkblom, Villa Weißes Haus, Privatmann.

»Sie haben das Wort,« wiederholte der Vorsitzende, während man in der Versammlung teils aufmerkte, teils durcheinander sprach; man war begierig, was der feine Herr zu sagen wußte.

Und nun begann Starkblom, und gleich von Anfang[92] an fließend und ruhig sprechend, nur zwischen den einzelnen Sätzen kurze Pausen machend, während deren er tief Athem holte, denn eine gewaltige Aufregung in ihm preßte sich gegen seine Brust.

Meine Herren, es ist richtig, was der erste Redner sagte. Damit sich einer aus den Reihen der Gebildeten erhebt über den Standpunkt seiner Umgebung, über das Denken und gewohnheitsmäßige Leben, das ihm von früh an eingelernt ist, dazu gehört ein freier und ungewöhnlicher Mensch. Und selbst dann, wenn einer frei ist und von bedeutender Geistesanlage, selbst dann wird sein Leben sich ganz anders gestalten, wird er zu ganz andern Resultaten kommen, als Sie wohl annehmen, wenn ihm irgend welche Zufälligkeiten den Streich spielen, ihn nie zusammenkommen zu lassen mit den Menschen, deren Denken von Anfang an eine ganz andere Richtung einschlagen muß als die seine. Ich bin nicht mehr jung, aber zum ersten Male in meinem Leben stehe ich heute unter Arbeitern. Ich bin kein Bourgeois in dem Sinne, wie Sie das Wort gebrauchen, wohl aber bin ich mir selbst nicht bewußt ausgegangen in all meinem Leben und in all meinem Denken und[93] Empfinden von der heutigen Gesellschaftsordnung, von der heutigen Sitte und Moral. Über alles, was man mir je angelernt hat, habe ich mich in langem Ringen und schwerem Kämpfen vollständig erhoben, nur das eine habe ich bis zu dieser Stunde nie gewußt: daß es Menschen giebt, die ganz anders empfinden und denken, wie wir da oben, und daß die Zukunft in den Händen dieser Menschen liegen kann. Ich habe die ganze Bildung meiner Zeit bewältigt; ich habe all das Leben und Treiben dieser Erde beobachtet; ich habe geschaut, wie die Menschen dies und das treiben und sich doch stoßen lassen von jeglichem Zufall, daß sie kein Ziel haben und keine Reflexion, und ich habe mich mit Ekel abgewandt von dem Menschengeschlechte, das nicht weiß, wofür es lebt und – noch schlimmer – es gar nicht wissen will. Und ich war nahe daran, selbst wegzugehen vom Menschendasein, weil ich trotz allem Grübeln und verzweiflungsvollen Forschen nicht finden konnte, wofür ich lebe. Ich habe den Mut gehabt, in meinem Denken wenigstens die Konsequenz zu ziehen aus meinem Leben, und das ist die Konsequenz eines jeden aus meinem Gesellschaftskreise. Diese Konsequenz heißt: Selbstmord.

[94]

Heute aber kann ich sagen: ja, jawohl, die bürgerliche Welt ist dem Tode verfallen, aber aus ihren Trümmern, das hoffe ich mit Ihnen und daran will ich mich anklammern, wird auferstehen die sozialistische Gesellschaft, eine neue Welt.

Hier löste sich die Spannung, mit der die große Versammlung bisher in vollkommener Ruhe zugehört hatte, in ein vielstimmiges und gleichzeitiges Bravo auf. Starkblom fuhr sich leicht über die Stirn und holte tief Athem; dann sprach er weiter, nunmehr lebhafter und freudiger, wie getragen von der Sympathie der Versammlung.

Ja, meine Herren, heute ist es mir endgiltig klar geworden, und darauf baue ich: nicht der Mensch als solcher oder gar die Welt an sich ist es, vor der mir ekelt in tiefster Seele, es sind nur die Menschen, unter denen ich aufgewachsen bin, mit denen ich mein ganzes Leben verbracht habe; es sind nur die Zustände, die heute herrschen und die sich von Geschlecht zu Geschlecht überliefern, weil jedes Kind von neuem gedankenlos hereingezogen wird in den alten Kreis verrotteter Gewohnheit. Ein Kind aber kenne ich, das noch nicht zugrunde gerichtet worden ist von[95] diesen Einrichtungen, ein Feld, das noch nicht gejätet worden ist mit dem Pfluge einer alten Moral und das bereit liegt zu neuem Samen; eine Wolke, die sich noch nicht ausgeschüttet hat, sondern voll ist von neuem fruchtbarem Regen; ein Rad, dessen Felgen noch nicht zerbrochen sind, sondern das erst beginnen will zu rollen, wer weiß wohin? … Ich meine die Arbeiterklasse. Die Bildung, mit denen man unser Hirn vollgepfropft hat, haben Sie nicht genossen, und dadurch haben Sie Platz gehabt für eine neue Idee, dadurch sind Sie berufen, der alten morschen Gesellschaft den Todesstoß zu geben und sie abzulösen, und mit Vernunft da zu beginnen, wo die Unvernunft das Ende ihrer Entwickelung erreicht hat. Unsere thörichte bürgerliche Gesellschaft glaubte dem Volk einen gewissen Grad von Wissen und Aufklärung zukommen lassen zu dürfen, und die Geister, die sie so beschworen, die werden sie nicht mehr los. Die heutige Gesellschaft hätte aufrecht erhalten werden können, wenn die Arbeiter systematisch zu Haustieren, noch schlimmer, zu Fabriktieren gemacht worden wären; aber da man in sentimentaler Duselei mit einer Reminiszenz an die Menschenrechte der französischen[96] Revolution davor zurückschreckte und ihnen mit Halbheiten den Geist stopfen wollte, siehe da wurde der Mensch in ihnen wach, und schneller, als jene es geahnt, erwächst die neue große Revolution, die viel, viel gewaltiger werden wird als die sogenannte große Revolution der Bourgeois. Einen neuen Glauben haben die Arbeiter, einen Glauben an sich und an die Zukunft der Menschheit. Die bürgerliche Gesellschaft aber hat keinen Glauben, keinen neuen und keinen alten; sie verzweifelt an sich selbst, wo sie nicht gedankenlos dahinvegetirt und selbst zum Tier geworden ist. Die soziale Revolution wird siegen!

Da brach gewaltiger Beifall los. Starkblom fühlte, dies sei für die Empfindung seiner Zuhörer das Ende seiner Rede, und obwohl er noch lange weiter hätte sprechen können, fügte er nur noch hinzu, laut durch das Getöse rufend:

Zu Ihnen flüchtet sich von den Gebildeten, wer an der Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft verzweifelt und doch eine starke Ahnung hat, damit sei die Menschheit noch nicht an ihrem Ziele. Nehmen Sie mich auf in Ihren Reihen. Unser Wille ist[97] derselbe: die vernünftige Gestaltung des menschlichen Lebens!

Starkblom wollte rasch von der Tribüne heruntergehen, um so schnell als möglich nach Hause zu kommen, fort aus diesem Saale in die freie Luft. Wie hätte er jetzt noch ein einziges Wort sprechen können. Aber der Vorsitzende, neben dem er stand, tippte ihn leicht auf die Schulter und sagte: »Herzlichen Dank, Herr Starkblom. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie etwas warten wollten; die Versammlung ist ja jetzt doch wohl zu Ende. Hätten Sie die Güte?«

Starkblom drückte ihm die Hand. »Gewiß, sehr gern.«

Während dieses kurzen Gesprächs hatte sich unten im Saale schon alles erhoben und lief durcheinander dem Ausgang zu. Nur der Form zuliebe fragte der Vorsitzende: Wünscht noch jemand das Wort? und fügte dann gleich hinzu: Dann schließe ich die Versammlung. Sofort begannen einige Stimmen mit dem kräftigen Gesang der Arbeitermarseillaise: »Wohlauf, wer Recht und Wahrheit achtet,« und immer zahlreicher fielen die Anwesenden ein in den Chor, während alles[98] langsam zum Ausgang drängte. Nur einige wenige strebten gegen die Masse nach vorn, und schließlich standen, während der Saal schon fast leer war, sieben Männer um Starkblom, ihm abwechselnd die Hand reichend und durcheinander auf ihn einredend. Er nickte nur nach allen Seiten und sagte: Jaja – jawohl – ganz richtig – aber bitte sehr. – Er hörte nicht, was die andern sagten und wußte nicht, was er selbst sprach. So hätte er wohl noch Stunden lang dastehen können und seine erregte Freude auf- und abwogen lassen. Aber der Mann, der den Vorsitz geführt hatte, rüttelte ihn auf, indem er den Vorschlag machte, sich an einen Tisch zu setzen und noch ein Glas Bier zu trinken. Es geschah so, und bald war Starkblom in ein Gespräch verwickelt mit seinen Nachbarn, erst über ziemlich gleichgiltige Gegenstände, über die Arbeitsverhältnisse hier am Ort und über das bisherige Leben Starkbloms nach außen. Bald aber wurden sie hereingezogen in das Gespräch, das indessen auf der andern Seite des Tisches geführt wurde. Man sprach über die Zustände und Spaltungen in der deutschen sozialdemokratischen Partei. Starkblom erfuhr da, daß durchaus nicht überall die prinzipienfeste,[99] revolutionäre Richtung einen so großen Anhang habe wie hier; an andern Orten begnügten sich die Massen vielfach mit großen Schlagworten und überließen im übrigen alles ihren vergötterten Führern.

»Ja aber diese Führer«, fragte Starkblom erstaunt, »können denn diese wirklich glauben, es scheinen doch überaus vernünftige und begeisterte Leute zu sein, daß durch althergebrachtes Politisieren und Parlamentieren das große Ziel erreicht werden könne? Das ist doch ganz undenkbar.«

»Das will ich Ihnen erklären«, antwortete ihm Mathias Buvolski, der vorhin das Referat über die Wahlen gehalten hatte. »Die Herren sind überschlau, das ist ihr Verderben, hoffentlich nicht das unsere. Sie glauben gar nicht recht an die Kraft der Bewegung und vor allem nicht an die Macht der Aufklärung. Sie halten große Reden von der wirtschaftlichen Entwicklung, und daß die sozialistische Gesellschaft sich ganz von selber mache; man brauche gar nicht eingreifen und sich nicht in Gefahr bringen. Aber sie wollen die Macht nicht aus den Händen geben, sie erwarten irgend etwas ganz besonderes, irgend einen großen Zufall, am liebsten eine Revolution von oben,[100] einen Verfassungsbruch der Regierung und da wollen sie zuwarten. Und damit die Bewegung inzwischen nicht stillsteht oder gar ins Nichts zerrinnt, wenden sie künstliche Mittel an, um das Interesse wach zu erhalten. Da wird also ein großer Entrüstungssturm in ganz Deutschland gegen die Kornzölle erregt, nur damit überall Massenversammlungen stattfinden. –«

»Was?« unterbrach ihn Starkblom. »Genau dasselbe hörte ich ja vor ein paar Tagen bei den Freisinnigen?«

»Allerdings, aber das thut nichts; bei uns zieht’s mehr. Und aus demselben Grunde muß gewählt werden und müssen die Abgeordneten Reden über Reden halten und Anträge über Anträge stellen. Alle paar Wochen taucht dann wieder ein neues Projekt auf, irgend ein Detailvorschlag, der der Masse imponiert, Verstaatlichung der Apotheken, der Ärzte, des Getreidehandels … Die Bewegung darf nicht einschlafen, das ist alles. Aber gethan wird nichts, es giebt keine ernstliche Aufklärung, nicht im Wort und nicht in der Schrift, die Provinzzeitungen sind miserabel, die Brochüren zu teuer, die Führer sitzen im Reichstag und haben keine Zeit zur Belehrung des[101] Volks … Sie machen von sich reden und halten sich obenauf, um, wenn die rechte Zeit von ungefähr kommt, die Macht in der Hand zu haben. Drum sind sie auch keineswegs unter sich einig, immerfort Zänkereien und Eifersucht.«

»Was reden wir da?« sagte Starkblom. »Das sind ja ganz gewöhnliche Menschen, nicht unbegabt, aber gewöhnlich. Aber was gehn uns Personen an? Im Sozialismus steckt Tieferes, als seine heutigen Verkünder wohl ahnen. Was gehen uns diese Kleinlichkeiten an, wo es sich um die Zukunft der Menschheit handelt?«

Die andern hörten aufmerksam zu, Buvolski aber sagte: »Sie haben heute Abend schön und herzlich und feierlich gesprochen. Ich habe noch niemanden getroffen, glaube ich, der so sein Alles daran setzt, um das was er denkt, auch zur Wirklichkeit zu machen. Nicht wahr, Sie glauben felsenfest an die Macht der Vernunft?«

Starkblom fühlte wie er blaß wurde. Es lief ihm kalt über den Rücken. Wenn, wenn, wenn … Nein. Er schüttelte sich. Nichts mehr von den alten Dingen. Er wollte nicht mehr. Es war entschieden. Ja, er glaubte.

[102]

Erst nach einer Pause, während der alle gespannt nach ihm blickten, antwortete er langsam:

»Viel gefragt. Ich glaube, daß ich nicht einzig bin.«

»Offen gestanden, ich verstehe nicht recht. Wie meinen Sie das?«

»Ich bin ein Teil der Welt, ein winziger Teil; ein einsamer, versprengter Teil, es ist wahr. Daß ich vernünftig bin, das weiß ich sicher; und was ich glaube, das ist das, daß ich mich nicht soweit über die andere Welt erhoben habe, daß sie mir nicht mehr nachfolgen kann. Man kann viel, wenn man will; und der Wille kann erweckt werden. Der Geist des Menschen ist so eingerichtet, daß, wenn einer allen Schmerz und alle Verzweiflung eines ganzen Lebens dazu gebraucht hat, um eines zu erreichen und daran festzuhalten, daß er allen anderen diese Not ersparen kann, indem er ihnen das fertige Ergebnis seines Lebens begreiflich macht. In diesem Sinne ist jeder bedeutende Mensch ein Heiland, der die Schmerzen der ganzen Welt auf sich nimmt und sich kreuzigen läßt, um die Welt zu erlösen. – Wo wohnen Sie? Bitte wollen Sie mir Ihre Adresse angeben?«

Alle schauten ihn verwundert an. Er aber stand auf.

[103]

»Ich kann nicht länger bleiben. Aber wir sind nicht das letzte Mal zusammen.«

Buvolski sagte ihm, wo er wohne, Starkblom bat die Männer, ihn doch bald zu besuchen, wenn sie Zeit hätten, und nach herzlichem Abschied ging er.

Er eilte nach Hause. So lange er in den Straßen der Stadt war, ging er nur sehr rasch und blies die Luft von sich und lächelte vor sich hin und schwang seinen Stock und schlug ab und zu auf die Steinplatten, daß die Funken heraussprangen. Sowie er aber auf der Landstraße war, auf der fester, aber noch weißer Schnee lag, und seine Blicke über die Felder schweiften, deren unermeßliche Schneedecke im Mondschein strahlte und glitzerte, fing er an zu rennen, als wollte er mit seinem Schatten um die Wette laufen. Dabei schrie er laut: Juhu, juhu! Eine unbeschreibliche, freudige Aufregung hatte sich seiner bemächtigt. Jetzt dachte er nicht, jetzt grübelte er nicht der Zukunft entgegen, er hatte etwas in der Gegenwart, worüber er sich freuen konnte, und gedankenlos wie ein Kind überließ er sich dem Genusse.

[104]

Er war schon in der Nähe seiner Villa, als ihm ein hochgewachsenes Mädchen begegnete. Schon von weitem rief sie ihm zu:

»Na, Ihr seid wohl eben entsprungen?«

Starkblom, der sie sofort verstand, lachte und ging weiter, bis er vor ihr stand und hielt dann an. Sie dachte an das große Irrenhaus drinn in der Stadt, in dem Unheilbare aus dem ganzen Lande eingesperrt waren.

»Nun, das gerade nicht«, antwortete er lustig. »Vielleicht bringe ich’s aber noch so weit. War’s schön heute Abend?«

Er schaute vergnügt dem Mädchen, das sehr hübsch war, ins Gesicht.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie etwas verlegen und rückte das Tuch, das sie auf dem Kopfe trug, zurecht.

»Na, ich denke, ein Mädel ist doch nur aus einem Grund so spät noch hier außen. Ist er lieb? Meint er’s ehrlich?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und errötete ein wenig. »Ich hab’ ihn eben gern.«

[105]

»Hast recht, Kind. Das ist genug und erklärt alles. Was ist er denn?«

»Fabrikarbeiter.«

»So? – Ist er auch Sozialdemokrat?«

»Ich sag Ihnen doch, daß er Fabrikarbeiter ist.«

»Jaso, hast recht.«

»Seit wann sind wir denn per Du?«

»Seit heute, liebes Mädel und nur für heute. Nichts für ungut, aber ich bin so froh und erhoben, wie nie zuvor.«

»Ich merk’s und es freut mich. Ich hab die lustigen Leute gar gern.«

»Ich war’s schon lange nicht mehr.«

»So?«

»Jaja, schon lange nicht mehr.«

»Jaja, Sie sehen auch recht ernst und traurig aus. Bleibt nur lustig, ’s ist besser.«

»Ich will’s, wenn’s geht. Komm, gieb mir ’nen Kuß.«

»Nein. Oder – ja, weil’s Sie sind.«

Sie legte die Hände auf seine Schultern und er küßte sie rasch. Dann gab sie ihm noch einige freiwillig drein, schüttelte seine Hand und wandte sich zum Gehen.

[106]

»Adieu, fröhlicher Herr. Denken Sie nichts schlimmes von mir.«

»Lebwohl, mein schönes Kind, und grüße mir deinen Schatz.«

Dann ging auch er und schnalzte noch ein paar Mal vor Vergnügen mit der Zunge. Dann schritt er den Berg hinauf, jetzt langsamer, er blieb ein paar Mal stehen und schaute sich um und ließ seinen Blick schweifen über Feld und Wald und Fluß, das alles weiß vor ihm lag, und über die Stadt hin. Er streckte den Arm aus und bewegte die Hand auf und ab, wie zum Segen oder zum Dank. Auch auf die Landstraße blickte er lächelnd und gewahrte schon ziemlich weit entfernt einen dunklen Punkt. Noch einmal brach die Spannung in seiner Brust durch und laut rief er wieder sein Juh! hinunter. Und leise vernahm er die Antwort des Mädchens: Hoijohehuhu! Er nickte und lächelte vor sich hin, dann schloß er die Thür auf und ging hinauf in sein Schlafzimmer und machte Licht. Da wurde er gleich ernster, er ging noch eine Zeit lang hin und her und brummte vor sich hin: Jaja, hm, hm, jaja. Dann kleidete er sich aus, löschte das Licht und legte[107] sich ins Bett. Nach ein paar Minuten war er eingeschlafen.

* * *

Von diesem Tage an war Karl Starkblom ein leidenschaftlicher Anhänger und Verkünder des Sozialismus. Er gewann bald Einfluß auf die Massen, er schrieb zündende Brochüren, reiste im Lande herum und hielt überall, in großen öffentlichen Versammlungen, in kleinen Gesellschaften und in Fachvereinen Vorträge. Er gehörte zu den leidenschaftlichsten Kämpfern gegen die bürgerliche Gesellschaft – wenn er auch nicht darauf verzichten wollte, die vorgeschrittensten Elemente derselben durch die Mittel vernünftiger Ueberzeugung für seine Sache zu gewinnen. So schien er ganz aufgegangen in dieser Thätigkeit; er schien zu wissen, wofür er lebte oder vielmehr gar keine Zeit mehr zum Grübeln zu haben.

Eines Abends aber – er stand schon seit Monaten mitten in der Bewegung – ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Freilich, wenn er später daran dachte, mußte er sich sagen, es kam nicht so ganz plötzlich, es hatte sich zu verschiedenen Malen angezeigt, immer[108] war es ein jäher Einfall, der plötzliche Dolchstich eines Zweifels gewann, aber es war stets sofort wieder gegangen, und er hatte weiter keine Acht darauf. Schon am ersten Abend, in jener Versammlung war eine Bangigkeit an ihm heruntergelaufen gleich einem körperlichen Übelsein, und dann Abends vor dem Einschlafen, und dann später wieder und nochmals und ein anderes Mal … aber ohne Zusammenhang … ein plötzliches Zurückschaudern … ein dummer Gedanke, der sich wieder vergaß …

Diesmal aber überwältigte er ihn. Er hielt vor einer außerordentlich stark besuchten Versammlung in einer großen Stadt des westlichen Deutschland einen Vortrag über das Thema: Warum muß der Sozialismus siegen?

Im Saal war eine fürchterliche Hitze und eine entsetzlich schlechte Luft; draußen tobte und brüllte der Sturm. Er hatte im ersten Teil seiner Rede den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gesellschaft in scharfen Zügen vorgeführt. Seit kurzer Zeit unterließ er es, sich genau auf seine Reden vorzubereiten; er wollte sich tragen lassen vom Strom der Gedanken und auch der Worte. So kam es, daß er[109] diesmal in einen Gedankengang hineinkam, der ihm selbst neu war. Das störte ihn nicht, er redete geläufig weiter, aber er paßte selbst auf und mußte allerlei Nebengedanken unterdrücken. Er sprach davon, daß ein großer Unterschied sei, zwischen dem Kampf für die sozialistische Gesellschaft als Ideal und diesem Gesellschaftszustand, wenn er erst einmal erreicht und zur Gewohnheit geworden sei. Das sollte den Uebergang bilden zum zweiten Teil, der Schilderung der sozialistischen Gesellschaft in großen Zügen. Aber er kam über den Gedanken nicht weg. Von früherer Gelegenheit her wußte er, was da am besten zu thun sei. Er sprach den Satz, an dem er gerade hielt, zu Ende und dann machte er eine Pause. Dann mußte ihm der neue Gedankengang von selbst kommen. Aber diesmal geschah es anders. Sowie er ein paar Sekunden gewartet hatte, kam ihm ein innerliches Lachen und Aufbäumen und ein fürchterlicher Nebengedanke, den er nicht abschütteln konnte. »Mann gieb’s auf! Es ist alles falsch! Hat alles keinen Sinn!« Das drehte sich ihm immer wirbelnd im Kopfe. »Hat alles keinen Sinn! Ist ja ganz falsch! Gieb’s auf, Mann gieb’s auf!« Er stemmte sich gegen den Tisch. Es mußte[110] ihm gelingen. »Meine Herren«, fing er gewaltsam an. »Indem ich zum zweiten Teil meiner Auseinandersetzung schreite.« – Er verstummte. »Hör’ doch auf – du lügst ja – denke doch erst über das andre nach – es hat ja keinen Sinn – die ganze Geschichte – was gehen dich denn andre Menschen an?« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. Dann that er einen unterdrückten Schrei, fuhr mit der Hand nach dem Kopf und sank um. Die Versammlung ging in großer Aufregung auseinander. Starkblom aber erwachte bald wieder aus seiner Ohnmacht, fühlte sich zum Verzweifeln elend und fuhr am nächsten Morgen nach seinem Weißen Hause zurück. Dort blieb er ganz einsam und ließ lange Zeit nichts mehr von sich hören. Ein paar Monate darauf aber erschien eine kleine Flugschrift, die in litterarischen und politischen Kreisen ziemliches Aufsehen machte. Sie hieß: »Sendschreiben Karl Starkbloms an das Menschengeschlecht. Zugleich ein Absagebrief an den Sozialismus.«

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