Sechster Abschnitt.

Utopien
von
Karl Starkblom.

Meiner lieben Frau und dem kommenden Kinde gewidmet.

Ich erkläre es feierlich und wie ich hoffe vor Zeugen:

Ich habe mich nicht erschossen noch sonst irgendwie ums Leben gebracht. Und ich werde mich nicht erschießen oder sonst mir den Tod bereiten, solange ich noch Lebenskraft in mir fühle, Lust zu wirken und zu genießen.

Eine Frau ist zu mir getreten früh morgens im Sonnenschein. Sie hat im weiten Kreis den Arm bewegt und hat mir die tauglitzernde Welt erschlossen.[232] Sie hat mir gesagt, es sei etwas herrlich schönes ums Leben und im Nu habe ich dasselbe empfunden. Ich liebe das Leben und ich liebe dich, Marguérite. Und sie wird mir ein Kind gebären und wir werden beisammen bleiben. Wir werden gewiß noch lange nicht sterben.

Meint ihr, ich sei auf eure Weide heimgekehrt, ihr grasenden Bürgerseelen? Frohlockt ihr über das verirrte Schaf, das spät in der Nacht doch noch den Weg zum Stalle gefunden und nun mit freudigem Meckern zu seiner Krippe springt?

Fürwahr, ich will eure Schafställe und Heuschober euch anzünden, daß die Funken sprühen und ein loderndes Feuerwerk gen Himmel prasselt. Ihr Erbärmlichen, was wagt ihr zu leben neben uns wenigen, die das Leben in Schmerzen begriffen haben? Euer Dahinkriechen, wäre das der vielberufene aufrechte Gang? Eure kleinen Freudlein, wäre das der Jubelbraus des Daseins? Glaubt ihr, eure Zahnschmerzen (denn das sind doch die heftigsten eurer Kümmernisse), die machten euch das Leben verständlich? Ihr saftlosen Lauwarmen, ihr wißt ja nichts von der Kälte der Todesnähe und von der siedenden Glut des neu[233] schießenden Lebens. Geht mir weg! Geht weit weg. Bleibt hinten, denn ich will vorwärts blicken und heiter jauchzen und lachen.

Ich würde mich dennoch erschießen und qualvoll verzerrten Gesichtes dies schöne, ja dies schöne Leben lassen. Es würde mich nicht dulden auf Erden. Nicht eine Stunde mehr. Ja auch jetzt ersticke ich schier und werde zerrissen von dieser entsetzlichen Qual und Schmach. Ich würde mich töten, wenn ich meinen Glauben nicht hätte.

Euch also will ich fragen und mit meinen Blicken bohrend anstieren, ihr Skeptiker und ihr Unmoralischen, die ihr mit mir geht auf einsamer Höhe so manchen Weg und so manche Verneinung: Wie könnt ihr leben? Wie ertragt ihr es, trotz eurer Fähigkeit schön zu genießen, nicht längst von eigener Hand gestorben zu sein? Und ich frage euch, so ungern und zögernd ich euren Namen in den Mund nehme: ich frage euch, ihr Christen, wie ertragt ihr es, da zu sein in Freude und Wohlleben? Ihr einen habt gar keinen Glauben, und ihr andern habt keinen irdischen Glauben – ich frage euch und ich beschwöre euch: antwortet mir und sei es nur stammelnd: ihr wißt, worauf[234] euer Leben und eure Behaglichkeit ruht, euch ist bekannt, daß Millionen armselig vegetierender Sklaven für euch arbeiten und euch ermöglichen, so da zu sein wie ihr da seid – wie könnt ihr das Leben ertragen? Ihr Skeptiker, ihr seid keine Löwen, lüget nicht, ihr seid nicht Unmensch noch Übermensch, ihr glaubt nicht, daß das zu ändern sei, ihr meint ehrlich zu wissen, daß das Elend und die Erbärmlichkeit unausrottbar ist und ihr schämt euch nicht, daß ihr lebt? Ihr schämt euch nicht eurer Freuden und des hohen Genusses eurer Geistesschmerzen? Ihr ertragt es zu leben? Das frage ich wieder und immer. Und ihr – ihr – nun, sei es denn nochmals gesagt, ihr Christen, ihr tragt blendend weiße glänzende Wäsche an eurem Leib, die ihr nicht verfertigt und ihr nicht gewaschen, ihr klimpert in der Tasche mit güldnen Dukaten, ich sage nicht, die ihr nicht verdient, ich sage nur, die andern mangeln, ihr seht Not und Elend in millionenfacher Masse aufgetürmt, ihr seht Schmutz und Unrat, durch den ihr nicht waten müßt, ihr seht Schweiß auf Stirnen, den ihr nicht schwitzet und ihr nicht einmal abwischen könnt, und euch duldet es so zu leben wie ihr lebet? Wahrlich wäre ich Christ[235] und glaubte an das Himmelreich und glaubte, daß Not und Kummer unabwendbar von Gott gefügt sei in diesem Jammerthal – ich wollte mein redlich gewogenes Teil Not und über und über gehäuften Kummer, ich wollte Sklave sein und mich abrackern und stöhnen und hungern und wäre ich unter den Ärmsten, so wollte ich immer noch tiefer, tiefer hinab zu den Elendesten und Jammervollsten. Ihr aber seid Herren und ihr könnt es? Ihr eßt Braten und Kuchen und ihr erstickt nicht? Ihr seid sauber und andrer Schmutz frißt sich nicht tief in euer Fleisch? Ihr habt einen Pfennig mehr als der letzte Knecht und er brennt euch die Seele nicht ab? Ihr lebt? ihr genießt? und andre sterben vor Not? Ihr atmet leicht und tief in eurer Sommerfrische und andre quält die lungenfressende Sucht in dumpfem Kellergelaß? Das vermögt ihr? Ihr ertragt es zu leben? Jetzt, Sprache, das Wort! Das rechte Wort. Ich finde es nicht. Ich ringe und suche – o ihr Schufte! Ihr Jammerseelen! Ihr – ihr, ihr Lumpe! Ihr – ihr Gesindel!

Und damit speie ich euch weit von mir, ihr Namenlosen; seit urlanger Zeit zum ersten Mal habe ich nicht über euch weggesehen; jetzt aber seid ihr mir[236] wieder tot. Tot? Nein. Ich atme das Wort schnell wieder in mich zurück. Der Tod ist zu gut, um euch verdauen zu können. Das Auge sieht euch nicht und kein Ohr vermag euch zu hören; Menschenzunge und Gaumen weigert sich euch zu schmecken. Unfaßbar seid ihr und nicht zu begreifen; aber ein Gestank herrscht überall; nicht auf der Erde, nicht im Wasser noch in der Luft; im Feuer lebt ihr so wenig wie Feuer in euch. Ein namenloser, wesenloser Gestank – das seid ihr mir.

In recht schlechte Gesellschaft habe ich euch gebracht, meine geliebten Skeptiker und Unmoralischen. Aber solltet ihr es nicht etwas um sie verdienen? Gewiß, auch ihr seid mir ein wenig anrüchig. Denn ihr lebet und thätet besser zu sterben. Und das sage ich euch in Liebe und aus Erbarmen. Nervöse Schwächlinge seid ihr und wollt doch auf eure Schultern laden, was Tyrannen und Riesen aus eherner Vorzeit und wilder Renaissance nicht vermocht hätten. Ihr seid nicht blind, aber ihr könnt es nicht sehen. Ihr seid nicht taub, aber ihr könnt nicht davon hören. Von der unteren Schichte nämlich. Ihr glaubt sie ewig und unabweisbar – aber man soll euch in Ruhe lassen. Wie reimt sich das? Sie pocht an[237] eure Thore und läßt sich nicht abweisen. Und wenn die untere Welt, wie ihr sagt, nicht gehoben werden könnte, dann würde doch die obere zerstört werden müssen. Ihr würdet wahnsinnig werden, nicht Einzelne, nein, ihr Alle würdet dem Irrsinn verfallen, bis ihr doch endlich euch zum Sterben entschlösset, verrückt machen würde euch das ewige immer verstärkte Klopfen und Scharren und Schreien und Tosen. Meint ihr, das könnte je wieder enden? Der Glaube wäre kindisch. Wer nicht mehr an den Vater im Himmel und ans ewige Leben und die gerechte Vergeltung glaubt und doch elend ist wie er nicht sein möchte, der hört nicht auf mehr zu rebellieren und müßte die Erde darüber in Trümmer fahren. Wer nicht an das Jenseits glaubt und nicht im Fette sitzt – und die werden bald alle nicht mehr daran glauben – der glaubt an die Erde und an die lebendige Freude und an die werdende Schönheit. Das bleibt und kommt immer wieder und klopft und zertrümmert – bis die Stätte zurecht gehauen ist, wo alle im Geiste zu leben vermögen – weil nämlich der Körper und sein Leben und seine Pflege selbstverständlich geworden ist.

[238]

Und jetzt, meine skeptischen Freunde, jetzt habe ich euch, wo ich euch wollte. Schon lange sehe ich auf euren Lippen das sichere Lächeln eines trefflichen Einwandes. Erhebet eure Stimmen, nur zu! Was wollt ihr mir entgegenschleudern?

Aha – allerdings, das, gerade das habe ich erwartet. Ihr sagt mir, ich sei wieder zurückgegangen, ein roter Krebs sei ich wieder geworden und die Utopie, die ich eben gezeichnet, die habe ich früher schon in prächtigen Farben gemalt und doch wieder weggewischt mit dem Schwamm des Todes. Dies Reich der Freiheit, der graziösen Leichtigkeit der Bewegung, dies Reich der Schönheit und des trunkenen Fluges – das sei das Reich der Philosophie; in jener Welt, die freilich möglich sei, müsse die grinsende Frage herrschen: wozu das Ganze und nochmals wozu? und keine Antwort gebe es, ewig keine. Und der Massentod der Menschheit sei es, der nun kommen müsse, kommen mit Naturnotwendigkeit.

Jawohl, das habe ich gekündet; ihr habt es gut behalten. Und nun, da ihr da seid, wo ich euch wollte, nochmals frage ich euch: warum lebet ihr? warum sterbt ihr nicht? Ihr glaubt nicht an das[239] Reich der Schönheit und der Freiheit aller Geborenen, ihr fühlt euch nicht eins mit dem Streben der Knechte diesem Ziele entgegen, wie wagt ihr zu leben? Was? Ihr habt auch eure Marguérite und auch noch euren Genuß? Ihr Sklavenhalter, dann sollen sie euch auspeitschen, die auch genießen möchten und es nicht können. Oder glaubt ihr nicht, es sei dem Sklaven auch ein Genuß, seinen Herrn und Vorenthalter zu prügeln?

Ich will euch sagen, was mir das Recht giebt, so zu euch zu reden und so von der Höhe auf euch herabzusehen. Ich bin eine glitzernde Welle im Strom und tummle mich froh dem Meere entgegen; ihr aber seid nur ein unwillig mitgerissenes Stück faulenden Holzes, das sich nach dem sandigen Ufer sehnt, um da in der Sonne zu trocknen und zu verdorren. Ich liebe nicht nur mich selbst und mein Spielzeug – »Weib« heißt die glänzendste eurer Vergnügungen – ich rausche mit im grünenden Wald, und meine Genossin ist kein zart mich umrankender Epheu, der langsam aber sicher mit seiner Umkosung die stärkste Eiche ins Mark hinein verdirbt, ich und sie, Baum neben Baum, recken uns stolz in[240] die Höhe und unsere Wipfel neigen sich bald zart, bald feierlich zu einander und flüstern und küssen und reden und träumen. Ich habe gelernt Mensch zu sein und die Menschheit wieder zu lieben; ich stehe mitten drin und mache mit – vorwärts geht es und immer vorwärts. Ich glaube ans Ziel, ich glaube an den Ernst und an die Schönheit, ich fühle mich eins mit den Knechten und fühle mich eins mit dem All! Ich lebe! Ich habe das Recht zu leben.

Das könne jeder sagen, schmunzelt ihr mir zu mit widerlicher Vertraulichkeit. Das sei eine Ausrede. Mir gehe es wie jenen Namenlosen, die auch den Armen an Leib und Geist das Himmelreich versprächen und selber mit dem Diesseits und dem irdischen Genuß sich vergnügten. Himmelreich oder Zukunft, das sei ein und dasselbe. Auch das habe ein gewisser Starkblom früher mit allen Glocken verkündet. Dem Genuß und der Freude entsagen gleich dem Elendesten müsse ich, wenn ich ehrlich sei, alles der Gesamtheit zu opfern sei meine Pflicht. Alles oder nichts – so heiße es hier.

Jawohl – viel Wahrheit steckt in eurem Hohne. Das ist es auch und das allein, was unser Lächeln[241] verbittert und uns einhüllt in das graue beklemmende Gewand der Melancholie. Unser Leben ist widerspruchsvoll, jawohl, ein untrennbares Gemisch aus Festklammern an süßer Gegenwart und Hinaussehnen nach herrlicher Zukunft. Seit das Leben nichts anderes mehr ist als Erdenwandel und Welt der Sinne, giebt es keine ruhige Konsequenz mehr in unserm Dasein. Das ist und bleibt das erste und das vorderste und das tiefste: ich bin ich und ich lebe und will mein Glück! Hineingeflochten in das wirre Gewebe und Gestrebe unruhiger, qualvoller, drängender, stoßender Zeit hauen wir um uns, um unsern Platz zu erringen, wir können nicht anders. Ich bin ich! Jetzt lebe ich und niemals in Ewigkeit wieder. Ich habe meine Stätte und ich will sie behalten.

Ich aber kann so nur leben, wenn ich mich leidenschaftlich schäme, daß ich so leben muß. Ich stehe nur auf diesem Boden, wenn ich gleichzeitig rastlos daran arbeite, ihn zu erschüttern und abzugraben. Ich kann nur genießen, indem ich glaube, daß die Traube bald allen winkt. Ich kann nur andre für mich arbeiten lassen, indem ich mitarbeite aus all meiner Kraft für die[242] kommende Zeit, wo es keine Herren und Knechte mehr giebt.

O wenn ihr diese Widersprüche und ihre Notwendigkeit nicht versteht, dann gehet weg von mir und weg aus dieser Zeit und weg aus diesem Leben. Leicht ist es, die tausendfarbige, vieltönende Welt der Erscheinung mit flüchtigem rohem Drucke in eine Formel zu pressen. Leicht ist es, die Welt, wie sie heute ist, für ewig auszuschreien. Und leicht war es, ich gestehe es ein, diese Welt der Vernichtung preiszugeben und den Tod zu predigen allem was lebt. Jetzt aber predige ich Leben, Leben für heut und alle Ewigkeit. Solange ich lebe, fühle ich mich eins mit allem was lebt. Solange ich da bin, sehe und denke ich als Mensch für die Menschen.

Klar will ich nicht sein, meine Freunde. Aber ich ahne vieles und ich sehe Ahnende sich um mich versammeln und mit mir ziehen auf meinem Wege. Ich bin nicht zurückgewandelt zu den Moralischen und werde es nie. Vieles hasse ich und verneine ich mit euch wie früher und immer; eingeschworen bin ich auf keine Formel und keine Partei; aber Mensch bin ich unter Menschen, solange ich lebe; wirken will[243] ich in Raum und Zeit für das Wachsen der Menschen und das Blühen der Erde; vieles verneine ich, aber ich bejahe mit frohem Jauchzen das Leben. Denn abgesagt habe ich dem ewigen Denken und damit dem Tod; ich träume und tummle mich, ich genieße meinen Leib und meine Seele, ich genieße meine Nächsten und genieße mein Ahnen des Entferntesten. Ich fühle meine Kraft und spüre das leidenschaftliche Hinausschleudern meiner Triebe und all meines Innern.

Alles Einzelne hat mir gedroht in grauer Nichtigkeit zu versinken: die Natur und das Treiben der Menschen, die Technik und die Produktion der Bedürfnisse, die Wissenschaft und die Kunst. Und jetzt ist mir alles wieder interessant. Meine Augen sind nicht mehr beschattet von dumpfer Betrübnis, ich öffne sie weit und beschaue mir ernsthaft die Welt. Mein Denken ergießt sich wieder über die Erde, ich träume hinein in unmeßbare und unaussprechliche Fernen, alles will ich wieder bewältigen und alles mit meiner Sprache beherrschen. Frei und unbekümmert nehme ich Stellung zu allem, was sich mir naht und ich lege mein Bekenntnis ab über alles, was mir bekannt wird.

[244]

Und das ist es, was ich von euch verlange, ihr Führer der Völker: Ihr sollt bekennen!

Und ein zweites ist es, was ich von euch verlange, und seltsam nimmt sie sich vielleicht aus in meinem Munde, diese Forderung: Ihr sollt nüchtern sein!

Damit meine ich euch vor allem, ihr Träumer und Dichter und Künstler und ihr Männer der Wissenschaften.

Fasset in euer Auge mit einem weiten Blick das Panorama der Kultur, das sich eröffnet mit den Namen: Voltaire, Kant, Goethe, Byron, Schopenhauer.

Und dann blickt mir auf das zweite Bild: Dampfmaschinen, Dampfschiffe und Eisenbahnen, Elektrizität und rationelle Landwirtschaft.

Welcher Umschwung in der geistigen Kultur entspricht dieser riesenhaften Veränderung im Verkehr und in der Herstellung der Bedürfnisse des Lebens und des Genusses? Und welcher sollte ihr entsprechen? Und welcher wird ihr entsprechen?

Sehet das zweite Bild, wie ich es euch male:

Geistesrohheit des emporgekommenen Philistertums,[245] geistlose, ekelhafte Genußsucht, barbarische Kampfbereitschaft der Völker gegen einander, ungeheure neue Heere geistig und leiblich aufs entsetzlichste vernachlässigter moderner Sklaven, gewaltiger Aufschwung der Feigheit und Heuchelei und des Aberglaubens, dem Wahnsinn nahe Vereinsamung fortgeschrittener Künstler und Denker. Ächtung der freien Moral, des freien Gedankens, des freien Wortes – des freien Lebens. Ekelhaftes, sinnezerstörendes Gesamtbild aus der Vogelperspektive!

Ihr sollt bekennen, ihr Dichter und Führenden, die Hand sollt ihr in die Lüfte recken zum Fluch über dies gemeine Geschlecht, die Geißel sollt ihr schwingen über die Rücken dieser Böotier!

Und nüchtern sollt ihr sein, ihr Träumer und Denker, nicht fürder auf romantischem Roß zu blauen Wolken emporsprengen, die Welt sollt ihr schauen so wie sie ist, gewahren sollt ihr die Wirklichkeit und in ihr erblicken, was möglich ist und was werden muß.

Und euren Willen sollt ihr mir wecken und satteln, anspornen sollt ihr ihn und kühn hineinreiten in das Land der Zukunft. Begraben sei immerhin der Pegasus mit seinen angeschnallten Gänseflügeln, wenn[246] nur das Dampfroß für euch lebendig wird und der Dampfpflug Europas Boden schüttert für fruchtbaren Samen. Glück sollt ihr säen für kommende Menschen, und schaffende Hoffnung auf endlich und endlich reifende goldene Saat ist die Freude des Säemanns.

Ich glaube nicht an ewige Wahrheiten und ich sehe vorerst noch nichts davon, daß die Menschenvernunft mächtiger ist als die im Zufall rollenden Welten. Sonne, Mond und Sterne gehn heute wie immer und morgen wie heute ihren lachenden Gang, ohne nach uns zu fragen, und winzige Tierchen und Pflänzchen bauen ihre Geschlechter auf unzählige Menschenleichen. Und stets noch beginnt die Welt mit jedem Kinde von neuem, und über dem Wechsel der Generationen wie dem Lauf der Gestirne waltet der Zufall. Noch lange wird alles Bedenken über den Haufen gerannt von ungezügelter treibender Leidenschaft, und die unsinnige Summe vieler kleiner Selbständigkeiten nennt sich Geschichte. Noch unendliche Zeit wird der schwerste Kampf aller Kämpfe währen: der Streit zwischen Geistesfreude und Geistesweh, und oft noch möchten wir vernünftig sein und können es nicht, möchten wir gedankenlos fließen und müssen bedächtig schreiten.

[247]

Aber wer will leugnen, daß sie noch nicht tot ist, die Göttin der Vernunft, sondern erst beginnt sich zu dehnen und auf sich selbst zu besinnen? Daß des achtzehnten Jahrhunderts Ausgang immer wieder erwacht und alle Jahrhunderte zwingt in seinen Bahnen zu wandeln? Daß der Zufall auf allen Gebieten, wo er sich nur betreten läßt, zäh bekämpft wird auf Schritt und Tritt? Daß vor allem die Organisation der Arbeit schon an der Schwelle der Erfüllung steht, die nur von freien Lebendigen überschritten werden kann? Daß eine Organisation der Geselligkeit auf eisernen Schienen uns näher und näher gleitet, die gewaltige Menschenkomplexe zu einer Familie macht? Daß Wissenschaft und Kunst mit einer Erziehung schwanger gehn, die Untergang schwemmt über jahrtausendalten Aberglauben? Es giebt Revolutionen, die man zu machen aus Versehen vergessen hat; wer glaubt nicht, daß die nahende Revolution eine gründliche sein kann, daß ihr Strom jahrtausendalten Unrat mit sich fortspült? O ihr, die ihr an die allmähliche Entwicklung glaubt, vieles und Gewaltiges hat sich schon lange langsam angebahnt, und die Stufen, die ihr wähnt, erst noch betreten zu müssen, sind längst schon hinter[248] uns, ohne daß ihr es gemerkt. Was thut es, daß ihr dann auf einmal in der Versenkung verschwunden seid; wenn wir nur oben stehn!

Wem viele Dinge selbstverständlich sind, der folge mir nach. Das Wort, das ich einst gesprochen, ich wiederhole es heute. Den Sozialismus aber habe ich immer für möglich gehalten und seine Erfüllung für selbstverständlich. Aber ich habe ihn unsagbar gefürchtet, weil mir das Leben ein Greuel war und weil ich sah, daß mit seiner Ankunft das Innerste des Lebens nackt vor uns daliegen müsse. Und ich habe auch jetzt nichts gegen den Tod; auch jetzt noch zu Zeiten naht mir die Stimmung, wo meine Seele helle Lieder jauchzt ihm zum Lob und Preis. Tröstlich und ein erquickendes Labsal ist die Erinnerung, daß ich frei sterben kann, wann immer es mir so gefällt. Verdorren möge mir Hirn und Zunge, wenn den Tod ich jemals verläumde!

Aber verheimlichen wir es uns doch nicht länger; unsre lächelnden Augen verraten es ja doch: wir haben alle das Leben unsagbar gern! Und wir machen uns alle ein Bild von der Welt nach unserm Willen, und wir wollen alle wirken, um die Erde umzugestalten[249] nach unserm Herzen. Wenn wir denn alle eine heimliche Geliebte haben, laßt uns doch kämpfen, um sie zu erringen! Wenn wir doch alle den Todesgedanken in all seiner Hoheit erfaßt haben, lassen wir sie doch fallen, die kleinliche faltenreiche Gewandung ewiger Rücksichten und unsterblichen Philistertums. Das Wort ist so alt und will doch immer wieder gesprochen sein: Da wir doch alle nur einmal leben und nach unserm Tod für menschliche Welt und menschlichen Geist nicht mehr vorhanden sind, sei doch ein jeder unter uns so groß und so frei, so wohlgemut und so leichtsinnig, so ernst und so kühn, als ihm in seiner Seele zuinnerst beschieden ist!

Kennt ihr die Geschichte von der heimlichen Geliebten des Jünglings? Er war zaghaft und wagte nicht sich ihr zu nähern. Und er machte lange Jahre Reisen in fremden Ländern, um sie zu vergessen. Das aber war ihm nicht beschieden, und im stillen war seine Sehnsucht übermächtig gewachsen und mit eins erhob sich wieder in ihm ihr Bild und wich nicht mehr von ihm und drückte in seinem Herzen, daß es laut aufschrie. Da kehrte er zurück nach seiner Heimat. Wie er sie aber wieder vor sich sah in ihrer leuchtenden[250] Schönheit, mit der hohen Anmut ihrer Gestalt und ihrer Bewegungen, die viel wunderbarer war in ihrer farbigen Wirklichkeit, als ihm die blasse Erinnerung gezeichnet hatte, da preßte er voll scheuer Angst vor der spröden Schönen seine Seele zusammen und machte sein Herz klein. Aber als die Sehnsucht seines Blutes nicht mehr zu bezwingen war, da schlich er sich in einer mondlosen dunkelblauen Nacht in ihr Schlafgemach. Lange betrachtete er da die feinen Züge der Schlafenden und blickte halb betäubt auf das wogende Schwellen der Brüste. Da konnte der keusche Jüngling sich nicht mehr bezwingen, und leise, leise, ganz langsam, daß das Betttuch nicht knisterte und sie nicht erwachte, legte er sich neben das schlafende Mädchen und er preßte die gekreuzten Hände wider seine Brust und das Blut schlug ihm donnernd an seine Pulse und Blitze sprühten vor seinen Augen. Und sein Atem ward immer kürzer und stoßender, und seine Haut brannte wie Feuer und wollte es nicht leiden, daß ein Raum war zwischen ihm und dem kühlen rosigen Leib des Mädchens. Da konnte er nicht mehr, er preßte seine Lippen fest zusammen und hielt seinen Atem an. Und nachdem er einige Zeit[251] nicht mehr geatmet hatte, öffneten sich seine Lippen langsam und die Hände fielen ihm schlaff von der Brust und sein Blut hämmerte nicht mehr und sein Fleisch war nicht mehr heiß. Und als die heimliche Freiheit morgens erwachte, da lag der zage Jüngling, der sie hätte erringen können, tot und kalt neben ihr auf ihrem Lager.

Auf denn, meine Gefährten, es ist nicht wahr, was man euch in fremden Ländern versichert hat, die Freiheit sei tot und sei nur noch ein verblichenes Wort, es ist nicht wahr, sie lebt immer wieder und verkörpert sich jedem in einer besondern Schönheit. Laßt uns denn endlich heimkehren in ihre Lande und um sie werben und todesmutig, daß heißt lebensfreudig für sie kämpfen!

Seht nun das dritte Bild, daß ich euch male!

Ein Festtag. Verlassen steht heute die riesige Produktionscentrale mit ihren ungeheuren Anlagen, in der die Knaben und Mädchen, die Männer und Frauen der weiten Gegend sonst ihre Vormittage verbringen. Früh morgens schon verließen die Menschen heute ihre Villenkolonieen, um in kleinen Gruppen auf ihren Dampfwagen und elektrischen Kutschen unter Gesang[252] und Musik nach den weiten Versammlungsstätten zu fahren. Dort zerstreuen sie sich in den Kunsthäusern und Wissenschaftshallen, den Spiel- und Tanzplätzen und wieder andere erquicken sich an Wein und Speisen. Später, gegen Mittag, füllt sich dann der große Versammlungsplatz, und hier werden öffentliche Dinge besprochen und erledigt, neue Erfindungen und wissenschaftliche Aufstellungen werden mitgeteilt und oft bekämpfen sich die Vertreter gegensätzlicher Meinungen scharf und entschieden. Inzwischen haben die Knaben und Mädchen sich bei den Spielen getummelt und herüber hinüber in keckem Rufen und Haschen neue Bekanntschaften geschlossen. Nachmittags mag man sich wohl wieder in kleinere Gruppen trennen, man fährt und geht und schaut spazieren, man rudert auf dem Flusse oder man fliegt im Ballon oder sonstwie in die blauen Lüfte hinauf. Wenn die Sonne sich zum Untergang neigt, haben sich neue und alte Liebespaare längst gefunden und hie und da in Korn und Hecken liegen sie wohl in traulichem Gespräch oder in heißer Umarmung. Abends wenn es kühl wird, bedecken die Menschen wohl ihre Nacktheit mit den Tüchern. Die Dunkelheit führt sie wieder enger[253] zusammen auf dem breiten Rasen, dem hie und da manchmal Leuchtkugeln und Raketen entfliegen. Im übrigen denkt man heute und meistens nicht daran, den Tag künstlich zu verlängern, man ist froh, daß das Dunkel seine blauen Fittige um die Erde schwingt. Feierlicher und erhobener werden nun die Gespräche und die Gesänge, und nun erheben sich auch nicht mehr gesehen die Dichter in der Menge und tragen ihre neuen Werke, die ihnen in den Mußestunden gediehen, zum ersten Mal vor und alte vielbegehrte wiederholen sie manchmal mit neuen reizvollen Wendungen geziert. Tief in die Nacht hinein bleibt man so beieinander, bis man, wenn es warm genug ist, einschläft so wie man da ist, oder auch aufbricht, um die Behausungen zu erreichen.

So aber wird es ganz gewiß nicht kommen, sonst hätte es keinen Sinn danach zu streben!

Es kommt immer anders, und vielleicht sind auch die Gedanken, die mir innen in meinem Kopfe wohnen und wachsen, ganz andere als die sich mir hier im freien gestaltet haben. Ihr glaubt mir doch, daß ich noch die Kraft habe, manchmal unglücklich zu sein? Weh mir, wenn ich das nicht mehr könnte!

[254]

Ein sonderbarer Unheiliger hat mich jüngst besucht, meine Freunde, und als ich ihn deutlich besah, war es ein Teil meiner Selbst, das sich da vor mir aufgepflanzt hatte. Nur ein Stück eines Menschen war er und doch ein ganzer Kerl. Er sagte mir, der moralische Sinn in ihm sei längst und völlig erstorben, er habe nur noch ein Prinzip: wenn er von einer menschlichen Einrichtung nicht wisse, warum sie sei, bemühe er sich das Gegenteil zu thun, ganz zwecklos, nur aus Prinzip, zu seiner seltsamen Freude. Er wisse nicht, warum der Mensch nicht lügen und töten solle; Rücksicht auf Menschen kenne er nicht und Gott sei ihm nicht vorgestellt; also wolle er lügen und töten. Wenn man das Wort überhaupt anwenden wolle, das sei dann seine Moral: die äußerste Konsequenz seines Denkens zu ziehen. Es sei freilich schwer, vielleicht vollbringe er es auch nicht, aber dann wandelte ihn eine Art Scham an, obwohl auch das altmodisch sei.

Meine Freunde, ich habe euch in dieses harte Eisland geführt, um euch eine Grenze zu zeigen. Hier ist die Grenze des Begriffs und des Worts und der Logik. Wer bis dahin gekommen ist mit seinem[255] Denken, der muß sich hier entscheiden: will er ein Kalter sein oder ein Warmer? Da ist das Land der eiskalten Sprache und Logik, und keine Widerlegung giebt es auf diesem Boden. Wer ihn betritt, der muß in den Spuren dieses Mannes wandeln, kein Ausweg zeigt sich ihm mehr. Wer aber nicht in diesen Wahnsinn frieren will, der kehre um und wende seinem Denken den Rücken, solange es Zeit ist.

Ich bin kein Moralischer, aber ich bitte euch doch: Seid nicht boshaft! Ihr seid auf einem falschen Wege zu weit vorgegangen; wollt ihr den rechten Punkt finden, so müßt ihr wieder ein wenig zurück. Ihr seid zu früh daran mit eurer nackten Vernunft. Es ist noch nicht Zeit, die Seele erfrieren zu lassen. Thut nichts, dessen Ende ihr nicht wenigstens ahnen könnt. Hütet euch vor der geistigen Bosheit! Seid lieber manchmal noch ein Tier!

Das ist es was ich von euch verlange, ihr Träumer und Denker: ihr sollt warm sein!

Und das heißt mir soviel als: Ihr sollt keine einzigen sein, ihr sollt euch gesellen, ihr sollt lebendig leben und den Tod dem Tod überlassen.

Ich will euch etwas sagen, meine Freunde, denn[256] ich halte es nicht länger aus. Das Kichern und Lachen und Murren rauscht mir schon lange in den Ohren. Hinter meinem Rücken stehen zwei Arbeiter, und die lachen mich aus. Und eben sagte der eine zum andern:

»Der dumme Kerl! Was schwatzt er nur für verdrehtes Zeug? Das eine wissen wir längst, beinahe schon vor unserer Geburt, und das andere ist uns ganz und gar unverständlich, und wenn er es uns tausend Mal vorkaut. Wir haben keinen Magen für so gewürzte Speisen.«

Der Mann hat Recht, ganz und gar. Aber, ihr Arbeiter unter meinen Genossen, zu euch rede ich heute nicht. Freilich setze ich auf euch vor allen andern meine Hoffnung; wäret ihr nicht da, es wäre kein Übergang möglich zu dem was wir wollen. Aber davon spreche ich heute nicht, ich habe noch viel auf dem Herzen und hoffe es alles mit der Zeit sagen zu können. Und »Übergang«, so mag die nächste Schrift heißen, die ich euch sende, und darin rede ich dann von euch, vom Proletariat!

Heute aber wende ich mich an ganz andere Menschen; heute rede ich zu der zweifelhaftesten und bedenklichsten[257] Menschensorte, zu den Träumern und Denkern aus der bürgerlichen Welt. Es ist nicht der Vortrab des Bürgertums, es sind nur Vereinzelte, die sich seitwärts schlugen, dahin und dorthin, und die alle Gemeinsames haben. Ich kenne sie gleich, wenn ich sie treffe, an dem bittern Zug um die Lippen und dem heimlichen Lächeln ganz hinten in ihren Augen. Diese Jugend also rufe ich auf; sie nennen sich Abfall und Jahrhunderts-Ende, ich aber sehe noch viel Rettenswertes an ihnen, ich möchte sie sammeln im Felde der Zukunft; im Lager des Proletariats; die höchste, fast schon überdrüssige Kultur möchte ich vermählen der jungen raschen Kraft des vorwärts stürmenden Aufschwungs.

Ich bin ein alter Mann, aber – das sage ich heute mit frohem Stolz – ich habe erreicht, wonach ich mich so heiß gesehnt, ich bin wieder jung geworden, und ich empfinde mit der Jugend, nein, ich bin sogar ihr Vorschmack und Vorempfinder. Zugleich bin ich bei den jungen Zigeunern des Bürgertums, die ich aufmuntere, meine Wege zu betreten, und zugleich bin ich beim jungen Proletariat, dem ich die Freiheit bringen will, jetzt nicht die ökonomische[258] Freiheit, die es sich selbst erringen wird, nein, die Freiheit des Einzelnen, der kühn und unbesorgt allem entgegenblickt. Ich schwanke nicht von einem zum andern, in mir sind die Gegensätze vereint, und widerspruchsvoll ist nur das Wort, nicht das Leben. Mein Leben ist jung und reich, folge mir nach, wer kann!

Druck von Gebr. Adolph & Co., Dresden-Löbtau.

Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ansonsten wurde die teilweise inkonsistente Originalschreibweise beibehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Der Schmutztitel wurde entfernt.

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